Der fackelerleuchtete Korridor war immer noch erfüllt von Kampfgetümmel: Klirren von Stahl auf Stahl, Rufe, Schreie und Stöhnen. Sperber wusste, dass er seinen Freunden zu Hilfe eilen musste, aber er war zu erschüttert und wie gelähmt. Talen kniete neben Kuriks Leiche. Er weinte und hämmerte hilflos mit den Fäusten auf den Steinboden.
»Ich muss gehen«, sagte der große Pandioner schließlich zu dem Jungen.
Talen antwortete nicht.
»Berit«, rief Sperber, »kommt her!«
Der junge Rittergeselle trat mit der Axt in der Hand wachsam aus dem Alkoven.
»Helft Talen«, wies Sperber ihn an. »Bringt Kurik hinein.«
Berit starrte ungläubig auf Kurik.
»Rasch, Junge!«, befahl Sperber scharf. »Und kümmert Euch um Sephrenia!«
»Sperber!«, rief Kalten. »Es kommen noch mehr!«
»Bin schon unterwegs!«, schrie Sperber zurück. Er blickte Talen an. »Ich muss gehen«, sagte er noch einmal.
»Geht nur«, murmelte der Junge. Dann blickte er mit tränenüberströmtem Gesicht und funkelnden Augen wild zu ihm hoch. »Tötet sie alle, Sperber!«, sagte er heftig. »Tötet sie alle!«
Sperber nickte. Das wird Talen ein wenig helfen, dachte er. Zorn war ein gutes Mittel gegen den Schmerz. Er nahm sein Schwert und spürte flammende Wut in seiner Kehle brennen. Er hatte fast Mitleid mit den zemochischen Soldaten, als er sich Kalten anschloss. »Lass mich nach vorn«, verlangte er mit tonloser Stimme. »Verschnauf dich.«
»Besteht noch Hoffnung?«, fragte Kalten, während er einen zemochischen Speer abwehrte.
»Nein.«
»Es tut mir so leid, Sperber.«
Es war ein kleiner Trupp Soldaten, zweifellos eine der Abteilungen, die versucht hatten, die Ritter in einen Seitengang zu locken. Sperber näherte sich ihnen entschlossen. Es würde ihm guttun zu kämpfen. Kämpfen erforderte die volle Aufmerksamkeit und verdrängte alle anderen Gedanken. Rasch bewegte er sich auf das halbe Dutzend Zemocher zu. Es war eine Art ausgleichender Gerechtigkeit. Kurik hatte ihn jede Bewegung, jede technische Feinheit gelehrt, mit der er nun kämpfte, und der ungeheure Grimm über den Tod seines Freundes ließ ihn über sich hinauswachsen. So hatte Kurik Sperber im wahrsten Sinne unschlagbar gemacht. Im Handumdrehen hatte er fünf Soldaten getötet. Der sechste wollte fliehen, doch Sperber nahm sein Schwert rasch in die Schildhand, bückte sich und hob einen zemochischen Speer auf. »Nimm den mit!«, rief er dem Fliehenden nach. Dann warf er ihn zielsicher und traf den Zemocher zwischen den Schulterblättern.
»Guter Wurf«, lobte Kalten.
»Komm, helfen wir Tynian und Ulath.« Sperbers Kampfbesessenheit war noch nicht gestillt. Er führte seinen Freund zurück zu der Biegung im Korridor, wo der alzionische Ritter und sein genidianischer Kamerad die Soldaten aufhielten, die auf Adus’ Brüllen aus dem Thronsaal gestürmt waren.
»Überlasst sie mir«, sagte Sperber ausdruckslos.
»Kurik?«, fragte Ulath.
Sperber schüttelte den Kopf und machte sich wieder daran, Zemocher zu töten. Er stürmte mitten durch sie und ließ Sterbende und Verstümmelte hinter sich, die seine Gefährten von ihren Qualen erlösten.
»Sperber!«, brüllte Ulath. »Haltet ein! Sie fliehen!«
»Beeilt Euch!«, schrie Sperber zurück. »Wir kriegen sie alle!«
»Lasst sie laufen!«
»Nein!«
»Du lässt Martel warten, Sperber«, sagte Kalten scharf. Kalten stellte sich manchmal dumm, doch Sperber erkannte sogleich, wie geschickt sein blonder Freund ihn zur Vernunft gebracht hatte. Vergleichsweise unschuldige Soldaten zu töten, war nicht mehr als unwürdiger Zeitvertreib verglichen mit der Notwendigkeit, ein für alle Mal mit dem weißhaarigen Renegaten abzurechnen.
Er blieb abrupt stehen. »Also gut«, sagte er keuchend, »kehren wir um. Wir müssen ohnehin hinter die Schiebewand zurück, bevor die Soldaten wiederkommen.«
»Fühlt Ihr Euch ein wenig besser?«, fragte Tynian mitfühlend, als sie zum Alkoven zurückschritten.
