Sperber erhob sich und half Sephrenia auf.
»Ist alles in Ordnung mit Euch, Lieber?«, flüsterte sie.
»Es geht mir gut.« Sperber starrte Otha durchdringend an.
»Meinen Glückwunsch, Herr Ritter«, sagte Otha ironisch. Das Feuer spiegelte sich auf seinem schweißglänzenden Schädel. »Und ich danke Euch. Ich habe lange über das Problem Martel nachgedacht. Mir deucht, er begann seine Bedeutung zu überschätzen. Er ist ganz und gar entbehrlich für mich geworden, nun da Ihr mir Bhelliom gebracht habt. Ihr habt mich von Martels Gegenwart befreit.«
»Betrachtet es als Abschiedsgeschenk, Otha.«
»Ach? Geht Ihr fort von hier?«
»Nein, aber Ihr.«
Otha lachte. Es war ein abstoßender Laut.
»Er hat Angst, Sperber«, flüsterte Sephrenia. »Er ist nicht sicher, ob Ihr den magischen Schild durchbrechen könnt.«
»Kann ich es?«
»Das weiß ich nicht. Er ist jetzt verwundbar, weil Azashs ganze Aufmerksamkeit dem Ritus gilt.«
»Dann ist jetzt der günstigste Augenblick.« Sperber holte tief Atem und ging auf den fetten Kaiser von Zemoch zu.
Otha zuckte zusammen und gab seinen halb nackten Sklaven ein Zeichen. Die Männer hoben die Sänfte, in der Otha mehr lag als saß, und setzten sich damit die Treppe hinunter in Bewegung, auf die Onyxfläche zu, wo die Nackten zuckend, erschöpft und mit leeren Gesichtern noch immer ihr abstoßendes Ritual vollzogen. Annias, Arissa und Lycheas begleiteten ihn. Ihre Augen verrieten nackte Angst, während sie sich so dicht wie möglich an die Sänfte hielten, um nur ja innerhalb der zweifelhaften Sicherheit des glühenden Schutzschildes zu bleiben. Auf dem Onyxboden angelangt, brüllte Otha den grün gewandeten Priestern irgendetwas zu. In geistloser Ergebenheit rannten sie herbei und zogen Waffen aus ihrer Kleidung hervor.
Sperber hörte plötzlich verärgerte Aufschreie hinter ihnen. Die Soldaten, die ihrem Kaiser zur Hilfe kommen wollten, waren gegen Sephrenias Barriere geprallt. »Wird sie halten?«, fragte er die Styrikerin.
»Ja. Es sei denn, einer der Soldaten ist stärker als ich.«
»Das ist nicht sehr wahrscheinlich. Dann haben wir es nur mit den Priestern zu tun.« Er blickte seine Freunde an. »Meine Herren«, forderte er sie auf, »nehmen wir Sephrenia in die Mitte und bahnen uns einen Weg!«
Die Azashpriester trugen keine Rüstung, und die Art, wie sie ihre Waffen führten, bewies wenig Gewandtheit. Sie waren zum größten Teil Styriker, und das plötzliche Erscheinen der feindlichen Ordensritter inmitten ihres höchsten Heiligtums hatte sie verwirrt und erfüllte sie mit Entsetzen.
Sperber erinnerte sich daran, dass Sephrenia einmal gesagt hatte, Styriker würden nur langsam und nicht immer richtig reagieren, wenn sie überrascht werden. Er spürte ein schwaches Prickeln, während er und seine Freunde die Treppe zwischen den Tribünenreihen hinunterschritten. Es verriet ihm, dass einige Priester versuchten, einen Zauber zu wirken. Er stieß einen elenischen Schlachtruf aus, ein raues Brüllen voll Kampfeslust und Blutdurst. Das Prickeln schwand.
»Macht so viel Lärm, wie Ihr könnt!«, rief er seinen Freunden zu. »Verwirrt sie so sehr, dass sie keine Magie wirken können!«
Die Ordensritter stürmten waffenschwingend und mit kriegerischen Schreien die schwarzen Stufen hinunter. Die Priester wichen verstört zurück, als die Ritter grimmig vor ihnen standen.
Berit drängte sich, Ritter Beviers Lochaber schlagbereit in den Fäusten, an Sperber vorbei. Seine Augen blitzten verwegen. »Spart Eure Kraft, Sperber«, sagte er rau, denn er bemühte sich, tiefer und männlicher zu sprechen. Dann trat er entschlossen vor den verblüfften Sperber und schritt hinein in die grün gewandeten Reihen. Dabei schwang er die Streitaxt wie eine Sense.
Sperber streckte den Arm aus, um ihn zurückzuzerren, doch Sephrenia legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Nein, Sperber! Das ist wichtig für ihn, und er befindet sich in keiner großen Gefahr.«
Otha hatte den spiegelblank glänzenden Altar vor dem Idol erreicht und starrte mit vor Angst offenem Mund auf den blutigen Kampf hinab. Dann richtete er sich auf. »So kommt denn, Sperber!«, rief er dröhnend. »Mein Gott wird ungeduldig.«
»Das bezweifle ich, Otha«, rief Sperber zurück. »Azash will Bhelliom, aber er will nicht, dass ich ihn bringe, weil er nicht weiß, was ich damit tun werde.«
»Sehr gut, Sperber«, murmelte Sephrenia. »Nutzt Euren Vorteil. Azash wird Othas Unsicherheit spüren, und dieses Gefühl wird auch ihn ergreifen.«
Der Tempel hallte vom Lärm der Hiebe und Schreie, von Ächzen und Stöhnen wider, als Sperbers Freunde die Priester niederstreckten und sich einen Weg durch ihre dichten Reihen zum Fuß der ersten Tribüne unterhalb des Altars bahnten.
