Epilog

Aphrael

Der Frühling kam in diesem Jahr nur widerwillig, und ein unerwarteter Spätfrost vernichtete die Blüten aller Obstbäume. Der Sommer war nass und trüb und die Ernte gering.

Die Armeen Westeosiens kehrten aus Lamorkand zurück, um sich sogleich der undankbaren Aufgabe zu widmen, auf kargen Äckern zu fronen, wo lediglich Disteln üppig gediehen. In Lamorkand kam es zum Bürgerkrieg, doch das war nichts Ungewöhnliches. In Pelosien fand ein Aufstand der Leibeigenen statt, und die Zahl der Bettler vor den Kirchen und Stadttoren wuchs drastisch.

Sephrenia nahm die Nachricht von Ehlanas Schwangerschaft mit Erstaunen auf. Die unleugbare Tatsache, dass die junge Königin guter Hoffnung war, schien sie sehr zu verblüffen, und diese Verblüffung machte sie launenhaft, ja reizbar. Schließlich gebar Ehlana ihr erstes Kind, eine Tochter, die sie und Sperber Danae nannten. Sephrenia untersuchte das Neugeborene gründlich, und irgendwie hatte Sperber das Gefühl, dass seine Lehrerin es beinahe als persönliche Kränkung empfand, dass Prinzessin Danae völlig normal und kerngesund war.

Mirtai änderte ungerührt den Tagesplan der Königin, indem sie Ehlanas übrigen königlichen Pflichten das Stillen hinzufügte. Es sollte hier erwähnt werden, dass Ehlanas Kammerfrauen Mirtai aus Eifersucht hassten, obgleich die Riesin nie eine von ihnen angegriffen oder auch nur scharf zurechtgewiesen hatte.

Die Kirche gab bald ihre grandiosen Pläne im Osten auf und wandte sich stattdessen dem Süden zu, um die Gelegenheit zu nutzen, die sich ihr dort bot. Martels Rekrutierung der fanatischsten Eshandisten und seine Niederlage in Chyrellos hatte die Reihen dieser Sekte gelichtet und Rendor reif für die Wiedereingliederung in die Gemeinschaft der Gläubigen gemacht. Obgleich Dolmant seine Priester im Geist der Liebe und Versöhnung nach Rendor sandte, hielt dieser Geist bei den meisten seiner Missionare nur so lange an, wie die Kuppel der Basilika zu sehen war. Die Missionen in Rendor hatten in der Regel den Charakter eines Strafgerichts, worauf die Rendorer auf vorhersehbare Weise reagierten. Nachdem einige der Missionare, die sich besonders unbeliebt gemacht hatten, ermordet worden waren, wurden immer größere Abteilungen Ordensritter in dieses südliche Reich geschickt, um die unwillkommene Geistlichkeit und ihre kärgliche Gemeinde Bekehrter zu beschützen. Eshandistische Gesinnung begann neu zu erwachen, und wieder verbreiteten sich Gerüchte von geheimen Waffenlagern in der Wüste.

Der zivilisierte Mensch hält seine Städte für die Krönung seiner Kultur und ist anscheinend nicht in der Lage zu begreifen, dass das Fundament eines jeden Königreichs sein Grund und Boden ist. Wenn die Landwirtschaft eines Staates nicht mehr floriert, müssen Handel und Handwerk darunter leiden, und Regierungen, deren Einnahmen zurückgehen, schrecken auch vor den schlimmsten Formen der Besteuerung nicht zurück und häufen neue Lasten auf die bereits notleidende Bauernschaft. Sperber und Graf von Lenda führten lange und dermaßen erbitterte Streitgespräche über diesen Punkt, dass sie zeitweilig gar nicht mehr miteinander sprachen.

Hochmeister Vanions Gesundheit verschlechterte sich im Lauf der Monate zusehends. Sephrenia behandelte seine vielen Gebrechen, so gut sie es vermochte, doch schließlich, an einem stürmischen Herbstmorgen, wenige Monate nach der Geburt von Prinzessin Danae, waren beide nicht mehr auffindbar. Und als ein weiß gewandeter Styriker im Mutterhaus der Pandioner in Demos erschien und erklärte, dass er Sephrenias Pflichten übernehme, war Sperbers schlimmster Verdacht bestätigt.