»Nicht sehr«, brummte Sperber.
Sie kamen an Adus’ Leiche vorbei. »Geht schon voraus«, sagte Kalten. »Ich komme gleich nach.«
Berit und Bevier warteten am Eingang zum Alkoven.
»Habt Ihr sie verjagt?«, fragte Bevier.
»Sperber, ja«, antwortete Ulath. »Er war sehr überzeugend.«
»Werden sie nicht mit Verstärkung zurückkommen?«
»Nur wenn ihre Offiziere sehr lange Peitschen haben.«
Sephrenia hatte Kuriks Leiche wie einen Schlafenden gebettet. Sein Umhang verbarg die grauenvolle Wunde, die ihn das Leben gekostet hatte. Seine Augen waren geschlossen, seine Züge friedlich. Wieder wurde Sperber von ungeheurer Trauer überwältigt. »Gibt es keine Möglichkeit …«, setzte er an, obwohl er die Antwort bereits kannte.
Sephrenia schüttelte den Kopf. »Nein, Lieber. Es tut mir so leid.« Sie saß neben dem Toten und hielt den weinenden Talen in den Armen.
Sperber seufzte. »Wir müssen weiter, zurück zur Treppe, ehe jemand den Entschluss fasst, uns zu folgen.« Er blickte über die Schulter. Kalten eilte auf sie zu. Er trug etwas, das er in einen zemochischen Umhang gewickelt hatte.
»Lasst mich«, bat Ulath. Er bückte sich und hob Kurik auf, als wäre der kräftige Knappe ein Kind. Dann kehrten sie zum Fuß der Treppe zurück, die hinauf in die staubige Dunkelheit führte.
»Schiebt die Wand zurück«, bat Sperber, »und seht nach, ob Ihr irgendetwas findet, mit dem Ihr sie verkeilen könnt.«
»Das geht von oben«, erklärte Ulath. »Wir brauchen nur die Schienen zu blockieren, auf denen sie gleitet.«
Sperber brummte zustimmend und traf einige Entscheidungen. »Bevier«, sagte er bedauernd, »ich fürchte, wir werden Euch hierlassen müssen. Ihr seid schwer verwundet, und ich habe heute schon einen Freund verloren.«
Bevier wollte protestieren, überlegte es sich dann jedoch.
»Talen«, fuhr Sperber fort, »du bleibst hier bei Bevier und deinem Vater.« Er lächelte traurig. »Wir wollen Azash töten , wir haben nicht vor, ihn zu stehlen.«
Talen nickte.
»Und Berit …«
»Bitte, Sperber«, flehte der junge Mann ihn mit Tränen in den Augen an. »Bitte verlangt nicht, dass ich hierbleibe. Ritter Bevier und Talen sind hier sicher, und ich kann vielleicht helfen, wenn wir im Tempel sind.«
Sperber blickte Sephrenia an. Sie nickte. »Na gut«, gab er nach. Er hätte Berit gern gemahnt, vorsichtig zu sein, aber das hätte dem Rittergesellen das Gefühl vermittelt, Sperber habe kein Vertrauen in seine Fähigkeiten, so ließ er es bleiben.
»Gebt mir Eure Streitaxt und Euren Schild, Berit«, bat Bevier mit schwacher Stimme. »Nehmt stattdessen das.« Er reichte Berit seine Lochaber und den brünierten Schild.
»Ich werde sie in Ehren halten, Ritter Bevier«, versicherte Berit.
Kalten war zur hinteren Seite des Raums getreten. »Hier ist ein guter Platz unter der Treppe, Bevier. Es kann nicht schaden, wenn Ihr, Kurik und Talen dort auf uns wartet. Falls es den Soldaten gelingen sollte, durchzubrechen, werden sie Euch nicht gleich auf den ersten Blick bemerken.«
Bevier nickte, als Ulath Kuriks Leiche unter die Treppe trug.
Sperber gab dem Cyriniker die Hand. »Sonst gibt es nicht mehr viel zu sagen, Bevier. Wir werden versuchen, so schnell wie möglich zurückzukommen.«
»Ich bete für Euch, Sperber, für Euch alle.«
Sperber nickte, kniete sich kurz neben Kurik und nahm die Hand seines Knappen. »Ruhe in Frieden, mein Freund«, murmelte er. Dann stieg er ohne einen weiteren Blick zurück die Treppe hinauf.
Die Treppe am hinteren Ende des breiten, geraden Pfades, der sich zwischen den Maulwurfhügeln des Labyrinths erstreckte, war breit und aus Marmor. Hier gab es keine Schiebewand, die einen Raum am Fuß der Treppe verborgen hätte, und kein Labyrinth. Es war keines nötig.
