27

Sperber fluchte. Warum konnten sie nicht einfach gehorchen? Seufzend dachte er, dass er es eigentlich hätte wissen müssen. Nun ließ es sich nicht mehr ändern, und es wäre sinnlos gewesen, ihnen Vorwürfe zu machen.

Er zog seinen Rüsthandschuh aus und nahm die Wasserflasche von seinem Gürtel. Als er den Stöpsel herauszog, blitzte sein Ring im Fackelschein blutrot. Als Sperber die Flasche senkte, betrachtete er ihn nachdenklich. »Sephrenia«, sagte er widerwillig. »Ich brauche Euch.«

Sie eilte zu ihm.

»Der Sucher war Azash, nicht wahr?«

»Ganz so einfach ist es nicht, Sperber.«

»Ihr wisst schon, was ich meine. Als wir in Pelosien an König Saraks Grabhügel standen, sprach Azash durch den Sucher zu Euch, aber er floh, als ich ihm mit Aldreas’ Speer zu nahe kam.«

»Ja.«

»Und ich benutzte den Speer, um dieses Ungeheuer zu vertreiben, das aus dem Grabhügel in Lamorkand emporkam, und ich tötete Ghwerig damit.«

»Ja.«

»Aber es lag nicht am Speer selbst, nicht wahr? Eine so mächtige Waffe ist er denn doch nicht. Es lag an den Ringen, richtig?«

»Ich weiß nicht, worauf Ihr hinauswollt, Sperber.«

»So genau weiß ich es auch nicht.« Er zog den anderen Rüsthandschuh ebenfalls aus und studierte beide Ringe. »Sie haben eigene Kräfte, nicht wahr? Ich glaube, der Umstand, dass sie die Schlüssel zu Bhelliom sind, hat mich ihnen gegenüber blind gemacht. Bhelliom hat so ungeheure Kräfte, dass ich gar nicht mehr an Dinge dachte, die mit den Ringen allein möglich sind. Aldreas’ Speer spielte dabei selbst keine Rolle – was ganz gut ist, weil er in Ehlanas Gemach in Cimmura in einer Ecke steht. Jede andere Waffe hätte es auch getan, nicht wahr?«

»Solange die Ringe sie berührten, ja. Bitte, Sperber, kommt zur Sache. Eure elenische Logik ist umständlich.«

»Sie ist eine gute Denkhilfe. Ich könnte das Abbild am Eingang mit Bhelliom vernichten, doch dabei kämen die Trollgötter frei, und sie würden versuchen, mir in den Rücken zu fallen, wann immer ich mich umdrehe. Doch mit den Ringen haben die Trollgötter nichts zu tun. Ich kann die Ringe benutzen, ohne Ghnomb und seine Freunde zu wecken. Was geschieht, wenn ich mein Schwert mit beiden Händen nehme und die Fratze am Eingang damit berühre?«

Sephrenia starrte ihn an.

»Es handelt sich hier doch nicht wirklich um Azash. Wir haben es mit Otha zu tun. Ich bin ja vielleicht nicht der größte Magier auf der Welt, aber das ist auch nicht nötig, solange ich die Ringe habe. Glaubt Ihr nicht auch, dass die Ringe es mit Otha allemal aufnehmen können?«

»Das kann ich nicht sagen, Sperber«, antwortete sie nachdenklich. »Ich weiß es nicht.«

»Dann müssen wir es eben herausfinden!« Er drehte sich um und blickte über die Reihen übel riechender Toter hinweg. »Also gut«, rief er seinen Freunden zu. »Kommt zurück. Ich habe einen Plan und brauche Eure Hilfe.«

Sie wanden sich vorsichtig durch die Reihen der grotesken Rüstungen und scharten sich um Sperber und seine Lehrerin.

»Ich werde jetzt einen gefährlichen Versuch unternehmen«, warnte er sie. »Falls es schiefgeht, müsst Ihr Bhelliom übernehmen.« Er löste den Kettenbeutel von seinem Gürtel. »Wenn der Versuch misslingt, dann holt Bhelliom aus dem Beutel und zerschmettert ihn mit einem Schwert oder einer Axt.« Er reichte Kurik den Beutel und Kalten seinen Schild, dann zog er sein Schwert. Er fasste den Griff mit beiden Händen und schritt zum Eingang zurück, in dessen Mitte die glühende Erscheinung hing. Er hob das Schwert. »Wünscht mir Glück.«

Er streckte die Arme aus und richtete sein Schwert auf das Abbild in dem grünen Feuer vor sich. Dann holte er tief Luft und ging direkt darauf zu, um die Schwertspitze in das brennende Zauberbild zu bohren.

