26

Eine List anzuwenden, hatte nie auch nur die Spur einer Chance gehabt, erkannte Sperber, als er und seine Gefährten ihre primitive Maskerade beendeten, um ihre Rüstung wieder anzulegen. Einfache Bauern und drittklassige Soldaten auf freiem Feld zu täuschen, war eines, aber ohne aufgehalten zu werden durch eine nahezu verlassene Stadt zu reiten, in der Elitetruppen patrouillierten, war unmöglich. Zwangsläufig würden sie zu den Waffen greifen müssen, und das bedeutete in dieser Situation, dass sie die komplette Rüstung anlegen müssten. Kettenrüstung genügt vielleicht für überraschende gesellschaftliche Zusammenkünfte auf dem Land, dachte Sperber ironisch, doch für das Leben in der Stadt war mehr Förmlichkeit erforderlich.

»Also, wie sieht der Plan aus?«, fragte Kalten, als die Ritter einander in die Plattenpanzer halfen.

»Ich habe noch keinen richtigen«, gab Sperber zu. »Um ganz ehrlich zu sein, ich habe nicht erwartet, dass wir überhaupt so weit kommen. Ich hatte gehofft, im besten Fall so nahe an Othas Stadt heranzukommen, dass ich sie durch die Vernichtung Bhellioms dem Erdboden gleichmachen könnte. Wir werden uns nun mit Sephrenia beraten müssen, sobald wir alle in unseren Rüstungen stecken.«

Seit dem frühen Nachmittag zogen hohe, dünne Wolken aus dem Osten über den Himmel, und nun, da die Sonne langsam unterging, verdichteten sie sich. Die trockene Kälte ließ ein wenig nach, und es wurde eigenartig schwül. Vom fernen östlichen Horizont war vereinzeltes Donnergrollen zu hören, als die Sonne inmitten roter Wolken verschwand und die Ritter sich um Sephrenia scharten.

»Unser glorreicher Anführer hat offenbar ein paar strategische Kleinigkeiten außer Acht gelassen«, begann Kalten zum Auftakt der Besprechung.

»Ärgere mich nicht«, murmelte Sperber ihm zu.

»Tu ich nicht. Ich habe nicht einmal das Wort ›Idiot‹ benutzt. Die Frage, die uns nun alle brennend beschäftigt, lautet: Was tun wir jetzt?«

»Ohne lange zu überlegen, würde ich sagen, dass wir auf eine Belagerung verzichten sollten«, bemerkte Ulath.

»Sturmangriffe machen immer Spaß«, warf Tynian ein.

»Gestattet Ihr?«, sagte Sperber ätzend. »Ich sehe es so, Sephrenia. Wir haben hier eine anscheinend verlassene Stadt vor uns, die aber zweifellos von Othas Leibgarde patrouilliert wird. Wir könnten vielleicht eine Weile Versteck mit ihnen spielen, doch sehr erfolgversprechend sieht es nicht aus. Ich wollte, ich wüsste ein bisschen mehr über die Stadt.«

»Und wie gut Othas Elitetruppen sind«, flocht Tynian ein.

»Sie sind brauchbare Soldaten«, erklärte Bevier.

»Auch ebenbürtige Gegner für Ordensritter?«, wollte Tynian wissen.

»Nein, aber wer ist das schon«, antwortete Bevier ohne erkennbare Unbescheidenheit. »Sie sind vielleicht mit den Soldaten aus König Warguns Armee vergleichbar.«

»Ihr seid schon einmal hier gewesen, Sephrenia«, sagte Sperber. »Wo liegen der Palast und der Tempel genau?«

»Sie sind eigentlich ein Palast«, antwortete sie. »Er befindet sich in der Mitte der Stadt.«

»Dann spielt es keine Rolle, durch welches Tor wir kommen, oder?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ist es nicht merkwürdig, dass sich ein Palast und ein Tempel unter dem gleichen Dach befinden?«

»Zemocher sind merkwürdig«, entgegnete sie. »Nun, eine gewisse Trennung besteht, aber man muss durch den Palast, um in den Tempel zu gelangen. Der Tempel hat keine Tore ins Freie.«

»Dann brauchen wir nur zum Palast zu reiten und an die Tür zu klopfen«, sagte Kalten trocken.

»Nein«, widersprach Kurik. »Wir gehen zu Fuß zum Palast, und erst, wenn wir dort sind, entscheiden wir, ob wir anklopfen oder nicht.«

»Zu Fuß?«, wiederholte Kalten entsetzt.