Trotz seiner Einwände, er habe ältere Verpflichtungen, musste er die Aufgaben seines alten Freundes als Hochmeister übernehmen, ein Amt, das Dolmant ihm auf Dauer übertragen wollte, obwohl Sperber sich hartnäckig dagegen sträubte. Ulath, Tynian und Bevier kamen hin und wieder zu Besuch. Was sie von den Geschehnissen in ihren Heimatländern berichteten, war so wenig erfreulich wie die Nachrichten, die Sperber aus den umliegenden Gebieten Eleniens erhielt. Platime berichtete ernst, dass seine Informanten ihm von überall Hungersnot, Seuchen und Unruhen meldeten.

»Schwere Zeiten, Sperber«, sagte der fette Dieb und zuckte mit den Schultern. »Egal, wie sehr wir uns bemühen, sie von uns fernzuhalten, es kommen immer wieder harte Zeiten.«

Sperber ließ Kuriks vier ältere Söhne als pandionische Novizen aufnehmen und setzte sich über Khalads Einwände hinweg. Da Talen noch zu jung für eine militärische Ausbildung war, wurde er im Schloss als Page eingesetzt, wo Sperber ihn im Auge behalten konnte. Stragen, unberechenbar wie immer, kam häufig nach Cimmura. Mirtai wachte über Ehlana und ging streng mit ihr ins Gebet, wenn es nötig war. Lachend wies sie die wiederholten Heiratsanträge Krings zurück, der immer wieder einen Vorwand fand, quer durch den Kontinent von Ostpelosien nach Cimmura zu reiten.

Die Jahre zogen dahin, doch die Lage besserte sich nicht. Dem ersten Jahr fast ständigen Regens folgten drei Jahre Dürre. Nahrungsmittel waren knapp, und den Regierungen von Eosien mangelte es an Einnahmen. Ehlanas bleiches schönes Gesicht war von Sorgen gezeichnet, obwohl Sperber ihr so viel Last wie nur möglich abnahm.

Es war an einem klaren, kalten Nachmittag im Spätwinter, als der Prinzgemahl etwas Unvorstellbares erlebte. Er hatte den Vormittag in einem heftigen Streit mit Lenda über eine neue Steuer verbracht. Lenda war ausfallend geworden und hatte Sperber beschuldigt, in seiner übertriebenen Sorge um das Wohlergehen der verwöhnten, faulen Bauernschaft die Regierung systematisch zugrunde zu richten. Sperber hatte sich schließlich durchgesetzt, war aber nicht sonderlich glücklich darüber, denn jeder Sieg trieb den Keil zwischen ihm und seinem alten Freund noch tiefer.

Er saß in trübsinniger Unzufriedenheit am Kamin in den königlichen Gemächern und hatte ein halbes Auge auf seine spielende vierjährige Tochter, die Prinzessin Danae. Seine Gemahlin, in Begleitung von Mirtai und Talen, hatte irgendetwas in der Stadt zu erledigen, und so waren Sperber und die kleine Prinzessin allein.

Danae war ein ernstes Kind mit glänzend schwarzem Haar, großen nachtschwarzen Augen und einem Mund wie eine Rosenknospe. Trotz ihrer Ernsthaftigkeit war sie zärtlich und überschüttete ihre Eltern häufig urplötzlich mit Küssen. Momentan war sie vor dem Kamin ganz und gar in ihr Ballspiel vertieft.

Es war der Kamin, der alles offenbarte und Sperbers Leben für immer veränderte. Danae verschätzte sich, und ihr Ball landete im Feuer. Ohne zu überlegen, rannte sie zum Kamin, und ehe ihr Vater sie aufzuhalten vermochte, langte sie in die Flammen und holte ihren Ball heraus. Sperber sprang mit einem verzweifelten Schrei auf und eilte zu ihr. Er riss sie in die Arme und untersuchte ihre Hand.

»Was hast du denn, Vater?«, fragte sie ihn ganz ruhig. Prinzessin Danae war ein frühreifes Kind. Mit ihren vier Jahren redete sie fast schon wie eine Erwachsene.