Es gab ein eindrucksvolles Feuerwerk. Bei der Berührung zerbarst das Abbild und überschüttete Sperber mit einem wahren Schwall bunter Funken. Die Detonation ließ vermutlich sämtliche Glasscheiben in einem Umkreis von mehreren Meilen zerspringen. Sperber und seine Freunde wurden zu Boden geschmettert, und die gerüsteten Leichen, die noch Wache vor dem Palast hielten, wurden gefällt wie kranke Bäume. Sperber schüttelte den Kopf, um das Klingen in den Ohren zu vertreiben. Er plagte sich auf die Füße; dabei starrte er auf den Eingang. Einer der gewaltigen Torflügel war in der Mitte gespalten. Den anderen, der gefährlich gekippt war, hielt nur noch eine Angel. Die Erscheinung war verschwunden; an ihrer Stelle schwebten lediglich ein paar dünne Rauchschwaden. Aus dem Innern des Palasts gellte anhaltendes, schmerzerfülltes Kreischen.

»Ist bei Euch alles in Ordnung?«, erkundigte sich Sperber und ließ den Blick über seine Freunde schweifen.

Benommen rappelten sie sich auf.

»Ziemlicher Krach«, bemerkte Ulath nur.

»Wer macht denn diesen Lärm im Palast?«, fragte Kalten.

»Otha, vermute ich«, erwiderte Sperber. »Es nimmt einen ganz schön mit, wenn einem der Zauber zerschmettert wird.«

Er hob seine Rüsthandschuhe und den Kettenbeutel auf.

»Talen!«, brüllte Kurik. »Nein!«

Aber der Junge trat bereits in den offenen Eingang. »Sieht nicht so aus, als wäre da was, Vater«, beruhigte er ihn. Er schritt ein Stück weiter hinein; dann kehrte er zurück. »Da ich nicht in einer Rauchwolke verschwunden bin, besteht hier wohl keine Gefahr.« Er grinste.

Kurik streckte grimmig die Arme nach dem Jungen aus, doch dann überlegte er es sich anders und fluchte nur vor sich hin.

»Gehen wir hinein«, riet Sephrenia. »Bestimmt hat jede Streife in der Stadt die Explosion gehört. Wir können nur hoffen, dass die Krieger sie für Donner gehalten haben, aber einige werden sicher anrücken, um nachzusehen.«

Sperber steckte den Beutel zurück unter seinen Gürtel. »Wir wollen möglichst lange unbemerkt bleiben, wenn wir erst drinnen sind. Welche Richtung ist die günstigste?«

»Wir halten uns am besten nach links, sobald wir durch das Tor sind. Die Gänge auf dieser Seite führen zu den Küchen und den Vorratsräumen.«

»Also gut. Gehen wir.«

Der fremdartige Geruch, der Sperber schon beim Betreten der Stadt aufgefallen war, nahm hier in den dunklen Korridoren des Palasts noch zu. Die Ritter schlichen auf Zehenspitzen und lauschten den widerhallenden Rufen der Leibgarde. Im Palast herrschte Aufruhr, und selbst in einem so ungeheuerlich großen Gebäude wie diesem ließen sich Begegnungen früher oder später nicht vermeiden. In den meisten Fällen konnten Sperber und seine Freunde dies vermeiden, indem sie rasch in eines der dunklen Gemächer entlang der Korridore traten. Bedauerlicherweise war das nicht überall möglich, doch die Ordensritter waren im Nahkampf viel erfahrener als die Zemocher, und der Kampflärm ging in den Rufen unter, die durch die Korridore hallten.

Sie brauchten fast eine Stunde, ehe sie zu einer geräumigen Backstube gelangten, wo die niedergebrannten Feuer noch ein wenig Helligkeit spendeten. Dort hielten sie an und verriegelten die Türen.

»Ich habe völlig die Orientierung verloren«, gestand Kalten und genehmigte sich ein Törtchen. »In welche Richtung müssen wir jetzt?«

»Durch diese Tür, glaube ich.« Sephrenia deutete mit der Hand darauf. »Alle Küchen haben Türen zu einem Korridor, der zum Thronsaal führt.«

»Otha speist in seinem Thronsaal?«, staunte Bevier.

»Otha verlässt ihn kaum noch«, erwiderte sie. »Er kann nicht mehr laufen.«

»Was hat ihn denn verkrüppelt?«

»Sein Appetit. Er isst fast unentwegt, und er hat schon immer etwas gegen körperliche Betätigung gehabt. Seine Beine sind inzwischen zu schwach, sein Gewicht zu tragen.«

»Wie viele Türen hat der Thronsaal?«, erkundigte Ulath sich.