»Pferde machen auf gepflasterten Straßen zu viel Lärm, und sie lassen sich schlecht verstecken, wenn man Deckung sucht.«

»In voller Rüstung zu Fuß zu gehen, ist kein Vergnügen, Kurik.«

»Du wolltest doch Ritter werden. Soweit ich mich erinnere, habt ihr, du und Sperber, euch sogar freiwillig gemeldet.«

»Könnt Ihr nicht diesen Unsichtbarkeitszauber pfeifen, von dem Sperber uns erzählt hat?«, fragte Kalten Sephrenia. »Der, den Flöte auf ihrer Syrinx geblasen hat?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Warum nicht?«

Sie summte eine kurze Melodie. »Erkennt Ihr das?«, wollte sie wissen.

Er runzelte die Stirn. »Nein.«

»Das war die traditionelle pandionische Hymne. Ich bin sicher, dass Ihr damit vertraut seid. Beantwortet das Eure Frage?«

»Oh. Musik gehört also nicht zu Euren starken Seiten, wenn ich es recht verstehe.«

Talen blickte sie neugierig an. »Was würde passieren, wenn Ihr es versucht und die falschen Töne trefft?«

Sie schauderte. »Frag lieber nicht.«

»Dann schleichen wir eben«, sagte Kalten. »Also denn, gehen wir es an.«

»Sobald es dunkel ist«, vertröstete ihn Sperber.

Über die staubige Ebene zur grimmigen Mauer von Zemoch war es gut eine Meile, und die Ritter kamen schweißüberströmt am Westtor an.

»Ist das schwül!«, stöhnte Kalten und wischte sich das schweißnasse Gesicht ab. »Ist denn in Zemoch gar nichts normal? Zu dieser Jahreszeit dürfte es überhaupt nicht schwül sein.«

»Ohne Zweifel zieht ein ungewöhnliches Wetter auf«, stimmte Kurik zu. Das ferne Donnergrollen und das Wetterleuchten, das die Wolkenbänke im Osten aufleuchten ließ, bestätigte ihre Beobachtung.

»Vielleicht könnten wir Otha um Zuflucht vor dem Gewitter ersuchen?«, meinte Tynian. »Wie sieht es mit der Gastfreundschaft bei den Zemochern aus?«

»Nicht zu empfehlen«, antwortete Sephrenia.

»In der Stadt müssen wir so leise wie möglich sein«, mahnte Sperber.

Sephrenia hob den Kopf und spähte gen Osten. Ihr blasses Gesicht war in der Dunkelheit kaum zu sehen. »Warten wir noch ein wenig«, riet sie. »Das Unwetter kommt hierher. Donner wird verräterisches Knarren und Rasseln übertönen.«

Sie lehnten sich an die Basaltmauer der Stadt, als das Krachen und Grollen des Donners unaufhaltsam näher kam.

»Das wird jedes Geräusch übertönen, das wir machen«, meinte Sperber nach etwa zehn Minuten. »Gehen wir in die Stadt, bevor es zu regnen anfängt.«

Das Tor war aus einfach behauenen Stämmen, die mit Eisen zusammengehalten wurden. Es stand einen Spalt offen. Sperber und seine Gefährten zogen ihre Waffen und schlichen, einer nach dem anderen, hinein.

Ein seltsamer Geruch war in der Stadt, wie er Sperber in noch keiner anderen Stadt untergekommen war. Ein Geruch, der weder angenehm, noch unangenehm, sondern nur eigentümlich fremdartig war. Natürlich brannten nirgendwo Fackeln, die den Weg hätten weisen können, und so mussten sie das Licht der vereinzelten Blitze nutzen, welche die aus dem Osten herbeitreibenden Wolken erhellten. Die Straßen, die sie während dieser kurzen Augenblicke sehen konnten, waren eng, ihre Pflastersteine durch Jahrhunderte schlurfender Füße glatt getreten. Die Häuser waren ohne Ausnahme hoch und schmal, ihre Fenster klein und die meisten vergittert. Die ewigen Staubstürme, die durch die Stadt fegten, hatten die Steine der Hauswände geglättet. Der gleiche körnige Staub hatte sich in Ecken und auf den Schwellen der Haustüren gesammelt und erweckte den Eindruck, als wäre die Stadt, die sicher noch nicht länger als ein paar Monate verlassen war, schon seit Äonen aufgegeben.

Talen schlich von hinten an Sperber heran und klopfte auf seine Rüstung.