Trotz Kuriks Tod verspürte Sperber ein Hochgefühl. Er hatte nicht damit gerechnet, so weit vorzudringen, und dass er – unerwarteterweise – noch lebte, verlieh ihm ein euphorisches Gefühl der Unbesiegbarkeit. »Nun, Otha«, er blickte die Stufen zwischen den Tribünen zu dem aufgedunsenen Kaiser hinauf, »warum erweckt Ihr Azash nicht? Lasst uns sehen, ob die Älteren Götter ebenso gut zu sterben verstehen wie die Menschen!«
Otha starrte ihn offenen Mundes an; dann plagte er sich aus seiner Sänfte und sank zu Boden, da seine schwächlichen Beine ihn nicht zu tragen vermochten. »Kniet!«, schrie er Annias an. »Kniet und betet zu unserem Gott um Errettung!« Die Furcht, dass seine Soldaten nicht in den Tempel gelangen konnten, ließ Othas unförmigen Körper zittern.
»Kalten«, rief Sperber seinem Freund zu, »macht die Priester nieder und sorgt dafür, dass die Soldaten uns nicht in den Rücken fallen!«
»Das ist nicht nötig, Sperber«, versicherte Sephrenia.
»Ich weiß, aber dadurch sind sie aus dem Weg und kommen nicht zu Schaden«, antwortete Sperber leise. Er holte tief Atem. »Also los.« Er schlüpfte aus den Rüsthandschuhen, klemmte die Schwertklinge unter den Arm und nahm den Kettenbeutel vom Gürtel. Er öffnete den Draht, der als Verschluss diente, und schüttelte Bhelliom auf seine Handfläche. Der Stein brannte heiß auf seiner Haut, und Licht flackerte wie Wetterleuchten in einer Sommernacht zwischen den Blütenblättern. »Blaurose!«, sagte er scharf. »Du musst tun, was ich befehle!«
Otha, der halb kniete, halb kauerte, stammelte ein Gebet zu seinem Gott – ein Gebet, das durch sein Zähneklappern beinahe unverständlich war. Annias, Lycheas und Arissa knieten sich nieder und blickten zu der grässlichen Fratze des Idols über ihnen empor. Grauen war in ihren Augen, als sie den Gott, für den sie sich so bereitwillig entschieden hatten, leibhaftig vor sich hatten.
»Azash!«, flehte Otha. »Erwache! Erhöre das Gebet deiner Diener!«
Die tief liegenden geschlossenen Augen des Idols öffneten sich langsam, und grünliches Feuer loderte in ihnen. Sperber spürte, wie Woge um Woge schierer Bosheit aus diesen Augen auf ihn zurollte. Er war wie betäubt und gelähmt durch die übermächtige Erscheinung des grässlichen Gottes.
Das Idol bewegte sich! Eine Welle lief den Körper hinab, und die Tentakelarme griffen geschmeidig nach vorn – nach dem glühenden Stein in Sperbers Hand, dem einzigen Gegenstand auf der Welt, der Hilfe und Freiheit verhieß.
»Nein!« Sperbers Stimme war ein raues Schnarren. Er hob das Schwert über den Stein. »Ich vernichte ihn!«, drohte er. »Und dich mit ihm!«
Das Idol schien zurückzuzucken, seine Augen füllten sich mit plötzlicher Bestürzung. »Warum hast du diesen unwissenden Wilden zu mir gebracht, Sephrenia?« Die Stimme klang hohl und hallte im Tempel wider. Sperber wusste, dass Azashs Geist ihn binnen eines Herzschlags vernichten konnte, doch aus irgendeinem Grund schien Azash Angst zu haben, seine Kräfte gegen diesen unwägbaren Mann zu richten, der die Saphirrose mit blankem Schwert bedrohte.
»Ich gehorche nur meiner Bestimmung, Azash«, antwortete Sephrenia ruhig. »Ich wurde geboren, um Sperber hierher vor dein Angesicht zu bringen.«
»Und was ist Sperbers Bestimmung? Weißt du, wozu er bestimmt ist?« Die Verzweiflung in Azashs Stimme war unüberhörbar.
»Das weiß weder Mensch noch Gott, Azash«, erwiderte Sephrenia. »Sperber ist Anakha. Alle Götter haben von dem einen Tag gewusst und ihn gefürchtet – jenen Tag, da Anakha durch die Welt wandert, zu einem Ziel, das niemand kennt. Ich bin die Dienerin seiner Bestimmung, was immer sie sein mag, und habe ihn hierhergebracht, damit er dieses Ziel erreichen kann.«
Das Idol schien sich zu straffen; dann peitschte ein unwiderstehlicher magischer Befehl durch den Tempel, machtvoll und zwingend. Doch dieser Befehl war nicht an Sperber gerichtet.