»Wartet hier«, flüsterte Sperber seinen Gefährten zu. »Und löscht die Fackeln.« Er schlich voraus, nahm seinen Helm ab und legte sich auf die oberste Stufe. »Ulath«, murmelte er, »haltet mich an den Füßen. Ich möchte sehen, was uns da unten erwartet.« Während der hünenhafte Thalesier ihn davor bewahrte, rasselnd und klirrend die Treppe hinunterzupoltern, tastete Sperber sich kopfüber in die Tiefe, bis er in den Raum darunter blicken konnte.
Der Azashtempel war ein Ort aus einem Albtraum. Er war, wie die Kuppel bereits verraten hatte, kreisrund, mit einem Durchmesser von gut einer halben Meile. Die runden, gewölbten Wände waren ebenso wie der Boden aus schwarzem Onyx. Sperber war es, als ob er ins Herz der Nacht blickte. Keine Fackeln brannten, aber große Feuer züngelten und prasselten in gewaltigen Eisenbecken. Stufenförmig angeordnete Sitzreihen, ebenfalls glänzend schwarz, führten rundum.
Auf der obersten Tribüne standen in regelmäßigen Abständen meterhohe Statuen von Wesen, von denen die meisten keinerlei Menschenähnlichkeit aufwiesen. Dann erspähte Sperber eine styrische Figur unter ihnen, ein Stück weiter entfernt eine elenische. Ihm wurde bewusst, dass diese Statuen Abbilder der Diener Azashs waren und dass Menschen eine sehr kleine und unbedeutende Rolle in diesem Kreis spielten. Die übrigen Diener hausten an Orten, die zugleich sehr weit entfernt und sehr, sehr nahe waren.
Unmittelbar gegenüber dem Eingang, durch den Sperber spähte, stand das riesige Idol. Menschliche Vorstellungen von einem Gott und alle Versuche der Darstellung müssen letztendlich unbefriedigend bleiben. Ein löwenköpfiger Gott ist nicht wirklich das Abbild eines menschlichen Körpers, dem, um des Unterschieds willen, ein Löwenkopf aufgesetzt wurde. Menschen betrachten das Gesicht als den Sitz der Seele, der Körper ist weitgehend unbedeutend. Die Ikone eines Gottes soll kein getreues Abbild sein, und das Gesicht der Ikone soll den Geist des Gottes charakterisieren und nicht eine genaue Wiedergabe seiner wahren Züge darstellen. Das Gesicht des Idols, das in dem schwarzen Tempel von hoch oben herabschaute, offenbarte jedes erdenkliche menschliche Laster: Lüsternheit, Gier, Fresssucht, aber auch andere Eigenschaften, für die es in keiner menschlichen Sprache einen Namen gab. Das Gesicht verriet, dass Azash nach Dingen gierte – ja, sie brauchte –, die über das menschliche Begreifen hinausgingen. Die Züge verrieten ewige Unzufriedenheit. Es war das Gesicht eines Wesens mit ungeheuren Begierden, die nicht befriedigt wurden – nicht befriedigt werden konnten. Die Lippen waren verzogen, die Augen düster und grausam.
Sperber riss den Blick von dieser Fratze. Sie zu lange zu betrachten, mochte die Seele kosten.
Der Körper war nicht ausgeformt. Man konnte den Eindruck gewinnen, den Bildhauer hätten das Gesicht und alles, was es ausdrückte, so überwältigt, dass er den Rest der Figur nur noch grob darzustellen vermochte. Da gab es, wie bei einer Spinne, eine größere Zahl von Gliedmaßen, die aus breiten Schultern wuchsen. Der Oberkörper war leicht zurückgelehnt, die Hüften obszön nach vorn geschoben, doch das, was der Blickpunkt dieser eindeutigen Pose hätte sein sollen, fehlte. Stattdessen befand sich an seiner Stelle eine glatte, faltenlose Oberfläche, die glänzte und ein wenig wie eine Brandnarbe aussah. Sperber erinnerte sich an die Worte, die Sephrenia dem Gott – während der Auseinandersetzung mit dem Sucher am Nordende des Vennesees – entgegengeschleudert hatte. Entmannt, hatte sie ihn genannt. Sperber vermied es, über die mögliche Art und Weise nachzugrübeln, derer sich die Jüngeren Götter bedient haben mussten, um ihren älteren Verwandten zu kastrieren. Ein fahlgrüner Schimmer ging von dem Idol aus, ein Glühen ähnlich dem, das vom Gesicht des Suchers ausgegangen war.