»Tu das nicht, Talen!«

»Ihr habt es bemerkt, oder? Ich habe eine Idee. Seid Ihr in der Stimmung für eine Auseinandersetzung?«

»Eigentlich nicht. Worüber willst du dich denn mit mir auseinandersetzen?«

»Ich habe gewisse Talente, die in dieser Gruppe sonst keiner hat, wisst Ihr.«

»Ich bezweifle, dass du hier viele Taschen und Beutel zum Erleichtern finden wirst, Talen. Es ist nicht viel los auf den Straßen.«

»Ha«, sagte Talen ausdruckslos. »Ha-ha-ha. Nachdem Ihr das losgeworden seid, hört Ihr mir nun zu?«

»Tut mir leid. Also sprich!«

»Keiner von Euch könnte sich durch eine Totenstadt stehlen, ohne mindestens die Hälfte der Bewohner aufzuwecken, richtig?«

»Ganz so weit würde ich nicht gehen.«

»Ich schon. Ich gehe sogar weiter – nicht zu weit, gerade weit genug. Und ich werde unbemerkt zurückkommen und Euch vor jedem warnen können, der sich nähert – oder uns auflauert.«

Diesmal wartete Sperber nicht. Er langte nach dem Jungen, doch Talen wich seiner Hand mühelos aus. »Tut das nicht, Sperber. Ihr macht Euch bloß lächerlich!« Er rannte ein paar Schritte, dann hielt er kurz an, schob die Hand in einen Stiefelschaft und zog ein Messer mit nadelspitzer Klinge hervor. Dann verschwand er in der dunklen Gasse voraus.

Sperber fluchte.

»Was ist los?«, fragte Kurik unweit hinter ihm.

»Talen ist weggelaufen.«

»Er ist was? «

»Er will kundschaften. Ich hab noch versucht, ihn aufzuhalten, aber er war schneller.«

Irgendwo in dem Straßenlabyrinth vor ihnen erklang ein tiefes, seltsam seelenloses Heulen.

»Was ist das?«, fragte Bevier und umklammerte den langen Schaft seiner Lochaberaxt.

»Vielleicht der Wind«, antwortete Tynian nicht sehr überzeugend.

»Es weht überhaupt kein Wind!«

»Ich weiß. Aber ich möchte lieber glauben, dass es der Wind ist. Die anderen Erklärungen gefallen mir alle nicht.«

Talen kehrte auf fast lautlosen Sohlen zurück. »Eine Patrouille kommt«, meldete er und blieb außer Reichweite. »Könnt Ihr Euch vorstellen, dass sie Fackeln tragen? Sie wollen überhaupt niemand finden, sondern sichergehen, dass sie es nicht tun.«

»Wie viele sind es?«, fragte Ulath.

»Etwa ein Dutzend.«

»Die paar sind kein großes Problem.«

»Wie wär’s, wenn Ihr einfach dieser Seitengasse zur nächsten Straße folgt. Dann sind sie überhaupt kein Problem, weil Ihr sie gar nicht seht.« Der Junge schoss in eine Gasse und verschwand erneut.

»Ich glaube, wenn wir das nächste Mal einen Führer wählen, stimme ich für ihn«, murmelte Ulath.

Sie gingen durch die schmalen, verschlungenen Straßen. Da Talen kundschaftete, konnten sie den vereinzelten zemochischen Patrouillen mühelos aus dem Weg gehen. Als sie sich der Stadtmitte näherten, gelangten sie zu einem Viertel, in dem die Häuser vornehmer und die Straßen breiter waren. Talen kehrte das nächste Mal mit abfälliger Miene zurück, wie ein zuckender Blitz verriet. »Ein Stück voraus ist wieder eine Streife«, berichtete er, »das Problem ist nur, dass sie nicht patrouilliert. Es sieht ganz so aus, als wären die Soldaten in eine Weinhandlung eingebrochen. Jedenfalls sitzen sie mitten auf der Straße und saufen.«

Ulath zuckte mit den Schultern. »Dann machen wir eben durch die Nebenstraßen einen Bogen um sie.«

»Geht leider nicht«, entgegnete Talen. »Diese Straße hat keine Seitengassen. Ich habe keine Möglichkeit gefunden, sie zu umgehen. Soweit ich das feststellen konnte, ist diese Straße die einzige in diesem Stadtteil, die zum Palast führt. Die Stadt ist überhaupt seltsam angelegt. Offenbar führt keine einzige Straße dorthin, wohin sie führen soll.«

»Und mit wie vielen Trinkern haben wir es zu tun?«, fragte Bevier.