Sephrenia überlegte kurz. »Vier, soweit ich mich erinnere. Die eine vom Küchengang, eine vom Hauptpalast und eine zu Othas Privatgemächern.«

»Und die letzte?«

»Der vierte Ausgang hat keine Tür, sondern führt direkt ins Labyrinth.«

»Dann müssen wir als Erstes diese Türen verbarrikadieren, damit wir uns möglichst ungestört mit Otha unterhalten können.«

»Und wer immer sich sonst noch dort aufhält«, fügte Kalten hinzu. »Ob Martel wohl schon da ist?« Er langte nach einem weiteren Törtchen.

»Das lässt sich nur auf eine Weise herausfinden«, sagte Tynian.

»Augenblick«, unterbrach Sperber ihn. »Was ist das für ein Labyrinth, in das der vierte Ausgang führt, Sephrenia?«

»Es ist der Weg zum Tempel. Es gab eine Zeit, da waren die Leute fasziniert von Labyrinthen. Es ist sehr kompliziert und sehr gefährlich.«

»Und das ist die einzige Möglichkeit, in den Tempel zu gelangen?«

Sie nickte.

»Azashs Anbeter müssen durch den Thronsaal, um in den Tempel zu kommen?«

»Normalerweise begeben sich Gläubige hier nicht in den Tempel, Sperber – lediglich Priester und Opfer.«

»Dann sollten wir in den Thronsaal stürmen. Wir verriegeln die Türen, kümmern uns um die Wachen im Thronsaal und dann nehmen wir Otha gefangen. Wenn wir ihm ein Messer an die Kehle halten, wird keiner seiner Soldaten es wagen, sich mit uns anzulegen.«

»Otha ist ein Magier, Sperber«, erinnerte ihn Tynian. »Ihn gefangen zu nehmen, wird nicht so leicht sein.«

»Otha ist im Augenblick keine große Gefahr«, widersprach Sephrenia. »Wir wissen alle, wie es ist, wenn ein Zauber gewaltsam gebrochen wird. Man braucht eine Weile, sich davon zu erholen.«

»Sind alle bereit?«, fragte Sperber angespannt.

Sie nickten, und er führte sie durch die Tür. Der Korridor von den Küchen zu Othas Thronsaal war schmal und nicht sehr lang. Eine Fackel erhellte rötlich sein entferntes Ende. Talen stahl sich voraus. Seine weichen Sohlen verursachten keinen Laut auf dem Fliesenboden. Kurz darauf kam er zurückgehuscht.

»Sie sind alle da«, wisperte er aufgeregt. »Annias, Martel und die übrigen. Sieht ganz so aus, als wären sie eben erst angekommen. Alle tragen noch ihre Reiseumhänge.«

»Wie viele Wachen sind im Thronsaal?«, fragte Kurik.

»Nicht viele. Im Höchstfall zwanzig.«

»Die übrigen suchen uns wahrscheinlich auf den Korridoren.«

»Kannst du den Saal beschreiben?«, fragte Tynian. »Und die Stellen, wo die Wachen stehen?«

Talen nickte. »Dieser Korridor mündet gar nicht weit vom Thron in den Saal. Otha ist nicht zu übersehen. Er erinnert mich an eine Schnecke, die zu dick für ihr Haus geworden ist. Martel und die anderen stehen um ihn herum. An jeder Tür sind zwei Wachen postiert, außer an dem Türbogen hinter dem Thron, der wird gar nicht bewacht. Die übrigen Wachen sind an den Wänden entlang verteilt. Sie tragen Kettenhemden und Schwerter, und jeder hält einen langen Speer. Vor dem Thron kauern etwa ein Dutzend stämmiger Burschen. Sie haben bloß Lendentücher umgebunden und sind nicht bewaffnet.«

»Othas Träger«, erklärte Sephrenia.

»Ihr hattet recht«, wandte Talen sich an sie. »Es sind vier Türen: die direkt vor uns, eine zweite in der Wand gegenüber, dann der offene Eingang, und eine breite Flügeltür am Ende des Saals.«

»Das ist die Haupttür in den Mittelteil des Palasts«, sagte Sephrenia.

»Also die wichtige«, schloss Sperber. »In den Küchen halten sich wahrscheinlich nur ein paar Köche auf, und in Othas Privatgemächern vermutlich auch bloß ein paar Bedienstete. Aber hinter der Haupttür sind gewiss Wachen. Wie weit ist es von dieser Tür zur Haupttür?«

»Ungefähr zweihundert Fuß«, schätzte der Junge.

»Wem ist nach Laufen zumute?« Sperbers Blick wanderte über seine Freunde.

»Was meint Ihr, Tynian?«, fragte Ulath. »Wie schnell schafft Ihr zweihundert Fuß?«

»Ebenso schnell wie Ihr, mein Freund.«

»Gut, dann kümmern wir uns darum, Sperber«, erklärte Ulath.