Sephrenia keuchte und schien wie eine Blume im ersten Frost zu welken. Sperber spürte, wie ihre Entschlossenheit schwand. Sie schwankte, als Azashs mächtiger Geist ihre Verteidigung durchbrach.
Er spannte die Muskeln an und hob das Schwert. Wenn Sephrenia fiel, wären sie verloren, und er wusste nicht, ob dann noch genug Zeit bleiben würde, den letzten, alles entscheidenden Streich zu führen. Er beschwor Ehlanas Gesicht vor sein inneres Auge und packte den Schwertgriff fester.
Der Laut war für niemanden außer Sperber zu hören. Das wusste er. Es war der durchdringende, befehlende Klang einer Hirtenflöte, der plötzlich durch den Tempel drang.
»Aphrael!« , rief er voller Erleichterung.
Ein winziger Funke, gleich einem Glühwürmchen, erschien vor seinem Gesicht. »Endlich!«, fauchte Flöte zornig. »Warum hast du so lange gebraucht, Sperber? Hast du nicht gewusst, dass du mich rufen musst?«
»Nein. Das wusste ich nicht. Bitte, hilf Sephrenia!«
Da war keine Berührung, keine Bewegung, kein Laut, doch Sephrenia richtete sich auf und strich sich leicht über die Stirn, als die flammenden Augen des Idols sich auf den Funken richteten.
»Meine Tochter«, grollte Azash, »willst du das Los dieser Sterblichen teilen?«
»Ich bin nicht deine Tochter, Azash«, entgegnete Flöte. »Ich habe mich selbst erschaffen, wie auch meine Brüder und Schwestern, als du und deinesgleichen in kindischem Hader den Stoff der Wirklichkeit zerrissen. Ich bin deine Tochter nur durch deine Schuld. Hätten du und deinesgleichen nicht diesen Weg der Unbesonnenheit beschritten, der die Vernichtung aller herbeigeführt hätte, wären ich und meinesgleichen nicht gebraucht worden.«
»Bhelliom ist mein! « Die hohle Stimme war Donner und Erdbeben, erschütterte die Grundfesten der Erde.
»Du wirst ihn nicht bekommen«, sagte Flöte unbeeindruckt. »Um dir und deinesgleichen den Besitz Bhellioms zu verwehren, sind ich und meinesgleichen entstanden. Bhelliom ist nicht von dieser Welt und darf nicht von dir oder mir oder den Trollgöttern oder irgendwelchen anderen Göttern dieser Welt in Banden gehalten werden.«
Die Stimme Azashs wurde zu einem Kreischen. »Er ist mein! «
»Nein. Eher wird Anakha ihn vernichten, und mit ihm wirst auch du vernichtet!«
Das Idol schien zusammenzuzucken. »Wie kannst du es wagen! «, keuchte Azash. »Wie kannst du so etwas Schreckliches sagen? Im Tode eines einzigen von uns liegt die Saat des Todes für uns alle!«
»So sei es denn«, erwiderte Aphrael gleichmütig. Dann nahm ihre helle Stimme einen grausamen Tonfall an. »Richte deinen Zorn gegen mich, Azash, nicht gegen meine Kinder, denn ich habe die Kraft der Ringe benutzt, dich zu entmannen und für immer in dieses tönerne Idol zu bannen.«
»Du?« , heulte die schreckliche Stimme voller Hass und Bestürzung.
»Ja, ich . Durch die Entmannung hast du so viel Kraft verloren, dass du deinem Gefängnis nicht entrinnen kannst. Du wirst Bhelliom nicht bekommen, impotentes Göttlein. Du wirst entmannt und gefangen bleiben, bis der fernste Stern zu Asche verglüht.« Sie hielt inne, und als sie wieder sprach, redete sie im Tonfall eines Menschen, der ein Messer tief im Leib seines Feindes dreht. »Es war dein absurder und durchschaubarer Vorschlag, dass alle Götter Styrikums sich vereinen, um den Trollgöttern Bhelliom zu entreißen – ›zum Besten aller!‹ Das gab mir die Möglichkeit, dich zu verstümmeln und gefangen zu setzen, Azash. Was dir geschehen ist, hast du nur dir selbst zuzuschreiben. Und nun hat Anakha Bhelliom und die Ringe gebracht – und auch die Trollgötter, die vom Stein umschlossen sind –, um dich herauszufordern. Entscheide dich jetzt! Beuge dich der Macht der Saphirrose – oder stirb!«
Ein Heulen unmenschlicher Wut erschallte, doch das Idol unternahm nichts.
Otha hingegen, in dessen Augen Panik loderte, begann einen verzweifelten Zauber zu murmeln. Dann schleuderte er ihn von sich, und die grässlichen Statuen entlang der Tempelwand begannen zu schimmern. Ihr Marmorweiß wurde zu Grün und Blau und Blutrot, und das Gemurmel ihrer nichtmenschlichen Stimmen füllte die Kuppel.
Sephrenia sprach mit ruhiger Stimme zwei styrische Worte und gestikulierte kaum merklich. Sogleich erstarrten die Statuen und wurden wieder zu blassem Marmor.
Otha heulte auf und hob wieder zu sprechen an, doch in seiner hilflosen Wut verfiel er in seine elenische Muttersprache.