Auf dem kreisrunden schwarzen Boden, tief unten im fahlgrünen Schein, der vom Altar hinabfiel, fand eine Zeremonie statt. Sperber scheute voller Ekel davor zurück, diese Zeremonie einen religiösen Ritus zu nennen. Die Götzendiener hüpften nackt vor dem Idol herum. Sperber war kein weltfremder Mönch, doch das Ausmaß der Perversionen, die mit diesem Ritual einhergingen, drehte ihm den Magen um. Die Orgie, welcher sich die primitiven elenischen Zemocher in den Bergen mit so viel Begeisterung hingegeben hatten, war im Vergleich mit diesen Abscheulichkeiten geradezu arglos gewesen. Diese Teilnehmer versuchten offenbar, die Perversitäten nichtmenschlicher Kreaturen nachzuahmen, und ihre stieren Blicke und ruckhaften Bewegungen ließen keinen Zweifel daran, dass sie die Zeremonie fortsetzen würden, bis sie vor Erschöpfung an ihren Ausschweifungen starben. Die unteren Zuschauerreihen waren dicht mit Grüngewandeten besetzt, die einen stöhnenden, misstönenden Gesang anstimmten – ein leeres Leiern, ohne jegliche Empfindung.
Plötzlich lenkte eine flüchtige Bewegung Sperbers Aufmerksamkeit auf sich, und er blickte rasch nach rechts. Eine kleinere Gruppe Personen saß auf der obersten Tribüne gut hundert Meter entfernt unterhalb einer leprösen weißen Statue, die ein albtraumhaftes Etwas darstellte, das aus den Tiefen des Wahnsinns stammen musste.
Eine dieser Personen hatte weißes Haar.
Sperber drehte sich und winkte Ulath, ihn wieder hinaufzuziehen.
»Und?«, fragte Kalten.
»Es ist ein einziger großer Raum«, flüsterte Sperber. »Das Idol befindet sich an der hinteren Seite, und breite Tribünen führen hinab zu dem kreisrunden Boden in der Mitte.«
»Was sind das für eigenartige Geräusche?«, fragte Tynian.
»Dort unten findet ein Ritual statt. Ich glaube, das Leiern gehört dazu.«
»Ihre Religion interessiert mich nicht«, brummte Ulath. »Sind Soldaten dort unten?«
Sperber schüttelte den Kopf.
»Sehr gut. Ist das alles?«
»Nein. Ein wenig Magie würde jetzt helfen, Sephrenia. Martel und die anderen sitzen auf der obersten Tribünenreihe, etwa hundert Schritte rechts von der Treppe. Wir müssen erfahren, worüber sie reden. Sind wir nahe genug, dass Euer Zauber wirkt?«
Sie nickte. »Wir müssen uns ein Stück von der Treppe zurückziehen«, meinte sie. »Der Zauber verursacht ein wenig Licht. Sie könnten auf uns aufmerksam werden.«
Sie kehrten ein Stück auf dem staubigen Pfad zurück. Sephrenia ließ sich von Berit Ritter Beviers polierten Schild geben. »So müsste es gehen«, murmelte sie. Sie wirkte den Zauber und gab ihn frei. Die Gefährten, die sich um den plötzlich aufglühenden Schild geschart hatten, sahen nun auf seiner spiegelgleichen Oberfläche leicht verschwommene Gestalten. Ihre Stimmen klangen ein wenig blechern, waren jedoch zu verstehen.
»Eure Versicherung, dass Ihr mit meinem Gold diesen Thron erringen könnt, der Euch die Macht geben würde, uns unseren gemeinsamen Zielen ein gutes Stück näher zu bringen, war nur leeres Geschwafel, Annias«, polterte Othas gurgelnde Stimme.
»Daran ist wieder nur Sperber schuld, Majestät«, versuchte Annias, sich in beinahe kriecherischem Tonfall zu entschuldigen. »Er mischte sich ein – wie wir befürchteten.«
»Sperber!« Otha stieß eine obszöne Verwünschung aus und schlug die Faust auf die Lehne seiner thronähnlichen Sänfte. »Die Existenz dieses Mannes zerfrisst meine Seele. Sein Name verursacht mir Schmerzen. Ihr solltet ihn von Chyrellos fernhalten, Martel! Warum habt Ihr mich und meinen Gott so sehr enttäuscht?«
»Das habe ich nicht, Majestät«, erwiderte Martel ruhig, »und auch Annias nicht. Seine Exzellenz auf den Thron zu setzen, war lediglich ein Mittel zum Zweck. Wir haben unser Ziel erreicht! Bhelliom befindet sich unter diesem Dach. Der Plan, Annias zu erheben, damit er die Elenier zwingen könnte, uns den Stein zu übergeben, war voll Unwägbarkeiten. Auf diese Weise kamen wir viel schneller und direkter zum Erfolg. Azash will Ergebnisse, Majestät. Erfolg oder Misserfolg der einzelnen Schritte interessieren ihn nicht.«
Otha brummte. »Vielleicht«, räumte er ein. »Aber Bhelliom ist noch nicht in der Hand unseres Gottes. Er befindet sich immer noch bei diesem Sperber. Ihr habt ihm ganze Armeen in den Weg gestellt, doch er hat sie mühelos besiegt. Unser Gebieter hat ihm Diener entgegengesandt, schrecklicher als der Tod, um ein Ende mit ihm zu machen, doch er lebt immer noch.«
»Sperber ist auch nur ein Mensch«, warf Lycheas mit seiner quengeligen Stimme ein. »Sein Glück kann nicht ewig währen!«
Otha bedachte Lycheas mit einem Blick, der ihm den Tod verhieß. Rasch legte Arissa die Arme um ihres Sohnes Schultern und öffnete den Mund, um etwas zu seiner Verteidigung zu sagen, doch Annias schüttelte hastig warnend den Kopf.