»Fünf oder sechs.«

»Haben sie Fackeln?«

Talen nickte. »Sie sind unmittelbar hinter der nächsten Biegung.«

»Wenn ihnen die Fackeln in die Augen leuchten, werden sie in der Dunkelheit nicht viel sehen.« Bevier spannte die Muskeln und schwang andeutungsweise die Axt.

»Was meinst du?«, wandte Kalten sich an Sperber.

»Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass sie uns ohne Nachdruck den Weg freimachen.«

Es war mehr ein Hinschlachten, denn ein Kampf. Die Zecherei war so weit fortgeschritten, dass die Soldaten der Streife sträflich unachtsam waren. Die Ordensritter schritten einfach auf sie zu und hieben sie nieder. Nur einer schrie kurz auf, doch sein Schrei verlor sich in einem gewaltigen Donnerknall.

Wortlos zerrten die Ritter die Leichen zu einem nahe gelegenen Eingang und verbargen sie dort. Dann scharten sie sich schützend um Sephrenia und folgten der breiten, immer wieder von Blitzen erhellten Straße auf das Meer rauchiger Fackeln zu, das Othas Palast zu umgeben schien.

Wieder vernahmen sie dieses Heulen, das so gar nicht menschlich klang. Talen kehrte zurück. Diesmal machte er keine Anstalten, außer Griffweite zu bleiben. »Der Palast ist gleich da vorn«, meldete er. Er sprach trotz des jetzt fast unaufhörlichen Donners leise. »Posten halten Wache davor. Sie tragen merkwürdige, mit Stahlspitzen gespickte Rüstungen. Sie sehen wie Stachelschweine aus.«

»Wie viele?«, fragte Kalten.

»Mehr als ich Zeit zum Zählen hatte. Hört Ihr dieses seltsame Heulen?«

»Ich habe mich bemüht, es nicht zu hören.«

»Gewöhnt Euch lieber daran. Es kommt von den Wachen.«

Othas Palast war größer als die Basilika in Chyrellos, aber von keiner baulichen Schönheit. Otha hatte sein Leben als Ziegenhirt begonnen, und das Leitmotiv seines Geschmacks ließ sich am ehesten mit dem Wort »groß« ausdrücken. Soweit es ihn betraf, war größer gleichbedeutend mit besser. Sein Palast war aus rostig schwarzem Bruchbasalt erbaut. Dank seiner glatten Seiten haben Maurer keine Mühe mit diesem Gestein, aber erfreulich für das Auge ist es nicht. Außer für gewaltige Bauten eignete es sich für kaum etwas.

Der Palast ragte wie ein Berg aus der Stadtmitte. Er hatte Türme. Paläste haben immer Türme, doch den groben schwarzen Spitztürmen, die über dem Hauptgebäude nach dem Himmel krallten, mangelte es an Anmut und den meisten offensichtlich auch an Zweck. Viele waren vor Jahrhunderten begonnen, doch nie zu Ende gebaut worden. Sie strebten halb fertig in die Höhe, umgeben von den zerfallenden Überresten primitiver Gerüste. Von dem Palast ging weniger eine Aura des Bösen aus, eher eine des Wahnsinns, einer verzweifelten, aber sinnlosen Anstrengung.

Jenseits des Palasts konnte Sperber die gewaltige Kuppel des Azashtempels sehen, eine vollkommene, rostig schwarze Halbkugel aus riesigen, streng symmetrischen, sechseckigen Basaltblöcken, die ihm das Aussehen eines ungeheuren Insektenbaus verliehen oder einer gewaltigen, verkrusteten Wunde. Die Umgebung von Palast und anschließendem Tempel war eine Art gepflasterter toter Zone, in der es weder Häuser, Bäume noch sonst irgendetwas gab. Sie erstreckte sich, von der Mauer ausgehend, vollkommen eben etwa zweihundert Meter weit. In dieser dunklen Nacht war sie von Tausenden Fackeln erhellt, die aufs Geratewohl in die Ritzen zwischen die Steinplatten gesteckt waren. Das Ganze sah wie ein kniehohes, sturmbewegtes Flammenfeld aus.

Die breite Prunkstraße, der die Ritter folgten, schien direkt über den feurigen Platz zum Hauptportal von Othas Palast zu führen, wo sie durch den breitesten und höchsten Torbogen lief, den Sperber je gesehen hatte. Die Tore standen gähnend weit offen.