»Deine Hand! Du hast dich verbrannt! Du solltest wirklich gescheiter sein, als ins Feuer zu greifen!«

»Ich habe mich nicht verbrannt«, widersprach sie und bewegte die Finger. »Siehst du?«

»Geh nicht wieder ans Feuer«, mahnte er sie.

»Nein, Vater.« Sie wand sich in seinen Armen, bis er sie absetzte, dann nahm sie ihren Ball und spielte in einer sicheren Ecke weiter.

Beunruhigt setzte Sperber sich wieder in seinen Sessel. Es ist möglich, dass man die Hand ins Feuer hält, ohne sich zu verbrennen, wenn man sie sofort wieder herauszieht. Aber Danae hatte ihre Hand nicht so schnell bewegt. Sperber betrachtete sein Kind eingehender. Er war in den vergangenen Monaten sehr beschäftigt gewesen; deshalb hatte er nur wenig Zeit für sie gehabt. Danae befand sich in einem Alter, in dem gewisse Veränderungen rasch vonstattengehen, und diese Veränderungen waren offenbar direkt vor seinen unaufmerksamen Blicken erfolgt. Doch nun, da er Danae näher betrachtete, legte sich plötzlich eine eisige Hand um sein Herz. Fassungslos sah er es zum ersten Mal.

Er und seine Gemahlin waren Elenier.

Ihre Tochter nicht.

Lange Zeit starrte Sperber seine styrische Tochter an; dann griff er nach der einzig möglichen Erklärung. »Aphrael?« , fragte er benommen. Danae ähnelte Flöte nur wenig, doch eine andere Erklärung hatte Sperber nicht.

»Ja, Sperber?« Ihre Stimme hörte sich ganz und gar nicht überrascht an.

»Was hast du mit meiner Tochter gemacht?«, entfuhr es ihm, und er richtete sich in seiner ängstlichen Sorge halb auf.

»Mach dich nicht lächerlich, Sperber«, entgegnete sie ruhig. »Ich bin deine Tochter.«

»Das ist unmöglich! Wie …«

»Du weißt, dass ich es bin, Vater. Du warst doch dabei, als ich geboren wurde. Hast du etwa gedacht, ich wäre ein Wechselbalg? Ein Kuckuck, der dir ins Nest gesetzt wurde? Das ist elenischer Aberglaube. So etwas tun wir nie.«

Er gewann halbwegs seine Beherrschung wieder. »Hast du vor, es mir zu erklären?«, fragte er so ruhig er konnte, »oder erwartest du, dass ich es errate?«

»Beruhige dich, Vater. Du wolltest doch Kinder, oder nicht?«

»Nun …«

»Mutter ist eine Königin. Sie muss einen Thronfolger zur Welt bringen, nicht wahr?«

»Gewiss, nur …«

»Das hätte sie aber nicht gekonnt, weißt du.«

»Was?«

»Das Gift, das Annias ihr gab, hat sie unfruchtbar gemacht. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schwierig es war, das zu überwinden. Warum, glaubst du, war Sephrenia so aufgeregt, als sie erfuhr, dass Mutter guter Hoffnung war? Natürlich kannte sie die Nebenwirkungen des Gifts, und sie war sehr zornig auf mich, weil ich mich einmischte – hauptsächlich deshalb, weil Mutter Elenierin ist, nehme ich an. Sephrenia kann manchmal recht engstirnig sein. Oh, setz dich doch endlich wieder, Sperber.«

Sperber sank in seinen Sessel. Seine Gedanken wirbelten. »Aber warum? «, fragte er heftig.