»Ihr habt Euch selbst besudelt, als Ihr Euren Bastard anerkannt habt, Annias!«, sagte Otha voll abgrundtiefer Verachtung.
Er machte eine Pause und ließ den Blick über die Versammelten schweifen. »Kann es denn keiner von euch verstehen? «, brüllte er plötzlich. »Dieser Sperber ist Anakha, der Unbekannte. Das Schicksal eines jeden Menschen ist deutlich erkennbar – aller Menschen, außer Anakha. Anakha bewegt sich außerhalb des Schicksals. Selbst die Götter fürchten ihn. Er und Bhelliom sind auf eine Weise miteinander verbunden, die weder die Menschen noch die Götter dieser Welt zu verstehen vermögen, und die Göttin Aphrael dient ihnen. Wir wissen nicht, weshalb. Dass Bhelliom Sperber nur widerstrebend gehorcht, ist unser einziger Schutz. Sollte es je dazu kommen, dass Bhelliom ihm gern zu Willen ist, wird Sperber zum Gott.«
»Aber er ist noch kein Gott, Majestät.« Martel lächelte. »Er sitzt in Eurem Labyrinth fest, und er wird seine Gefährten nie zurücklassen, um uns allein anzugreifen. Sperber ist berechenbar. Deshalb sind Annias und ich für Azash so wichtig. Wir kennen Sperber, und wir wissen, was er tun wird.«
»Und habt ihr auch gewusst, dass er so weit kommen würde?«, höhnte Otha. »Habt ihr gewusst, dass er uns hier alle bedrohen würde – selbst unseren Gott?«
Martel blickte zu den obszön hüpfenden Gestalten hinunter. »Wie lange dauert das noch?«, fragte er. »Wir brauchen Rat von Azash, und solange es nicht zu Ende ist, wird er uns keine Aufmerksamkeit schenken.«
»Das Ritual wird bald sein Ende finden«, versicherte ihm Otha. »Die Teilnehmer sind bereits zu Tode erschöpft. Sie werden in Kürze sterben.«
»Gut. Dann können wir mit unserem Gebieter sprechen. Auch er befindet sich in Gefahr.«
»Martel!«, rief Otha plötzlich erschrocken. »Sperber ist aus dem Labyrinth ausgebrochen und bereits auf dem Weg zum Tempel!«
»Ruft Männer, ihn aufzuhalten«, bellte Martel.
»Das habe ich, doch Sperbers Vorsprung ist zu groß. Er wird uns erreichen, bevor sie ihn einholen können.«
»Wir müssen Azash sofort darauf aufmerksam machen!«, sagte Annias schrill.
»Diesen Ritus zu unterbrechen, bedeutet den Tod!«, entgegnete Otha.
Martel richtete sich auf und griff nach seinem prächtigen Helm, den er unter den Arm geklemmt hatte. »Dann liegt es jetzt wohl an mir«, murmelte er düster.
Sperber hob den Kopf. Entfernt, aus der Richtung des Palasts, war das Krachen von Rammen gegen eine Steinwand zu hören. »Das genügt«, wandte er sich an Sephrenia. »Es ist so weit. Otha hat Soldaten gerufen. Sie sind bereits dabei, die Wand zur Kammer am Fuß der Treppe einzubrechen.«
»Ich hoffe, Bevier und Talen konnten sich gut genug verstecken, dass sie von den Hineinstürmenden nicht gesehen werden«, sagte Kalten.
»Bestimmt«, erwiderte Sperber. »Bevier weiß, was er tut. Wir müssen jetzt in den Tempel hinunter. Dieser Dachboden – oder wie immer man es nennen will – ist zu ungeschützt. Wenn wir hier kämpfen, können die Soldaten von allen Seiten auf uns einstürmen.« Er blickte zu Sephrenia. »Gibt es eine Möglichkeit, die Treppe hinter uns zu blockieren?«, fragte er sie.
Sephrenia kniff die Augen zusammen. »Ich denke schon«, antwortete sie.