»Hör mir jetzt zu, Sperber.« Flötes melodische Stimme war ganz nah und leise.
»Aber Otha …«
»Er plappert Unsinn. Meine Schwester wird mit ihm fertig. Hör gut zu. Es dauert nicht mehr lange, dann musst du handeln. Ich werde dir sagen, wann es so weit ist. Steig diese Stufen zum Idol hinauf, aber halte dein Schwert dabei über Bhelliom! Sei stets bereit, zuzuschlagen! Wenn Azash oder Otha oder irgendetwas anderes dich aufzuhalten versucht, dann zerschmettere Bhelliom. Doch falls du das Idol erreichst, berühre mit dem Stein jene Stelle, die verbrannt und narbig aussieht.«
»Wird Azash dadurch vernichtet?«
»Natürlich nicht. Das Idol dort ist nur eine Hülle. Das wirkliche Idol ist im Innern. Bhelliom selbst wird es zerschmettern, und dann wirst du Azash sehen. Das echte Idol ist ziemlich klein und aus Lehm geformt. Sobald du es sehen kannst, lässt du das Schwert fallen und nimmst Bhelliom in beide Hände. Dann sprichst du folgende Worte: ›Blaurose, ich bin Sperber-von-Elenien. Kraft dieser Ringe befehle ich Blaurose, dieses Abbild der Erde zurückzugeben, aus der es entstanden ist.‹ Dann halte Bhelliom an das Idol.«
»Was geschieht dann?«
»Das weiß ich nicht.«
»Aphrael!« , rief Sperber erschrocken.
»Bhellioms Bestimmung ist noch verborgener als deine. Ich weiß nicht einmal, was du in der nächsten Minute tun wirst.«
»Wird er Azash vernichten?«
»Oh ja – und wahrscheinlich auch die übrige Welt. Bhelliom will die Ketten dieser Welt abstreifen, und jetzt ist vielleicht die Chance gekommen, auf die er gewartet hat.«
Sperber schluckte schwer.
»Es ist ein Risiko«, gab sie gleichmütig zu, »aber wer weiß schon, was man würfelt, ehe die Würfel liegen bleiben.«
Im Tempel wurde es plötzlich völlig dunkel, während Sephrenia und Otha ihren Kampf fortsetzten, und für einen atemlosen Augenblick schien es, als würde die Dunkelheit ewig währen, so vollkommen war sie.
Dann kehrte das Licht allmählich zurück. Das Feuer in den großen eisernen Kohlenbecken entzündete sich wieder, und die Flammen begannen aufs Neue zu züngeln.
In diesem Licht richtete Sperber den Blick auf Annias. Das eingefallene Gesicht des Primas’ von Cimmura war totenbleich, und seine Augen wirkten leer. Von seiner Besessenheit geblendet hatte Annias dem Grauen, dem er in seiner Gier nach dem Erzprälatenthron seine Seele verpfändet hatte, nie voll ins Gesicht geschaut. Nun hatte er es erblickt, doch nun war es zu spät. Er starrte Sperber an. Seine Augen erflehten stumm irgendetwas, das ihn vor dem Abgrund retten konnte, der sich zu seinen Füßen aufgetan hatte.
Lycheas lallte in grauenvoller Angst, und Arissa hielt ihn in den Armen, ja klammerte sich an ihn. Das namenlose Entsetzen auf ihrem Gesicht war noch schrecklicher als das Grauen, das sich auf Annias’ Zügen spiegelte.
Der Tempel füllte sich mit Lärm und Licht und wogendem Rauch, während Othas und Sephrenias Magie miteinander rangen.
»Jetzt, Sperber!«, sagte Flöte ruhig.
Sperber wappnete sich und schritt los. Das Schwert hielt er drohend über die Saphirrose. Fast hatte er den Eindruck, als würde sie sich ängstlich unter der schweren Stahlklinge ducken.
»Sperber«, sagte die leise Stimme beinahe sehnsüchtig, »ich liebe dich.«
Doch das nächste Geräusch klang ganz und gar nicht liebevoll. Es war ein mehrstimmiges, misstönendes Geheul in der Trollsprache. Sperber taumelte, als der Hass der Trollgötter ihn traf. Der Schmerz war nahezu unerträglich. Sperber brannte und fror gleichermaßen, und seine Knochen schienen in seinem Fleisch zu wogen. »Blaurose!«, sagte er keuchend. Er stolperte und wäre beinahe gefallen. »Befiehl den Trollgöttern, still zu sein. Blaurose muss es tun – sofort! «
Doch der Schmerz hielt an, und das infernalische Heulen wurde lauter.
»Dann stirb, Blaurose!« Sperber hob sein Schwert zum Schlag.
Abrupt verstummte das Heulen, und der Schmerz schwand.
Sperber überquerte die erste Onyxtribüne und stieg zur nächsten hinauf.
»Tu es nicht, Sperber!« Die Stimme erklang in seinem Kopf. »Aphrael ist ein boshaftes Kind. Sie führt dich ins Verderben!«
»Ich habe mich schon gefragt, wie lange du warten würdest, Azash«, entgegnete Sperber mit ein wenig zittriger Stimme, während er die zweite Tribüne überquerte. »Warum hast du nicht schon eher zu mir gesprochen?«
Die Stimme, die er in seinem Geist gehört hatte, schwieg.