Die Wachen waren in dem Streifen zwischen der Mauer und dem breiten Flammenfeld postiert. Ihre Rüstung war von einer Art, wie sie Sperber bisher nie untergekommen war. Die Helme waren in der Form von Schädeln geschmiedet, aus denen ein stählernes Geweih ragte. Die Gelenke – Schultern und Ellbogen, Hüften und Knie – waren mit Stahldornen und spitz abstehendem Zierwerk versehen. Aus den Unterarmen ragten Haken in dichten Reihen. Die Waffen dieser Posten dienten offenbar weniger zum Töten, als um Schmerzen zuzufügen. Die Klingen waren gezahnt und liefen in rasiermesserscharfen Widerhaken aus. Ihre Schilde waren groß und abschreckend bemalt.

Ritter Tynian war Deiraner, und Deiraner waren seit undenklicher Zeit der Welt führende Rüstungsschmiede. »Das ist die idiotischste Zurschaustellung von kindischem Unsinn, die ich in meinem Leben gesehen habe!«, wandte er sich während einer kurzen Unterbrechung im Donnerkrachen abfällig an die anderen.

»So?«, sagte Kalten.

»Ihre Rüstung ist so gut wie nutzlos. Eine gute Rüstung soll ihren Träger schützen, ihm aber auch genügend Bewegungsfreiheit lassen. Es hat wenig Sinn, als Schildkröte herumzukriechen.«

»Aber sie sieht einschüchternd aus.«

»Das ist aber auch schon alles – sie wird ihres Aussehens wegen getragen. All diese Dornen und Haken leisten nichts, schlimmer noch, sie leiten die Waffe des Gegners zu den Schwachstellen. Was dachten die Waffenschmiede sich nur dabei?«

»Es ist ein Vermächtnis des letzten Krieges«, erklärte Sephrenia. »Die Zemocher waren überwältigt von der Erscheinung der Ordensritter. Den eigentlichen Zweck der Rüstung verstanden sie nicht – sie bemerkten nur, dass sie Furcht einflößte. Deshalb haben ihre Waffenschmiede mehr Wert auf das Aussehen als auf die Nützlichkeit gelegt. Zemocher tragen Rüstung nicht, um sich zu schützen, sondern um ihre Gegner einzuschüchtern.«

»Mir macht sie kein bisschen Angst, kleine Mutter.« Tynian lachte. »Das wird ein Kinderspiel.«

Auf irgendein Signal hin, das nur Othas Krieger in ihrer grässlichen Rüstung wahrnehmen konnten, setzten sie wieder zu diesem geistlosen Heulen an.

»Soll das eine Art Schlachtruf sein?«, fragte Berit nervös.

»Besseres bringen sie nicht zuwege«, antwortete Sephrenia. »Die zemochische Kultur stammt von der styrischen ab, und Styriker verstehen nichts vom Krieg. Elenier brüllen, wenn sie in die Schlacht stürmen. Die Wachen versuchen lediglich, diesen Laut nachzuahmen.«

»Holt doch einfach Bhelliom hervor und vernichtet sie, Sperber«, schlug Talen vor.

»Nein!«, wandte Sephrenia scharf ein. »Die Trollgötter sind nun in sicherem Gewahrsam. Wir wollen sie nicht wieder freisetzen, ehe wir Azash vor uns haben. Es wäre unsinnig, Bhelliom gegen einfache Soldaten einzusetzen, wenn wir damit unsere eigentliche Mission gefährden.«

Tynian nickte. »Dagegen lässt sich nichts einwenden.«

»Sie unternehmen nichts«, stellte Ulath fest, der die Wachen beobachtete. »Ich bin sicher, dass sie uns sehen können, aber sie machen keine Anstalten, sich zu formieren, um den Eingang zu verteidigen. Wenn wir einfach hindurchstürmen und die Tür hinter uns schließen, werden wir keinen Gedanken mehr an sie verschwenden müssen.«

Die Ritter stellten sich in ihrer üblichen Keilformation auf und schritten rasch auf den klaffenden Eingang von Othas Palast zu. Als sie sich ihm durch das Flammenfeld näherten, stieg Sperber flüchtig ein sonderbar vertrauter Geruch in die Nase.

So schnell, wie es begonnen hatte, hörte das geistlose Heulen auf, und die Wachen in ihren Schädelhelmen standen reglos. Weder hoben sie ihre Waffen noch sammelten sie weitere Kräfte vor dem Tor. Sie standen einfach nur da.

Wieder drang ihnen dieser durchdringende Geruch in die Nase, doch ein plötzlicher Windstoß fegte ihn fort. Immer rascher zuckten Blitze herab und schmetterten mit ohrenbetäubendem Krachen große Steinbrocken von umliegenden Häusern.