»Ihr scheint nicht ganz davon überzeugt zu sein.«
»Doch, das schon. Ich kann die Treppe auch ohne große Mühe blockieren, aber ich bin mir nicht sicher, ob Otha nicht vielleicht den Gegenzauber kennt.«
»Er wird aber nicht wissen, dass Ihr die Treppe versperrt habt, ehe seine Soldaten da sind und es herausfinden, oder?«, fragte Tynian.
»Das stimmt. Sehr gut, Tynian.«
»Laufen wir über die oberste Tribünenreihe bis zum Idol?«, fragte Kalten.
»Das geht nicht«, erwiderte Sephrenia. »Otha ist ein Magier, wie Ihr wisst. Er würde uns bei jedem Schritt mit Zauber bombardieren. Wir werden uns erst um ihn kümmern müssen.«
»Und um Martel«, fügte Sperber hinzu. »Wir wissen nun, dass Otha es nicht wagt, Azash zu stören, solange dieser Ritus nicht zu Ende ist. Das ist unser Vorteil. Das einzige Problem ist Otha selbst. Können wir etwas gegen ihn ausrichten, Sephrenia?«
Sie nickte. »Otha ist nicht mutig. Wenn wir ihn bedrohen, wird er seine Kräfte zu seinem eigenen Schutz nützen. Er wird sich darauf verlassen, dass die Soldaten aus dem Palast mit uns fertig werden.«
»Dann versuchen wir es«, bestimmte Sperber. »Alle bereit?«
Sie nickten.
»Seid vorsichtig«, mahnte er. »Und ich möchte keine Einmischung, wenn ich mir Martel vornehme. Also, gehen wir’s an!«
Sie traten ans Kopfende der Treppe, hielten kurz inne, holten fast gleichzeitig alle tief Luft, dann marschierten sie mit gezückten Waffen die Stufen hinunter.
»Ah, da bist du ja, alter Junge«, sagte Sperber schleppend zu Martel und imitierte die Unbekümmertheit des weißhaarigen Renegaten. »Ich hab dich überall gesucht.«
»Ich bin schon eine ganze Weile hier, Sperber«, erwiderte Martel und zog sein Schwert.
»Das sehe ich. Ich muss wohl irgendwo verkehrt abgebogen sein. Ich hoffe, ich komme nicht zu spät.«
»Aber nein.«
»Da bin ich froh. Ich verspäte mich gar nicht gern.« Sperber ließ den Blick über die Anwesenden wandern. »Gut. Ich sehe, dass wir alle hier sind.« Den Primas von Cimmura betrachtete er etwas eingehender. »Wirklich, Annias, Ihr solltet ein wenig mehr in die Sonne gehen. Ihr seid so weiß wie ein Laken.«
»Einen Moment noch, ehe ihr beiden anfangt«, warf Kalten ein. »Ich habe dir etwas mitgebracht, Martel. Ein kleines Andenken an unseren Besuch. Ich bin sicher, du wirst es in Ehren halten.« Er bückte sich leicht und gab dem Umhang, den er mit einer Hand festhielt, einen Stups. Der Umhang öffnete sich auf dem Onyxboden. Adus’ Kopf rollte heraus und direkt vor Martels Füße, wo er liegen blieb und ihn anstarrte.
»Wie freundlich von dir, Kalten«, knirschte Martel mit zusammengebissenen Zähnen. Scheinbar gleichmütig stieß er den Schädel mit dem Fuß zur Seite. »Ich bin sicher, dieses Geschenk hat dich viel gekostet.«
Sperbers Faust krampfte sich um seinen Schwertgriff. Er kochte vor Hass. »Dieses Geschenk hat mich Kurik gekostet, Martel«, sagte er kalt. »Jetzt ist es Zeit, abzurechnen.«
Martels Augen weiteten sich flüchtig. »Kurik?«, sagte er betroffen. »Das hatte ich nicht erwartet. Es tut mir ehrlich leid, Sperber. Ich mochte ihn. Wenn du je wieder nach Demos kommst, dann versichere Aslade, wie sehr ich es bedauere.«
»Das werde ich nicht tun, Martel. Ich habe nicht vor, Aslade durch die Erwähnung deines Namens zu beleidigen. Und nun lass uns endlich beginnen!« Sperber hob den Schild und trat vorwärts. Seine Schwertspitze bewegte sich langsam hin und her wie der Kopf einer Schlange. Kalten und die anderen stützten ihre Waffen auf und schauten grimmig zu.
»Ah, ein Ritter bis zuletzt?« Martel setzte seinen Helm auf und entfernte sich von Othas Sänfte, um größere Bewegungsfreiheit zu haben. »Deine guten Manieren und deine Anständigkeit werden noch dein Tod sein, Sperber. Du hattest die Oberhand. Das hättest du nutzen sollen.«
»Nicht nötig, Martel. Du hast noch eine Minute, um zu bereuen. Ich rate dir, nutze die Zeit.«
Martel lächelte dünn. »Nein, Sperber. Ich habe meine Wahl getroffen. Es wäre unter meiner Würde, dies jetzt zu bedauern.« Er klappte das Visier zu.