»Vergiss ja nicht, dass du mir Adus versprochen hast!«, erinnerte Kalten Sperber.

»Ich werde versuchen, mein Versprechen zu halten.«

Sie schritten entschlossen zum fackelerhellten Eingang. Kurz davor hielten sie für einen Augenblick an; dann stürmten sie hinein. Ulath und Tynian rannten zur Haupttür. Überraschte und erschrockene Schreie erklangen, als die Ritter in den Thronsaal stürzten. Othas Soldaten schrien einander widersprechende Befehle zu, doch ein Offizier überbrüllte sie alle: »Beschützt den Kaiser!«

Die Gardisten in Kettenhemden, die an den Wänden postiert gewesen waren, überließen ihre Kameraden an den Türen sich selbst und beeilten sich, mit ihren Speeren einen Schutzring um den Thron zu bilden. Kalten und Bevier hatten die zwei Wachen an der Tür zum Küchenkorridor ohne Mühe erledigt, und Ulath und Tynian erreichten die Haupttür, noch bevor die beiden Wachen sie öffnen und Hilfe herbeirufen konnten. Die Posten fielen bereits unter den ersten Streichen, und sofort stemmte Ulath sich mit dem Rücken gegen die Tür, während Tynian hinter den Vorhängen nach dem Riegel tastete.

Berit schoss neben Sperber durch die Tür, sprang über die noch auf dem Boden zappelnden Wachen und stürmte mit erhobener Axt durch den Saal zur gegenüberliegenden Tür. Trotz seiner schweren Rüstung rannte er leichtfüßig über den polierten Boden und warf sich auf die zwei Gardisten, welche die Tür zu Othas Privatgemächern bewachten. Er stieß ihre Speere zur Seite und ließ seine Axt zweimal herabsausen.

Sperber hörte das metallische Klicken hinter sich, als Kalten den schweren Eisenriegel vorschob.

An die Flügeltür, gegen die Ulath sich stemmte, wurde heftig gehämmert. Dann fand Tynian endlich den Riegel und schob ihn vor. Berit verriegelte seine Tür ebenfalls.

»Gute Arbeit«, lobte Kurik. »Aber wir müssen erst noch an Otha heran.«

Sperber blickte auf den Ring von Speeren um den Thron, dann auf Otha. Wie Talen so bildhaft beschrieben hatte, sah der Mann, der den Westen die vergangenen fünfhundert Jahre in Furcht und Schrecken versetzt hatte, wie eine riesige hauslose Schnecke aus. Er war vom selben fahlen Weißgrau und völlig haarlos. Sein unheimlich aufgedunsenes Gesicht glänzte derart vor Schweiß, dass man meinen konnte, es wäre mit Schleim überzogen. Sein Wanst war ungeheuerlich und ragte so weit nach vorn, dass seine Arme wie Stümpfe wirkten. Er starrte vor Schmutz, und außerordentlich kostbare Ringe steckten an seinen fetten schmierigen Fingern. So, wie er halb auf seinem Thron lag, konnte man meinen, er wäre dort hingeschleudert worden. Seine Augen waren glasig, und er zuckte krampfartig. Offenbar hatte er sich noch nicht von dem Schock erholt, den das Zerbrechen seines Zaubers verursacht hatte.

Sperber holte tief Luft, um sich zu beruhigen, dabei schaute er sich um. Der Saal hätte sich an Wert mit einer Schatzkammer messen können. Gehämmertes Gold überzog die Wände, und Perlmutt bedeckte die Säulen rundum. Die Bodenfliesen waren aus poliertem schwarzem Onyx, die Vorhänge an den Türen aus blutrotem Samt. Fackeln ragten in regelmäßigen Abständen von Halterungen an den Wänden, und links und rechts von Othas Thron standen riesige eiserne Kohlenbecken. Und schließlich fiel Sperbers Blick auf Martel.

»Ah, Sperber«, sagte der Weißhaarige höflich, »wie nett von Euch, vorbeizukommen. Wir haben Euch erwartet.«

Die Worte klangen beinahe gleichmütig, wenn man die leichte Nervosität außer Acht ließ, die in Martels Stimme mitschwang. Er hatte sie nicht so bald erwartet, und ihr Sturmangriff hatte ihn völlig unerwartet getroffen. Er stand mit Annias, Arissa und Lycheas innerhalb des schützenden Speerrings. Adus munterte die Speerträger mit Fußtritten und Verwünschungen auf.

»Wir waren gerade in der Gegend.« Sperber zuckte mit den Schultern. »Wie ist es dir ergangen, alter Junge? Du siehst etwas mitgenommen aus. War es eine anstrengende Reise?«

»Sie war zu ertragen.« Martel verbeugte sich in Richtung Sephrenia. »Kleine Mutter«, grüßte er, und wieder klang seine Stimme, als er sich an sie wandte, eigenartig bedauernd.