»Auf den Boden!«, brüllte Kurik. »Schnell, werft euch alle auf den Boden!«

Sie verstanden nicht wieso, gehorchten jedoch sogleich und tauchten mit gewaltigem Rasseln und Klirren ihrer Rüstungen hinab auf das Pflaster.

Der Grund für Kuriks Warnung wurde Augenblicke später offenbar. Zwei der grotesk gerüsteten Wachen links des Eingangs wurden plötzlich zu einer Kugel blendend blauen Feuers und zersprangen in unzählige Stücke. Ihre Kameraden drehten sich nicht einmal um. Selbst als glühende Rüstungsteilchen auf sie herabregneten, blieben sie reglos stehen.

»Es ist die Rüstung!«, brüllte Kurik über das Donnerkrachen. »Stahl zieht Blitze an! Bleibt liegen!«

Immer wieder schlugen die Blitze in die Reihen der stahlgepanzerten Wachen ein, und der Geruch von versengtem Fleisch und Haar wurde vom Wind, der gegen die hohen Basaltwände des Palastes wirbelte, über den breiten Platz getragen.

»Sie rühren sich überhaupt nicht!«, rief Kalten. »So viel Disziplin hat niemand!«

Dann, als das Gewitter seinen schwerfälligen Marsch fortsetzte, schmetterten die Blitze in verlassene Häuser, statt in gepanzerte Männer.

»Können wir jetzt aufstehen?«, fragte Sperber seinen Knappen.

»Ich glaube schon. Aber wenn ihr auch nur das leichteste Prickeln spürt, dann werft euch rasch wieder zu Boden.«

Zögernd standen sie auf. »War das Azash?«, fragte Tynian Sephrenia.

»Ich glaube nicht. Azashs Blitze hätten uns getroffen. Aber es könnte Otha gewesen sein. Bis wir den Tempel erreichen, werden wir es wohl eher mit Othas Machenschaften zu tun haben als mit Azashs Kräften.«

»Otha? Ist er wirklich so geschickt?«

»Geschickt ist wohl nicht das richtige Wort«, entgegnete sie. »Otha hat gewaltige Kräfte, aber er ist unbeholfen. Er ist zu faul zu lernen, sie richtig zu beherrschen.«

Sie setzten ihren entschlossenen Vormarsch fort, doch die Männer, die sie in ihren grotesken Rüstungen erwarteten, machten immer noch keine Anstalten, sie anzugreifen oder auch nur Verstärkung zur Verteidigung des Eingangs herbeizurufen.

Als Sperber den ersten Posten erreichte, hob er sein Schwert, und der bisher reglose Mann heulte ihn an und hob schwerfällig eine breitklingige Axt, die mit nutzlosen Dornen und Widerhaken versehen war. Sperber schlug die Axt zur Seite und schwang sein Schwert. Die abschreckende Rüstung war sogar noch nutzloser, als Tynian behauptet hatte. Ihr Blech war nicht viel dicker als Papier, und Sperbers Klinge drang in den Zemocher, als hätte es keinerlei Widerstand gegeben. Selbst wenn er einen vollkommen ungeschützten Mann getroffen hätte – die Klinge hätte nicht tiefer in den Körper dringen können.

Dann sackte der Mann zusammen, den Sperber soeben erschlagen hatte, und seine durchhauene Rüstung klaffte auf. Sperber wich in plötzlichem Ekel zurück. Was in der Rüstung steckte, war kein Lebender gewesen, sondern verfärbte, schmierige Knochen, an denen noch ein paar Fetzen verwesenden Fleisches klebten. Ein grauenvoller Gestank stieg aus der Rüstung.

»Sie sind gar nicht lebendig!«, schrie Ulath. »In der Rüstung sind nichts als Knochen und stinkende Eingeweide!«

Würgend vor Ekel und Übelkeit kämpften die Ritter sich weiter voran und hieben eine Gasse durch ihre bereits toten Gegner.

»Halt!«, rief Sephrenia plötzlich scharf.

»Aber …«, wandte Kalten ein.

»Macht einen Schritt zurück – ihr alle!«

Widerwillig traten sie zurück, und die abscheulich gerüsteten Toten erstarrten wieder. Erneut begannen sie bei diesem Signal, das die Gefährten weder zu hören noch zu sehen vermochten, zu heulen.

»Was machen sie?«, fragte Ulath. »Warum greifen sie nicht an?«

»Weil sie tot sind, Ulath«, erklärte Sephrenia.