Sie griffen gleichzeitig an. Ihre Schwerter dröhnten auf die Schilde. Kurik hatte sie als Knaben gemeinsam ausgebildet; so konnte keiner der beiden durch eine List oder Finte einen Vorteil gewinnen. Sie waren einander im Kampf so ebenbürtig, dass niemand vorhersagen konnte, wer aus diesem Zweikampf, der seit über einem Jahrzehnt unausbleiblich war, als Sieger hervorgehen würde.
Mit den ersten Hieben schätzten sie einander ab, ihre Technik, ihre Stärke. Ein kampfunerfahrener Beobachter hätte es vielleicht für wütendes und planloses aufeinander Eindreschen halten können, aber das war es nicht. Keiner der beiden war so in Wut, dass er zu viel gewagt und sich eine Blöße gegeben hätte. Sie hieben große Dellen in die Schilde, und jedes Mal, wenn ihre Schwertklingen aufeinandertrafen, sprühten Funken.
Hin und her ging der Kampf, wobei die Gegner sich langsam von dem Platz entfernten, wo Othas edelsteinbesetzte Sänfte abgestellt war, und wo Annias, Arissa und Lycheas mit weit aufgerissenen Augen und angehaltenem Atem standen und zuschauten. Auch das war Teil von Sperbers Strategie. Er musste Martel weit genug von Otha weglocken, dass Kalten und die anderen an den aufgedunsenen Kaiser herankamen. Um das zu erreichen, wich er dann und wann ein wenig zurück und vergrößerte auf diese Weise unauffällig die Entfernung zwischen Martel und seinen Freunden.
»Du wirst offenbar alt, Sperber«, stieß Martel keuchend aus und hämmerte auf den Schild seines einstigen Freundes ein.
»Nicht mehr als du, Martel.« Sperbers heftiger Hieb brachte seinen Gegner zum Stolpern.
Kalten, Ulath und Tynian, gefolgt von Berit, der Ritter Beviers furchtbare Lochaber schwang, fächerten aus und näherten sich Otha und Annias. Der aufgeschwemmte Otha bewegte einen Arm, und eine schimmernde Barriere bildete sich um seine Sänfte und Martels Gefährten.
Sperber spürte ein leichtes Prickeln im Nacken und wusste, dass Sephrenia nun dabei war, mit ihrem Zauber die Treppe zu blockieren. Er stürmte auf Martel ein und schwang sein Schwert, so flink er konnte, um seinem weißhaarigen Gegner keine Chance zu geben, dieses schwache, vertraute Gefühl zu spüren, das immer den Zauber eines Freundes begleitete. Sephrenia hatte Martel ausgebildet, er würde sofort die richtigen Schlüsse ziehen.
Der Kampf tobte weiter. Sperber keuchte und schwitzte, und sein Schwertarm begann zu erlahmen. Er machte einen Schritt rückwärts und senkte sein Schwert ein wenig, um auf traditionelle, wortlose Weise vorzuschlagen, eine kurze Verschnaufpause einzulegen. Ein solcher Vorschlag wurde nie als Zeichen der Schwäche erachtet.
Martel zeigte, ebenfalls durch leichtes Senken seines Schwertes, sein Einverständnis an. »Fast wie in alten Zeiten, Sperber«, sagte er und schob sein Visier hoch.
»Fast«, bestätigte Sperber. »Du hast ein paar neue Tricks gelernt.« Auch er öffnete sein Visier.
»Ich war zu lange in Lamorkand. Die lamorkische Fechtkunst ist ziemlich plump. Deine Technik kommt mir ein wenig rendorisch vor.«
»Zehn Jahre Exil in Rendor.« Sperber zuckte mit den Schultern und atmete tief ein und aus.
»Vanion würde uns beiden das Fell abziehen, wenn er uns so aufeinander eindreschen sähe.«
»Schon möglich. Vanion ist Perfektionist.«
»Ganz und gar!«
Keuchend standen sie da und starrten einander an, und jeder wartete auf das fast unmerkliche Verengen der Augen des anderen, das einem Überraschungsangriff vorhergehen würde. Sperber spürte, wie der Schmerz sich aus seiner rechten Schulter löste. »Bist du bereit?«, fragte er schließlich.
»Wann immer du es bist.«
Sie schlossen klirrend ihre Visiere und nahmen den Kampf wieder auf.