Sephrenia seufzte, schwieg jedoch.

»Ich sehe, wir sind alle hier«, fuhr Sperber fort. »Ich liebe diese kleinen familiären Treffen. Sie bieten uns die Gelegenheit, in Erinnerungen zu schwelgen.«

Sein Blick wanderte zu Annias, dessen untergeordnete Stellung gegenüber Martel nun unverkennbar war. »Ihr hättet in Chyrellos bleiben sollen, Exzellenz«, sagte er. »So ist Euch die ganze Aufregung bei der Wahl entgangen. Könnt Ihr Euch vorstellen, dass die Hierokratie Dolmant auf den Erzprälatenthron gesetzt hat?«

Ein Ausdruck der Qual huschte über das Gesicht des Primas von Cimmura. »Dolmant?«, würgte er bestürzt hervor. In späteren Jahren wurde Sperber bewusst, dass seine Rache an dem Primas in jenem Augenblick vollkommen gewesen war. Der Schmerz, den diese schlichte Erklärung seinem Feind verursachte, ging über sein Verständnis. Das Leben des Primas von Cimmura zerfiel in diesem einen Augenblick zu Asche.

»Überraschend, nicht wahr?«, fuhr Sperber unerbittlich fort. »Wirklich der Letzte, mit dem man gerechnet hätte. Viele in Chyrellos sind überzeugt, dass Gott selbst seine Hand im Spiel hatte. Meine Gemahlin, die Königin von Elenien – Ihr erinnert Euch doch an sie, nicht wahr? Das hübsche blonde Mädchen, das Ihr vergiftet hattet – hielt eine Ansprache vor den Patriarchen, bevor sie mit der Wahl begannen. Sie hat ihn vorgeschlagen. Sie war erstaunlich beredt, aber es wird allgemein angenommen, dass Gott selbst aus ihrem Munde sprach – vor allem, wenn man die Tatsache bedenkt, dass Dolmant einstimmig gewählt wurde.«

»Das ist unmöglich!«, krächzte Annias. »Ihr lügt, Sperber!«

»Ihr könnt Euch selbst überzeugen, Annias. Wenn ich Euch nach Chyrellos zurückgebracht habe, werdet Ihr genügend Zeit haben, das Sitzungsprotokoll zu studieren. Gegenwärtig rauft man sich dort um das Vergnügen, Euch vor Gericht zu stellen und hinzurichten. Das mag sich jahrelang hinziehen. Irgendwie ist es Euch gelungen, so gut wie jeden westlich der zemochischen Grenze zu beleidigen. Alle wollen aus diesem oder jenem Grund Euren Tod.«

»Jetzt bist du aber ziemlich kindisch, Sperber«, sagte Martel abfällig.

»Das bestreite ich nicht. Aber sind wir das nicht alle hin und wieder? Es ist wirklich bedauerlich, dass der Sonnenuntergang heute so mittelmäßig war, Martel, denn es war dein letzter.«

»Das trifft zumindest auf einen von uns beiden zu.«

»Sephrenia.« Es hörte sich wie ein rumpelndes, tiefes Gurgeln an.

»Ja, Otha?«, fragte sie ruhig.

»Sagt Eurer einfältigen kleinen Göttin Lebewohl«, grollte der überfette Mann auf dem Thron in Altelenisch. Seine Augen waren nun wieder klar, doch seine Hände zitterten immer noch. »Eure unnatürliche Verbindung zu den Jüngeren Göttern geht zu Ende. Azash erwartet Euch.«

»Das bezweifle ich, Otha, denn ich bringe den Unbekannten mit. Ich fand ihn, lange ehe er geboren wurde, und er begleitet mich mit Bhelliom in der Hand. Azash fürchtet ihn, Otha, und Ihr tätet wahrlich gut daran, ihn ebenfalls zu fürchten.«

Otha sank tiefer in seinen Thron. Sein Kopf schien sich wie der einer Schildkröte in die Falten seines fetten Halses zu verkriechen. Aber seine Hand bewegte sich mit erstaunlicher Flinkheit. Ein Strahl grünlichen Lichts schoss aus ihr hervor, geradewegs auf die zierliche Styrikerin zu. Doch Sperber hatte mit so etwas gerechnet. Er hatte seinen Schild scheinbar gleichmütig mit beiden bloßen Händen gehalten, doch so, dass die blutroten Steine der Ringe fest auf den Stahlrand des Schildes drückten. Mit der Behändigkeit des geübten Kämpfers schob er den Schild vor seine Lehrerin. Der grüne Strahl traf den Schild und wurde von der glänzenden Oberfläche zurückgeworfen. Er zerriss einen Gardisten in einer lautlosen Explosion, die weißglühende Teile seines Kettenhemds über den ganzen Saal regnen ließ.