Ulath deutete mit seiner Axt auf einen der Zusammengesackten. »Tot oder nicht, der da hat jedenfalls versucht, mich mit seinem Speer zu kitzeln!«

»Das lag daran, dass Ihr in die Reichweite seiner Waffe gekommen seid. Seht sie doch an. Sie stehen da und unternehmen nichts, um ihren Kameraden zu helfen. Hol mir eine Fackel, Talen.«

Der Junge zog eine Fackel zwischen zwei Steinplatten heraus und gab sie Sephrenia. Sie hob sie und betrachtete das Pflaster unter ihren Füßen. »Das ist erschreckend.« Sie schauderte.

»Wir beschützen Euch, erhabene Sephrenia«, versicherte ihr Bevier. »Ihr habt nichts zu befürchten.«

»Keiner von uns hat etwas zu befürchten, lieber Bevier. Was jedoch erschreckend ist, ist die Tatsache, dass Otha offenbar mehr Macht zur Verfügung steht als irgendeinem anderen Sterblichen. Aber er ist zu dumm und weiß nicht, sie zu nutzen. Wir haben jahrhundertelang einen Schwachkopf gefürchtet.«

»Tote zu erwecken, ist ziemlich beeindruckend, Sephrenia«, gab Sperber zu bedenken.

»Jedes styrische Kind kann eine Leiche in Bewegung setzen. Aber Otha weiß nicht einmal, was er mit ihnen tun muss, nachdem er sie erweckt hat. Jeder dieser toten Posten steht auf einer Steinplatte, und diese Steinplatte ist alles, was er beschützt.«

»Seid Ihr sicher?«

»Vergewissert Euch selbst.«

Sperber hob seinen Schild und ging auf eine der übel riechenden Wachen zu. Kaum berührte sein Fuß die Fliese, auf welcher der Posten stand, schlug der Untote ruckhaft und schwerfällig mit einer Axt nach ihm. Mühelos wehrte Sperber den Hieb ab und trat zurück. Sofort stand der Posten wieder reglos wie eine Statue.

Und erneut stieß der Postenkreis um den Palast sein geistloses Heulen aus.

Zu Sperbers Entsetzen raffte Sephrenia ihr weißes Gewand und begann völlig ruhig durch die Reihen der Toten zu gehen. Dann blieb sie stehen und blickte über die Schulter. »Kommt schon! Gehen wir hinein, bevor es zu regnen anfängt. Vermeidet, auf ihre Steinplatten zu treten, das ist alles.«

Es war gespenstisch, um diese abscheulich stinkenden, drohenden Gestalten herumzugehen, deren Totenschädelgesichter immer wieder von Blitzen erhellt wurden. Doch es war nicht gefährlicher, als Brennnesseln auf einem Waldpfad auszuweichen.

Als sie am letzten der toten Wachsoldaten vorbei waren, blieb Talen stehen und spähte an einer diagonalen Reihe dieser Wächter entlang. »Hochverehrter Lehrer«, wandte er sich leise an Berit.

»Ja, Talen?«

»Wie wär’s, wenn du diesen da schubst, dass er umkippt?« Talen deutete auf den Rücken einer der grotesken Rüstungen. »Ein bisschen seitwärts.«

»Warum?«

Talen grinste spitzbübisch. »Schubs einfach, Berit. Dann wirst du schon sehen.«

Berit wirkte ein wenig verwirrt, aber er streckte den Axtschaft aus und versetzte der starren Leiche einen festen Stoß. Sie fiel krachend auf eine andere. Die zweite schlug der ersten prompt den Kopf ab, dabei stolperte sie rückwärts und wurde sogleich von einer dritten niedergestreckt.

Das Chaos breitete sich rasch aus, und eine große Zahl der furchterregenden Toten wurden von ihresgleichen in einem sinnlosen Gemetzel zerstückelt.

»Das ist ein sehr guter Junge, Euer Söhnchen, Kurik«, lobte Ulath.

»Wir setzen auch einige Hoffnung in ihn«, erwiderte Kurik bescheiden.

Sie wandten sich dem Eingang zu – und hielten inne. In der Luft, in der Mitte der dunklen Türöffnung, sahen sie sich einem verschwommenen Gesicht gegenüber, das mit fahler grüner Flamme in die Leere gezeichnet war. Es war eine groteske Fratze von unbeschreiblicher Bösartigkeit – und sie war bekannt. Sperber sah sie nicht zum ersten Mal.

»Azash!« , zischte Sephrenia. »Bleibt stehen, wo Ihr seid.«

Sie starrten die grässliche Erscheinung an.

»Ist er das wirklich?«, fragte Tynian bestürzt.