»Hattest du Angst, Azash?«, fragte Sperber. »Hattest du Angst, dass deine Worte die Bestimmung ändern könnten, die du nicht zu sehen vermagst?« Er trat auf die dritte Tribüne.
»Tu es nicht, Sperber!« Die Stimme flehte jetzt. »Ich kann dir die Welt geben!«
»Nein, danke.«
»Ich kann dir Unsterblichkeit geben.«
»Unsterblichkeit! Wir Menschen fürchten den Tod nicht – Götter vielleicht!«
»Ich werde deine Gefährten töten, wenn du nicht nachgibst!«
»Alle Menschen müssen sterben.« Sperber trat auf die vierte Tribüne. Ihm war plötzlich, als versuche er, durch festen Stein zu waten. Azash wagte nicht, ihn direkt anzugreifen, um nicht den tödlichen Streich zu provozieren, der sie alle vernichten würde.
In diesem Augenblick erkannte Sperber seinen einmaligen Vorteil. Die Götter konnten seine Bestimmung nicht sehen, und sie vermochten auch seine Gedanken nicht zu lesen! Azash konnte nicht erkennen, wann er den Entschluss fasste, Bhelliom zu zerschmettern, und so konnte er den Schwerthieb auch nicht aufhalten. Sperber beschloss, diesen Vorteil auszuspielen. Immer noch in seiner Bewegungsfreiheit behindert, seufzte er: »Nun gut, wenn du es so willst.« Wieder hob er das Schwert.
»Nein!« Der Schrei kam nicht nur von Azash, sondern auch von den Trollgöttern.
Sperber überquerte die vierte Tribüne. Er schwitzte und keuchte heftig. Vor den Göttern konnte er zwar seine Gedanken verbergen, nicht jedoch vor sich selbst. »Jetzt, Blaurose«, sagte er leise zu Bhelliom, als er auf die fünfte Tribüne stieg, »werde ich Folgendes tun. Du und Khwaj und Ghnomb und all die anderen, ihr werdet mir helfen, wenn ihr der Vernichtung entgehen wollt. Ein Gott muss sterben – ein Gott oder viele Götter. Wenn ihr mir helft, wird es nur der eine sein. Wenn nicht, sterbt ihr alle.«
»Sperber!« Aphraels Stimme klang erschrocken.
»Misch dich nicht ein!«
Nach kurzem Zögern flüsterte sie mit der Stimme eines kleinen Mädchens: »Kann ich dir helfen?«
Er überlegte nur kurz. »Ja. Aber jetzt ist nicht der Augenblick irgendwelcher Finten. Erschreck mich nicht! Mein Arm ist wie eine gespannte Sprungfeder.«
Der Glühwürmchenfunke wuchs, wurde zu einer sanft glühenden Kugel, aus der Aphrael hervortrat. Wie immer waren ihre niedlichen Füße voll Grasflecken. Ihr Gesicht war sehr ernst, als sie ihre Syrinx von den Lippen nahm. »Zerschmettere Bhelliom, Sperber«, sagte sie traurig. »Sie werden nicht auf dich hören.« Dann seufzte sie. »Ich werde des ewigen Lebens ohnehin müde. Zerschmettere den Stein, wir wollen es hinter uns bringen!«
Der Bhelliom wurde tief dunkel, und Sperber spürte ihn in seiner Hand erzittern. Dann kehrte das bläuliche Glühen zurück – weich und unterwürfig.
»Jetzt werden sie helfen, Sperber«, versicherte ihm Aphrael.
»Du hast sie belogen!«
»Nein, ich habe dich belogen. Zu ihnen habe ich nicht gesprochen.«
Gegen seinen Willen musste Sperber lachen.
Er überquerte die fünfte Tribüne. Das Idol war jetzt viel näher. Es ragte riesig vor ihm auf. Er konnte auch Otha sehen, der sich schwitzend und keuchend gegen Sephrenias Kräfte stemmte. Obgleich er es nicht sehen konnte, wusste Sperber, dass dieser magische Kampf viel gewaltiger war als der Zweikampf, in dem er Martel besiegt hatte. Nun vermochte er auch deutlich die Todesangst in Annias, Arissas und Lycheas’ Gesichtern zu erkennen.
Sperber spürte die machtvolle Präsenz der Trollgötter. Sie schienen ihm so überwältigend greifbar, dass er beinahe zu sehen glaubte, wie ihre grässlichen, unförmigen Gestalten schützend hinter ihm schwebten. Er trat auf die sechste Tribüne. Noch drei weitere. Flüchtig fragte er sich, ob die Zahl Neun in der wirren Vorstellung der Azashanbeter irgendeine Bedeutung hatte. Der Gott der Zemocher ließ nun alle Vorsicht fallen. Er sah den Tod unerbittlich die Stufen zu ihm heraufsteigen, und in einem verzweifelten Versuch, den schwarz gepanzerten Boten abzuwehren, der den blau glühenden Tod zu ihm trug, warf er ihm alles entgegen, was ihm zu Gebote stand.