»Weil ich dich und Mutter liebe. Sie war dazu bestimmt, kinderlos zu sein, also musste ich ihre Bestimmung ein klein wenig ändern.«

»Und hast du meine ebenfalls geändert?«

»Wie könnte ich das? Du bist Anakha, hast du das vergessen? Niemand kennt deine Bestimmung. Du warst immer ein Problem für uns. Viele waren der Meinung, dass wir dich überhaupt nicht auf die Welt kommen lassen sollten. Ich musste jahrhundertelang auf die anderen einreden, um sie zu überzeugen, dass wir dich wirklich brauchen.« Sie blickte an sich hinab. »Ich werde aufpassen müssen, dass ich normal wachse. Ich war zuvor Styrikerin, und Styriker sind an solche Dinge gewöhnt. Ihr Elenier seid leicht aus der Fassung zu bringen, und die Leute würden wahrscheinlich hinter vorgehaltener Hand reden, wenn ich ein paar Jahrhunderte ein Kind bleibe. Ich fürchte, diesmal werde ich es richtig machen müssen.«

»Diesmal?«

»Was hast du denn gedacht? Ich wurde schon Dutzende Male geboren.« Sie rollte die Augen. »Das erhält mich jung.« Ihr Gesichtchen wurde ernst. »Etwas Furchtbares ist im Azashtempel geschehen, Vater, und ich musste mich eine Zeit lang davor verstecken. Mutters Schoß war ideal dafür. Ich fühlte mich so sicher und geborgen.«

»Dann wusstest du, was in Zemoch geschehen würde«, sagte er anklagend.

»Ich wusste, dass etwas geschehen würde, also traf ich Vorkehrungen für alle Möglichkeiten.« Sie spitzte nachdenklich die rosigen Lippen. »Es könnte recht interessant werden«, murmelte sie. »Ich war noch nie eine Erwachsene und erst recht keine Königin. Ach, wäre meine Schwester doch hier! Ich würde mich gern mit ihr darüber unterhalten.«

»Wer ist deine Schwester?«

»Sephrenia«, erklärte sie ein wenig abwesend. »Sie war die älteste Tochter meiner letzten Eltern. Es ist schön, eine ältere Schwester zu haben, weißt du. Sie war immer schon so unendlich weise, und sie hat mir stets verziehen, wenn ich etwas Törichtes getan habe.«

Unzählige Fragen fanden dadurch eine Antwort. »Wie alt ist Sephrenia denn?«, erkundigte Sperber sich mit leiser Stimme.

Aphrael seufzte. »Du weißt genau, dass ich das nicht beantworten werde, Sperber. Außerdem wüsste ich es sowieso nicht. Die Jahre bedeuten für uns nicht so viel wie für euch. Mehrere hundert Jahre ist sie auf jeden Fall alt, vielleicht tausend – was immer das heißt.«

»Wo ist sie jetzt?«

»Sie und Vanion haben sich gemeinsam zurückgezogen. Du hast doch gewusst, was sie füreinander empfinden, nicht wahr?«

»Ja.«

»Na bitte! Manchmal benutzt du deine Augen also doch.«

»Was tun sie?«

»Sie sehen für mich nach dem Rechten. Ich selbst bin jetzt anderweitig beschäftigt, und irgendjemand muss sich ja um die Geschäfte kümmern. Sephrenia kann Gebete ebenso gut erhören wie ich, und so viele Anhänger habe ich ja nicht.«

»Muss sich bei dir alles so selbstverständlich anhören?«, beklagte er sich.

»Aber das ist es doch, Vater. Nur euer elenischer Gott nimmt sich so schrecklich ernst. Ich habe ihn noch kein einziges Mal lachen gesehen. Meine Anbeter sind viel verständnisvoller. Sie lieben mich, deshalb stören meine Fehler sie nicht.« Sie lachte plötzlich, kletterte auf seinen Schoß und küsste ihn. »Du bist der beste Vater, den ich je hatte, Sperber. Ich kann mit dir über diese Dinge reden, ohne dass dir gleich die Augen aus dem Kopf fallen.« Sie schmiegte ihr Köpfchen an seine Brust. »Was geht denn draußen vor, in der Welt, Vater? Ich weiß, dass die Dinge nicht so sind, wie sie sein sollten, aber jedes Mal, wenn jemand kommt, um dir Bericht zu erstatten, steckt Mirtai mich ins Bett.«

»Es steht wirklich nicht zum Besten, Aphrael«, sagte er ernst. »Das Wetter war schlecht. Es gab Hungersnöte und Seuchen. Nichts ist so, wie es sein sollte. Wäre ich abergläubisch, würde ich sagen, die ganze Welt hat eine anhaltende Pechsträhne.«