»Ein Abbild«, antwortete Sephrenia. »Auch das ist Othas Werk.«

»Ist es gefährlich?«, fragte Kalten.

»In den Eingang zu treten, bedeutet den Tod. Schlimmeres als den Tod.«

»Gibt es keine andere Möglichkeit, hineinzugelangen?«, fragte Kalten und blickte furchtsam auf die glühende Erscheinung.

»Oh, ich bin sicher, dass dies nicht die einzige ist, aber ich bezweifle, dass wir je imstande wären, weitere zu finden.«

Sperber seufzte. Er hatte schon lange beschlossen, was er tun würde, wenn es so weit war. Er bedauerte die Auseinandersetzung, die sie auslösen würde, mehr als die Tat selbst. Er nahm den Kettenbeutel vom Gürtel. »Es ist so weit«, sagte er zu seinen Freunden. »Setzt Euch in Bewegung. Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich Euch geben kann, aber ich werde es so lange wie nur möglich hinauszuzögern.«

»Wovon redest du?«, fragte Kalten misstrauisch.

»Näher werden wir nicht an Azash herankommen, fürchte ich. Wir alle wissen, was getan werden muss, und nur einer von uns kann es tun. Wenn irgendjemand von Euch je nach Cimmura zurückkommt, dann sagt Ehlana, ich hätte mir gewünscht, einen anderen Weg nehmen zu können. Sephrenia, bin ich nahe genug? Wird Azash vernichtet?«

Ihre Augen waren voll Tränen, aber sie nickte.

»Keine Gefühlsduselei in dieser Stunde«, sagte Sperber schroff. »Dafür ist keine Zeit. Es war mir eine Ehre, Euch gekannt zu haben – Euch alle. Und jetzt verschwindet. Das ist ein Befehl!« Er musste dafür sorgen, dass sie umkehrten, ehe einer von ihnen irgendeine törichte, edelmütige Entscheidung treffen konnte. »Geht!«, brüllte er sie an.

Sie setzten sich in Bewegung. Soldaten gehorchten Befehlen immer – sofern diese nur laut genug gebrüllt wurden. Wenn es stimmte, was Sephrenia gesagt hatte, würden sie mindestens einen Tag brauchen, um außerhalb der Reichweite völliger Zerstörung zu gelangen. Doch es bestand wenig Hoffnung, dass Sperber so lange unentdeckt blieb. Aber zumindest musste er versuchen, ihnen diese, wenngleich geringe Chance zu geben. Vielleicht würde niemand aus dem Palast kommen. Vielleicht würde ihn auch keine der Streifen bemerken, die durch die Stadt patrouillierten. Es war immerhin eine Hoffnung.

Er wollte ihnen nicht nachschauen. Das wäre nicht gut. Außerdem hatte er etwas viel Wichtigeres zu tun, als unglücklich herumzustehen wie ein Kind, das unartig gewesen ist und zu Hause bleiben muss, während die Familie zu einem Volksfest aufbricht. Er blickte zuerst nach rechts, dann nach links. Falls Sephrenia recht gehabt hatte und dies der einzige Zugang zu Othas Palast war, wäre es besser, sich ein Stück von der offenen Tür und der glühenden Erscheinung zurückzuziehen. Dann würde er sich nur noch um die Patrouillen zu kümmern brauchen. Wer oder was immer aus dem Palast kam, würde ihn dann nicht sofort sehen. Links oder rechts? Er zuckte mit den Schultern. Was machte es schon für einen Unterschied? Vielleicht wäre es noch besser, um den Palast herumzuschleichen und direkt an der Tempelmauer zu warten. Dadurch würde er näher bei Azash sein, und der Ältere Gott wäre noch dichter am Zentrum der völligen Vernichtung.

Als er sich halb umdrehte, sah er sie. Sie standen außerhalb der Reihen der erstarrten Toten. Und ihre Gesichter wirkten entschlossen.

»Was macht Ihr da?«, brüllte er ihnen zu. »Ich habe Euch befohlen zu verschwinden!«

»Und wir haben beschlossen, auf dich zu warten«, rief Kalten zurück.

Sperber machte einen drohenden Schritt auf sie zu.

»Sei kein Narr, Sperber«, sagte Kurik. »Du kannst das Risiko nicht eingehen, zwischen diesen Toten herumzustapfen. Wenn du auch nur einen einzigen falschen Schritt machst, wird einer dir von hinten den Schädel einschlagen – und dann hat Azash den Bhelliom. Und wir hätten den ganzen weiten Weg umsonst gemacht!«