Feuer entzündete sich unter Sperbers Füßen, doch ehe er auch nur seine Wärme spüren konnte, war es mit Eis gelöscht. Ein Ungeheuer sprang ihn aus dem Nichts an, doch ein stärkeres Feuer als jenes, das eben in Eis erloschen war, verschlang die Bestie. Da den Trollgöttern wegen Sperbers unerbittlichem Ultimatum keine Wahl blieb, halfen sie ihm, wenngleich unwillig, die Verteidigungsversuche Azashs zunichtezumachen.
Azash begann schrill zu kreischen, als Sperber auf die siebente Tribüne stieg. Nun wäre ein Sturmangriff möglich gewesen, doch Sperber entschied sich dagegen. Er wollte nicht vor Anstrengung keuchen und zittern, wenn endlich der alles entscheidende Augenblick gekommen war. So setzte er seinen gleichmäßigen, ruhigen Vormarsch über die siebente Tribüne fort, während Azash ihm unbeschreibliche Schrecken entgegenschleuderte – Schrecken, die jedoch sogleich von den Trollgöttern – oder vom Bhelliom selbst – vernichtet wurden. Sperber holte tief Atem und betrat die achte Tribüne.
Gold umgab ihn – Münzen, Barren und Klumpen von der Größe eines Männerkopfes. Ein Schwall glitzernder Edelsteine ergoss sich aus dem Nichts und strömte wie ein Fluss mit blauem, grünem und rotem Wasser über das Gold, ein regenbogenfarbener Wasserfall von unvorstellbarem Wert. Doch dieser Reichtum schrumpfte plötzlich. Gewaltige Mengen Gold und Juwelen verschwanden, begleitet von schmatzenden Lauten. »Danke, Ghnomb«, murmelte Sperber dem Trollgott des Essens zu.
Eine Hure von atemberaubender Schönheit winkte Sperber verführerisch zu, wurde aber sogleich von einem lüsternen Troll überfallen. Sperber kannte den Namen des Trollgottes der Paarung nicht, so vermochte er ihm nicht namentlich zu danken. Er schritt weiter zur Treppe, die zur neunten und letzten Tribüne führte.
»Das darfst du nicht!«, kreischte Azash. Sperber würdigte ihn keiner Antwort, während er grimmig auf das Idol zuschritt, mit Bhelliom in der einen und dem Schwert in der anderen Hand. Blitze zuckten um ihn, doch jeder wurde von der wachsenden saphirblauen Aura aufgefangen, mit welcher Bhelliom Sperber schützte.
Otha hatte sein sinnloses Duell mit Sephrenia aufgegeben und kroch, schluchzend vor Angst, zur rechten Altarseite. Annias war auf der linken Seite derselben schmalen Onyxplatte zusammengesackt, Arissa und Lycheas klammerten sich wimmernd aneinander.
Sperber erreichte den schmalen Altar. »Wünsche mir Glück«, flüsterte er der Kindgöttin zu.
»Gewiss, Vater.«
Azash zuckte zurück, als Bhelliom heller glühte, und die flammenden Augen des Idols begannen vor Angst hervorzuquellen. Sperber erkannte, dass ein Unsterblicher, der sich plötzlich dem Tode gegenübersieht, erbärmlich hilflos ist. Allein die Vorstellung verdrängte jeden anderen Gedanken, und Azash konnte nur noch auf die einfachste, ja kindischste Weise reagieren. Er griff nach Elementarfeuer und schleuderte es blind nach dem schwarz gepanzerten Pandioner. Die Druckwelle war ungeheuerlich, als die grün glühende Flamme gegen die leuchtend blaue des Bhelliom prallte. Das Blau flackerte; dann gewann es an Kraft. Das Grün wich zurück, warf sich erneut auf Sperber.
Und dann wurde es ein Kampf zwischen Bhelliom und Azash, und jeder setzte unwiderstehliche Kräfte ein, um seine Existenz zu retten. Keiner von ihnen wollte – oder konnte – nachgeben. Sperber hatte das Gefühl, hier in alle Ewigkeit mit dem Stein in der Hand stehen zu müssen, während Azash und Bhelliom ihren Kampf austrugen.
Es kam von hinter ihm, wirbelte schwirrend wie Vogelschwingen durch die Luft, über seinen Kopf hinweg, und schmetterte gegen die steinerne Brust des Idols, dass gewaltige Funken sprühten. Es war Beviers hakenbewehrte Lochaber. Berit hatte sie, überwältigt von Abscheu vielleicht, auf das Idol geschleudert – eine hilflose Geste des Zorns.
Aber es half.
Das Idol zuckte unwillkürlich vor der Axt zurück, die ihm nicht das Geringste anzuhaben vermochte, und für einen winzigen Augenblick versiegten seine Kräfte, sein Feuer. Sperber stürmte voran. Er hielt Bhelliom in der Linken und rammte ihn wie eine Speerspitze auf die Brandnarbe tief am Unterleib des Idols. Seine Hand wurde taub durch den heftigen Aufprall.
Das Donnern und Krachen waren ohrenbetäubend. Sperber war sicher, dass es die ganze Welt erschütterte.
Er senkte den Kopf, spannte die Muskeln an und presste Bhelliom mit aller Kraft auf die glänzende Narbe. Der Gott schrie vor Pein. »Ihr habt versagt!« , heulte er. Peitschende Fangarme schnellten von beiden Seiten des Idols hervor und packten Otha – und Annias.