Martel eröffnete mit einer komplexen, längeren Serie von Schwerthieben. Diese Serie war wohlbekannt, denn es war eine der ältesten, und der Ausgang war unvermeidbar. Sperber führte Schwert und Schild in der erlernten Abwehr, aber er wusste seit Martels erstem Hieb, dass er einem betäubenden Schlag auf den Kopf nicht entrinnen konnte. Kurik hatte jedoch nicht lange nach Martels Ausschluss aus dem Orden eine Verbesserung am pandionischen Helm vorgenommen, und als der Renegat nun seinen mächtigen Schlusshieb gegen Sperbers Kopf führte, senkte Sperber sein Kinn, um den Schlag voll mit dem Kamm des Helmes aufzufangen, den Kurik wesentlich verstärkt hatte. Dennoch klangen ihm die Ohren, und seine Knie gaben ein wenig nach. Er war jedoch in der Lage, den nachfolgenden Hieb zu parieren, der vielleicht sein Ende bedeutet hätte.
Martels Reaktionen schienen irgendwie langsamer zu sein, als Sperber in Erinnerung hatte. Und seine eigenen Hiebe hatten wohl auch nicht mehr den frischen Schwung der Jugend. Sie waren beide älter, und ein längerer Zweikampf mit einem vollkommen ebenbürtigen Gegner lässt keinen Zweifel daran.
Urplötzlich griff Sperber ungestüm an; Gedanken und Handeln waren eins. Er hieb eine Serie von Schlägen von oben herab auf Martels Kopf, sodass der Renegat gezwungen war, sich mit Schwert und Schild zu schützen. Diesen Angriff auf den Kopf beendete Sperber mit dem traditionellen Stoß in den Körper. Martel wusste natürlich, dass dieser Stoß kommen würde, doch er konnte seinen Schild einfach nicht rasch genug bewegen. Die Spitze von Sperbers Klinge durchbohrte die Rüstung an der rechten Brustseite und drang tief in den Körper. Martel erstarrte, dann hustete er einen Schwall von Blut durch die Visierschlitze. Schwach versuchte er, Schild und Schwert oben zu halten, aber seine Hände zitterten heftig. Seine Beine zuckten. Das Schwert fiel ihm aus der Hand, und der Schild sank hinab. Wieder hustete er, es war ein gurgelnder Laut. Blut quoll aus seinem Visier, und er sackte mit dem Gesicht nach unten zusammen. »Mach ein Ende, Sperber«, krächzte er.
Sperber rollte ihn mit dem Fuß auf den Rücken. Er hob sein Schwert, doch dann senkte er es wieder und kniete sich neben den Sterbenden. »Das ist nicht nötig«, sagte er leise, während er Martels Visier öffnete.
»Wie ist dir das gelungen?«, fragte Martel.
»Es liegt an deiner neuen Rüstung. Sie ist zu schwer. Dadurch bist du müde und immer langsamer geworden.«
»Ich hätte es wissen müssen …«, Martel bemühte sich, flach zu atmen, damit ihm das Blut, das seine Lunge rasch füllte, nicht in die Kehle drang, »… dass mich meine Eitelkeit eines Tages umbringt!«
Sperber schwieg.
»Es war ein guter Kampf.«
»Ja.«
»Und wir haben endlich herausgefunden, wer von uns der Bessere ist. Vielleicht ist jetzt der Augenblick, die Wahrheit zu sagen. Ich habe immer gewusst, dass ich unterliegen würde.«
Sperber lauschte Martels Atem, der immer schwächer wurde. »Lakus ist tot, hast du das gewusst?«, fragte er leise. »Und Olven.«
»Lakus und Olven? Nein, das habe ich nicht gewusst. War es irgendwie meine Schuld?«
»Nein. Es war etwas anderes.«
»Das ist wenigstens ein kleiner Trost. Könntest du Sephrenia für mich rufen, Sperber? Ich möchte ihr gern Lebewohl sagen.«
Sperber hob den Arm und winkte der Frau zu, die sie beide ausgebildet hatte.
Tränen glänzten in ihren Augen, als sie sich Sperber gegenüber neben Martel kniete. »Ja, Lieber?«, sagte sie zu dem Sterbenden.
»Ihr habt immer gesagt, ich würde ein schlimmes Ende nehmen, kleine Mutter.« Martels Stimme war jetzt nur noch ein schwaches Flüstern. »Aber Ihr habt Euch getäuscht. Es ist gar nicht so schlimm. Es ist fast wie auf einem feierlichen Totenbett. Ich darf in der Gegenwart der beiden einzigen Menschen sterben, die ich je wirklich geliebt habe. Würdet Ihr mir Euren Segen geben, kleine Mutter?«
Sie legte sanft die Hände auf sein Gesicht und sprach leise in Styrisch. Dann beugte sie sich weinend über ihn und küsste seine bleiche Stirn.
Als sie ihr Gesicht wieder hob, war er tot.