Sperber zog sein Schwert.

»Hören wir jetzt mit dem Unsinn auf, Martel?«, fragte er düster.

»Ich würde dir ja den Gefallen tun, alter Junge«, erwiderte Martel, »aber Azash wartet auf uns. Du weißt ja, wie es so ist.«

Das Hämmern an der schweren Tür, die Tynian und Ulath bewachten, wurde heftiger.

»Begehrt da nicht jemand Einlass?«, fragte Martel interessiert. »Sei so nett, Sperber, und schau nach.«

Sperber kam näher.

»Bringt den Kaiser in Sicherheit!«, befahl Annias den knapp bekleideten Burschen, die neben dem Thron kauerten. Mit geübter Eile schoben die Männer dicke Stangen in dafür bestimmte Öffnungen im edelsteinbesetzten Sessel, stemmten ihre Schultern unter die Stangen und hoben das gewaltige Gewicht ihres Gebieters samt Thron vom Podest. Dann machten sie kehrt und trotteten schwerfällig auf den Ausgang hinter dem Thron zu.

»Adus!«, rief Martel. »Halte sie mir vom Leib!« Auch er drehte sich um und trieb Annias und seine Familie hinter Otha her, während der äffische Adus mit der flachen Schwertklinge auf Othas mit Speeren bewaffnete Gardisten einschlug und unverständliche Befehle brüllte.

Das Hämmern an der verriegelten Flügeltür wurde zum Donnern, als die Soldaten draußen behelfsmäßige Rammen einsetzten.

»Sperber!«, brüllte Tynian. »Die Tür wird nicht mehr lange standhalten!«

»Lasst sie!«, brüllte Sperber zurück. »Helft uns hier! Otha und Martel entkommen!«

Die Soldaten unter Adus’ Befehl bauten sich vor Sperber, Kurik und Bevier auf, weniger, um sie in einen Kampf zu verstricken, als zu verhindern, dass sie den Ausgang erreichten, durch den man ins Labyrinth gelangte. Obwohl in fast jeder anderen Hinsicht geradezu erschreckend dumm, war Adus doch ein ausgezeichneter Krieger, und bei einem Kampf dieser Art, in einer überschaubaren Lage mit einer ebenso überschaubaren Anzahl von Soldaten, war er in seinem Element. Er leitete Othas Gardisten mit Grunzlauten, Fußtritten und Schlägen und formierte sie zu Zweier- und Dreiergruppen, um einzelne Gegner mit den Speeren abzuhalten. Adus’ begrenzter Verstand hatte den Zweck von Martels Befehl gut begriffen. Er sollte die Ritter lange genug hinhalten, dass Martel zu entkommen vermochte. Und wahrscheinlich war niemand besser dafür geeignet als Adus.

Als Kalten, Ulath, Tynian und Berit in den Kampf eingriffen, wich Adus zurück. Seine zemochischen Soldaten waren zwar zahlenmäßig überlegen, aber den gepanzerten Rittern ansonsten unterlegen. Doch Adus konnte die meisten in den Eingang zum Labyrinth zurückziehen, wo ihre Speere eine wirkungsvolle Barriere bildeten.

Und die ganze Zeit donnerten die Rammen.

»Wir müssen in dieses Labyrinth!«, schrie Tynian. »Wenn die Haupttür nachgibt, haben wir die da draußen im Rücken!«

Da griff Ritter Bevier ein. Der junge Cyriniker war die personifizierte Tapferkeit, und er hatte schon bei mehreren Anlässen seine eigene Sicherheit völlig außer Acht gelassen. Er schritt vorwärts und schwang seine gefährliche, mit Haken bewehrte Lochaberaxt. Er hieb damit nicht nach den Soldaten, sondern nach ihren Speeren, und ein Speer ohne Spitze ist nicht mehr als ein Stock. In kürzester Zeit hatte er Adus’ Zemocher entwaffnet – aber dabei eine tiefe Wunde an seiner Seite, unmittelbar über der Hüfte, davongetragen. Er wich zurück, als Schwäche ihn erfasste und Blut aus dem Riss in seiner Rüstung strömte.

»Kümmert Euch um ihn!«, wies Sperber Berit an und stürmte auf die Zemocher zu. Ohne ihre Speerspitzen sahen die Gardisten sich gezwungen, zu ihren Schwertern zu greifen. Das brachte den Ordensrittern den entscheidenden Vorteil. Sie fegten die Zemocher aus dem Weg.