»Oh mein Gott!«, rief Annias gellend, jedoch nicht an Azash gewandt, sondern an den Gott seiner Kindheit. »Rette mich! Beschütze mich! Vergib …« Seine Stimme wurde zum schrillen Kreischen, als der Tentakel sich um seinen Körper zusammenzog.
Es war keine gezielte Bestrafung des Kaisers von Zemoch und des Primas von Cimmura. Wahnsinnig vor Schmerz und Angst und dem Verlangen, jene zu peinigen, die er für seine Niederlage verantwortlich machte, handelte Azash wie ein zorniges Kind. Weitere Arme schnellten herbei und wickelten sich um das schreiende Paar. Und dann begannen die geschmeidigen Tentakel sich in entgegengesetzte Richtungen zu drehen, mit den Bewegungen eines Menschen, der einen nassen Lappen auswringt. Blut und Schlimmeres spritzte zwischen den aalgleichen Fingern des Gottes hervor, während er unerbittlich Othas und Annias’ Leben aus ihren Leibern wand.
Sperber schloss die Augen – doch seine Ohren konnte er nicht verschließen. Die schrecklichen Schreie wurden schriller und höher und schließlich zu einem erstickten Quieken.
Dann verstummten sie. Nur noch ein klatschendes Geräusch war zu vernehmen, als Azash zu Boden schleuderte, was von seinen Dienern übrig war.
Arissa übergab sich heftig über den nicht mehr erkennbaren Überresten ihres Geliebten und Vaters ihres einzigen Kindes, als das riesige Idol erzitterte und zersprang. Riesige Brocken behauenen Steins hagelten herab, als es zerbarst. Tentakel versteinerten, brachen ab und zerschmetterten auf dem Onyxboden. Das groteske Gesicht glitt in Stücken vom Kopf. Ein größeres fiel auf Sperbers gepanzerte Schulter, und die Wucht des Aufpralls schlug ihm Bhelliom fast aus den Händen. Mit einem gewaltigen Donnern brach das Idol in der Mitte, und das gigantische Oberteil kippte nach hinten und zerbarst zu unzähligen kleinen Stücken. Nur ein Stumpf blieb, ein von Sprüngen durchzogenes Steinpodest, auf dem das primitive Idol aus getrocknetem Lehm hockte, das Otha vor nunmehr fast zweitausend Jahren entdeckt hatte.
»Das darfst du nicht!« Die Stimme klang wie das Quieken einer Ratte. »Ich bin ein Gott! Du bist nichts! Ein Insekt! Du bist nur Staub!«
»Vielleicht.« Sperber empfand tatsächlich Mitleid mit der lächerlichen kleinen Lehmfigur. Er ließ sein Schwert fallen und nahm Bhelliom fest in beide Hände. »Blaurose!«, sagte er laut. »Ich bin Sperber-von-Elenien. Kraft dieser Ringe befehle ich Blaurose, dieses Abbild der Erde zurückzugeben, aus der es entstanden ist.« Beide Hände und die Saphirrose näherten sich dem Idol. »Du hast nach Bhelliom gegiert, Azash«, sagte er. »So nimm ihn denn und alles, was er dir bringt.« Dann berührte der Stein das missgestaltete Idol. »Blaurose muss gehorchen! Jetzt! « Sperber schloss die Augen, und seine Muskeln verkrampften sich in Erwartung der alles vernichtenden Kraft.
Der ganze Tempel erzitterte, und Sperber verspürte ein plötzliches drückendes Gefühl von Schwere, als hätte die Luft das Gewicht von Stein. Die Flammen der Feuer in den großen Kohlenbecken sanken zusammen, und die winzigen Flämmchen flackerten schwach, als würde ein ungeheures Gewicht sie niederpressen.
Und dann barst die gigantische Kuppel des Tempels. Die sechseckigen Basaltblöcke wurden in die Höhe und nach allen Seiten gesprengt und flogen meilenweit. Mit einem Laut, den die Ohren kaum noch wahrzunehmen vermochten, schossen die Feuer empor, wurden zu titanischen Säulen aus blendenden Flammen, Säulen, die durch das klaffende Loch stießen, das einst die Kuppel gewesen war, und die gewitterschweren Wolken erhellten. Immer höher loderten diese leuchtenden Säulen, verbrannten die geballten Wolken, von Blitzen umzuckt, und stießen in die Dunkelheit zwischen den funkelnden Sternen.
Unerbittlich drückte Sperber die Saphirrose an Azashs Leib. Die Haut um sein Handgelenk prickelte, als die winzigen, kraftlosen Tentakel des Gottes es umschlangen, wie ein tödlich Verwundeter den Arm eines Gegners umklammern mochte, der gnadenlos die Schwertklinge in seinem Leib dreht. Die Stimme des Älteren Gottes Azash war ein schwaches Quieken, ein kraftloses Wimmern, dem eines verendenden kleinen Tieres gleich. Dann begann eine Veränderung in dem Lehmidol. Was immer ihm Form gegeben hatte, war nicht mehr, und mit einem seltsamen Seufzen zerfiel es zu einem Häufchen Staub.