Adus schätzte die Lage mit einem Blick ab und wich in den Eingang zurück.

»Adus!«, donnerte Kalten und schleuderte einen Zemocher zur Seite.

»Kalten!«, brüllte Adus. Mit blutunterlaufenen Augen machte er einen Schritt vorwärts. Er knurrte und schlitzte in seiner Wut einem seiner eigenen Soldaten den Bauch auf, dann verschwand er im Labyrinth.

Sperber wirbelte herum. »Wie geht es ihm?«, fragte er Sephrenia, die neben dem verwundeten Bevier kniete.

»Es ist ernst, Sperber.«

»Könnt Ihr die Blutung stillen?«

»Nicht ganz.«

Bevier lag bleich und schweißüberströmt da. Sein Brustpanzer war abgeschnallt und lag offen wie eine Muschel. »Macht weiter, Sperber«, sagte er. »Ich werde diesen Eingang schützen, solange ich kann.«

»Unsinn!«, schnaubte Sperber. »Polstert die Wunde, so gut es sich machen lässt, Sephrenia, dann schnallt ihm seinen Harnisch wieder um. Berit, bringt ihn mit. Tragt ihn, wenn es sein muss.«

Ein Splittern war hinter ihnen, am anderen Ende des Thronsaals, zu hören.

»Die Tür gibt nach, Sperber«, meldete Kalten.

Sperber blickte in den langen gewölbten Gang zum Labyrinth. Fackeln steckten in großen Abständen in Eisenringen. Da sah er einen plötzlichen Hoffnungsschimmer. »Ulath«, rief er. »Bleibt Ihr mit Tynian als Nachhut. Warnt uns, sobald Soldaten hinter uns herkommen.«

»Ich halte Euch nur auf, Sperber«, sagte Bevier schwach.

»Nein, bestimmt nicht«, beruhigte Sperber ihn. »Wir haben nicht vor, durch dieses Labyrinth zu rennen. Wir wissen nicht, was uns erwartet, und werden kein Risiko eingehen. Also, meine Herren, marschieren wir los.«

Sie schritten durch den langen, geraden Korridor zum Labyrinth und kamen an mehreren dunklen Eingängen zu beiden Seiten vorbei.

»Sollten wir nicht lieber einen Blick hineinwerfen?«, fragte Kalten.

»Das ist nicht notwendig«, entgegnete Kurik. »Einige von Adus’ Männern sind verwundet. Wir brauchen nur den Blutspritzern auf dem Boden zu folgen. Das sagt uns zumindest, dass Adus diesen Weg genommen hat.«

»Aber das heißt nicht, dass es Martel auch getan hat«, warf Kalten ein. »Vielleicht hat er Adus angewiesen, uns in die Irre zu führen.«

»Das ist möglich«, gestand Sperber ein, »aber dieser Korridor ist als einziger beleuchtet.«

»Ich würde es bestimmt nicht Labyrinth nennen, wenn der Weg mit Fackeln gekennzeichnet ist«, gab Kurik zu bedenken.

»Vielleicht nicht, aber solange die Fackeln und die Blutspur dieselbe Richtung haben, gehen wir das Risiko ein.«

Der widerhallende Korridor machte an seinem Ende eine scharfe Biegung. Dadurch, dass sowohl Wände wie Decke nach oben und innen gewölbt waren, entstand der beunruhigende Eindruck, er wäre zu niedrig, und Sperber ertappte sich dabei, dass er unwillkürlich gebückt ging.

»Sie haben die Haupttür zum Thronsaal eingebrochen, Sperber!«, rief Ulath von hinten. »Ein paar Fackeln sind bereits im Gang zu sehen.«

»Das nimmt uns die Entscheidung ab«, stellte Sperber fest. »Wir haben keine Zeit, uns in irgendwelchen Seitengängen umzusehen. Also weiter.«

An dieser Stelle begann eine Krümmung des Gangs, und die Blutflecken auf dem Boden deuteten darauf hin, dass sie immer noch dem Weg folgten, den Adus genommen hatte.

Der Korridor bog nach rechts ab.

»Wie kommt Ihr zurecht?«, fragte Sperber Bevier, der sich schwer gegen Berits Schulter lehnte.

»Sobald ich wieder zu Atem komme, schaffe ich es ohne Hilfe.«

Der Korridor bog wieder nach links ab, kurz darauf ein weiteres Mal.

»Der Weg führt uns wieder zurück, Sperber!«

»Ich weiß. Aber haben wir eine andere Wahl?«

»Mir fällt keine ein.«

»Ulath«, rief Sperber. »Holen die Soldaten hinter uns auf?«

»Sieht nicht so aus.«

»Vielleicht kennen sie den Weg durchs Labyrinth ebenfalls nicht«, meinte Kalten. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand Azash zu seinem Vergnügen besuchen würde.«

Der Überfall erfolgte aus einem Seitengang. Fünf mit Speeren bewaffnete Zemocher stürzten sich aus der dunklen Gangmündung auf Sperber, Kalten und Kurik. Mit ihren Speeren hatten sie einen gewissen Vorteil – aber nicht genug. Nachdem sich drei von ihnen blutend auf dem Boden wälzten, flohen die zwei übrigen zurück in die Dunkelheit.

Kurik zog eine Fackel aus einem der Eisenringe an der Wand und ging Sperber und Kalten voraus in den dunklen, gewundenen Seitengang. Nach wenigen Minuten sahen sie die Soldaten, denen sie folgten. Beide tasteten sich ängstlich an der Wand entlang.

»Jetzt haben wir sie!«, rief Kalten begeistert und wollte losrennen.

»Kalten!« Kuriks Stimme überschlug sich fast. »Bleib stehen!«

»Was ist denn?«

»Sie halten sich zu dicht an der Wand!«

»Na und?«

»Was stimmt nicht mit der Gangmitte?«

Kalten starrte auf die beiden Verängstigten, die sich an der Wand entlangschoben. »Wollen doch mal sehen«, brummte er. Er löste eine kleine Bodenfliese mit der Schwertspitze heraus und warf sie nach den Soldaten, verfehlte sie jedoch um mehrere Fuß.

»Lass mich versuchen«, sagte Kurik. »Durch die Rüstung sind die Schultern viel zu steif zum Werfen.« Auch er löste eine Fliese. Er warf viel zielsicherer. Die Fliese prallte mit lautem Krachen vom Helm des Soldaten ab. Der Mann schrie auf, als er rückwärts taumelte. Vergebens versuchte er, sich an der Wand festzuklammern und kippte nach hinten in die Mitte des Korridors.

Sofort öffnete sich der Boden unter ihm, und er verschwand mit einem verzweifelten Schrei. Sein Kamerad, der sich streckte, um ihm nachzusehen, tat ebenfalls einen falschen Schritt, fiel von dem schmalen Sims entlang der Wand und folgte dem anderen in die Tiefe.

»Schlau!«, brummte Kurik. Er ging vorsichtig zum Rand der klaffenden Grube und leuchtete hinein. »Der Boden ist mit spitzen Pflöcken gespickt«, berichtete er, während er auf die zwei Aufgespießten hinunterblickte. »Gehen wir zurück und warnen die anderen. Wir müssen von jetzt an gut aufpassen, wohin wir den Fuß setzen.«

Sie kehrten zum beleuchteten Korridor zurück und trafen auf Ulath und Tynian. Kurik beschrieb die Falle, in welche die zwei Zemocher gestürzt waren. Nachdenklich betrachtete er die Toten und griff nach einem ihrer Speere. »Das waren nicht Adus’ Männer.«

»Woher willst du das wissen?«, fragte Kalten.

»Ritter Bevier hat den Speeren aller, die bei Adus waren, die Spitzen abgeschlagen. Es sind also auch andere Soldaten im Labyrinth – wahrscheinlich kleine Trupps wie der hier. Ich nehme an, sie sind hier, um uns in den Nebengängen in Fallen zu locken.«

»Das ist sehr zuvorkommend von ihnen«, brummte Ulath.

»Ich verstehe Euren Gedankengang nicht, Ritter Ulath.«

»Es sind überall Fallen im Labyrinth, aber wir haben eine Menge Soldaten zur Verfügung, die für uns hineintappen. Wir brauchen uns nur ein paar zu fangen.«

»Einer dieser Silberstreifen am Horizont, wie die Leute sagen?«, fragte Tynian.

»Für uns schon, aber ich glaube nicht, dass die Zemocher, die wir uns schnappen, es so sehen werden.«

»Sind die Soldaten, die uns verfolgen, uns dicht auf den Fersen?«, fragte Kurik ihn.

»Noch nicht.«

Kurik kehrte zum Seitengang zurück und leuchtete mit seiner Fackel hinein. Als er zurückkehrte, lächelte er grimmig. »An den Wänden der Seitengänge gibt es Fackelringe, genau wie hier«, sagte er. »Ich schlage vor, dass wir die Fackeln anders verteilen. Wir sind den Fackeln gefolgt, und die Soldaten sind uns gefolgt. Wenn die Fackeln sie immer wieder in die Seitengänge zu den Fallen führen, werden sie uns dann nicht wesentlich vorsichtiger und langsamer auf den Fersen sein?«

»Ich weiß nicht, wie sie das sehen«, sagte Ulath, »aber ich würde mir bestimmt mehr Zeit lassen.«