Die titanischen Flammensäulen sanken allmählich in sich zusammen, und die Luft, die nun in die Tempelruine drang, war frisch und von winterlicher Kälte.
Sperber empfand keinerlei Triumphgefühl, als er sich aufrichtete. Er blickte auf die Saphirrose, die in seiner Hand glühte. Er konnte ihre Angst spüren und vage das Wimmern der in ihrem blauen Herzen eingeschlossenen Trollgötter hören.
Flöte war die Stufen hinuntergestolpert und lag nun weinend in Sephrenias Armen.
»Es ist vorüber, Blaurose«, wandte Sperber sich müde an Bhelliom. »Ruh dich nun aus!« Er schob den Stein zurück in den Kettenbeutel und schloss ihn.
Schritte verzweifelt rennender Füße waren zu hören. Prinzessin Arissa und ihr Sohn flohen die Treppen der Onyxtribünen hinunter. So groß war ihre Angst, dass sie gar nicht aufeinander achteten. Lycheas war jünger als Arissa und flinker. Er ließ seine Mutter hinter sich zurück und rappelte sich immer wieder auf, wenn er in seiner kopflosen Flucht stolperte und fiel.
Mit steinerner Miene und seiner Streitaxt in der Hand erwartete Ulath ihn am Fuß der Treppe.
Lycheas schrie einmal auf, dann flog sein Kopf in einem weiten Bogen durch die Luft und prallte mit einem Laut wie eine vom Tisch fallende Melone auf den Onyxboden.
»Lycheas!«, kreischte Arissa entsetzt, als die kopflose Leiche ihres Sohnes schlaff vor Ulaths Füße sank. Wie gelähmt starrte sie den hünenhaften Thalesier an, der nun die blutige Axt hob und die Stufen zu ihr hochstapfte. Ulath war nicht für halbe Sachen.
Arissa fummelte an der Schärpe um ihre Taille, zog ein winziges Fläschchen hervor und plagte sich, den Stöpsel herauszuziehen.
Ulath schritt unbeirrt heran.
Das Fläschchen war nun offen. Arissa hob den Kopf und leerte es. Sie erstarrte sogleich und stieß einen würgenden Laut aus. Dann stürzte sie zuckend auf den Tribünenboden. Ihr Gesicht verfärbte sich blau, und ihre Zunge quoll aus dem Mund.
»Ulath!« Sephrenia hielt den Thalesier zurück, der immer noch auf Arissa zuschritt. »Es ist nicht mehr nötig!«
»Gift?«, fragte er.
Sephrenia nickte.
»Ich hasse Gift.« Mit Daumen und Zeigefinger streifte er das Blut von der Axtschneide, schnippte es fort und prüfte mit dem Daumen die Schneide. »Ich werde eine Woche brauchen, alle diese Kerben wegzuschleifen«, sagte er düster. Damit drehte er sich um und stieg die Stufen hinunter.
Sperber hob sein Schwert auf und stieg ebenfalls hinab. Er fühlte sich jetzt sehr, sehr müde. Erschöpft bückte er sich nach seinen Rüsthandschuhen und kletterte über den trümmerübersäten Boden zu Berit, der ihm bewundernd entgegenblickte. »Das war ein guter Wurf«, lobte Sperber den jungen Mann und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Danke, Bruder.«
Berit strahlte wie die aufgehende Sonne.
»Übrigens«, fügte Sperber hinzu. »Ihr solltet nach Beviers Axt suchen. Er hängt sehr an ihr.«
Berit grinste. »Mach ich sofort, Sperber.«
Sperber ließ den Blick über die Leichen schweifen, dann schaute er durch das riesige Loch in der Kuppel zu den Sternen, die am kalten Winterhimmel funkelten. »Kurik«, fragte er gedankenlos, »was glaubst du, wie spät …?« Er verstummte, von schier unerträglicher Trauer überwältigt. Dann fasste er sich. »Seid Ihr alle unverletzt?«, wandte er sich an seine Freunde. Er hatte Mühe, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. »Gut. Verschwinden wir«, sagte er rau.
Sie stiegen die breite Treppe hinauf. Bei der gewaltigen Erschütterung waren auch die Statuen an den Wänden zerschmettert worden. Kalten ging voran und blickte die Marmortreppe hinauf. »Die Soldaten sind offenbar allesamt davongelaufen«, berichtete er.
Sephrenia löste den Zauber auf, der die Treppe blockiert hatte, und sie setzten ihren Weg fort.
»Sephrenia!« Die Stimme war kaum mehr als ein Krächzen.
»Sie lebt noch!«, stellte Ulath hoffnungsvoll fest und tätschelte seine Axt.
»Das kommt hin und wieder vor«, entgegnete Sephrenia. »Manchmal braucht das Gift ein bisschen länger.«
»Sephrenia, helft mir. Bitte helft mir!«
Die zierliche Styrikerin wandte sich um und blickte zur anderen Seite des Tempels, wo Prinzessin Arissa den Kopf ein Stück gehoben hatte und um ihr Leben flehte.
Sephrenias Stimme war kalt wie der Tod. »Nein, Prinzessin«, antwortete sie. »Das werde ich nicht.« Damit drehte sie sich um und stieg, dicht gefolgt von Sperber und den anderen, weiter die Treppe hinauf.