»Das ist die Schuld meiner Familie, Sperber«, gestand sie. »Nach dem, was mit Azash geschah, fingen wir an, uns schrecklich zu bemitleiden. Darüber haben wir unsere üblichen Pflichten vernachlässigt. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir alle erwachsen werden. Ich werde mit den anderen reden und lasse dich dann wissen, was wir beschlossen haben.«

»Dafür wäre ich dir dankbar.« Sperber konnte nicht so recht glauben, dass sie dieses Gespräch wahrhaftig führten.

»Wir haben allerdings ein kleines Problem«, gab Aphrael zu bedenken.

»Nur eines?«

»Bitte, keine dummen Bemerkungen. Ich meine es ernst. Was sollen wir Mutter sagen?«

»Oh, Himmel!«, sagte er bestürzt. »Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht.«

»Wir müssen sofort eine Entscheidung treffen, weißt du. Dabei mag ich es gar nicht, wenn ich etwas überstürzen muss. Es würde ihr sehr schwerfallen, die Wahrheit zu glauben, meinst du nicht? Vor allem, da sie sich dann damit abfinden müsste, dass sie gar nicht empfangen kann und dass ich aus eigenem Entschluss hier bin, nicht als Ergebnis ihrer Sehnsucht und Fruchtbarkeit. Würde es ihr das Herz brechen, wenn wir ihr gestehen, wer ich wirklich bin?«

Er dachte darüber nach. Er kannte seine Frau besser als sonst jemanden auf der Welt. Es lief ihm kalt über den Rücken bei der Erinnerung an den kurzen Moment der Seelenqual in ihren Augen, als er angedeutet hatte, er habe ihr seinen Ring nur aus Versehen an den Finger gesteckt. »Ja«, sagte er schließlich. »Wir dürfen es ihr nicht sagen.«

»Das dachte ich auch, aber ich wollte sichergehen.«

Da war noch eine andere Erinnerung, die Sperber unverständlich war. »Wieso hast du auch ihr jenen Traum gezeigt – den über die Insel, meine ich? Und warum hat sie von den Geschehnissen im Tempel geträumt? Es schien fast, als wäre sie dabei gewesen.«

»Sie war dabei, Vater. Das musste sie. Ich war wirklich nicht in der Lage, sie zurückzulassen und allein irgendwohin zu gehen, wie du weißt. Bitte lass mich hinunter.«

Sie glitt aus seinen Armen und rannte zum Fenster. »Komm her, Sperber«, rief sie gleich darauf.

Er trat zu ihr ans Fenster. »Was ist?«

»Mutter kommt zurück. Sie ist unten auf dem Hof mit Mirtai und Talen.«

Sperber blickte aus dem Fenster. »Ja«, bestätigte er.

»Ich werde eines Tages Königin sein, nicht wahr?«

»Falls du dich nicht entschließt, irgendwo Ziegen zu hüten.«

Sie überging seine Bemerkung und fragte ernst: »Dann werde ich einen Streiter brauchen, nicht wahr?«

»Das ist so üblich. Ich könnte dein Streiter sein, wenn du möchtest.«

»Mit achtzig? Jetzt bist du ja recht beeindruckend, Vater, aber ich fürchte, dass du im Lauf der Zeit doch ein wenig klapprig wirst.«

»Musstest du mir das unbedingt unter die Nase reiben?«

»Verzeih! Und ich werde auch einen Prinzgemahl brauchen, nicht wahr?«

»Das ist so üblich. Aber warum unterhalten wir uns schon jetzt über so etwas?«

»Ich hätte gern deinen Rat, Vater, und deine Einwilligung.«

»Übereilst du das nicht ein wenig? Vergiss nicht, du bist erst vier!«

»Ein Mädchen kann sich so etwas gar nicht früh genug durch den Kopf gehen lassen.« Sie deutete hinunter auf den Hof. »Ich glaube, der da unten wäre genau richtig, was meinst du?« Es hörte sich nicht viel anders an, als würde sie eine neue Haarschleife auswählen.

»Talen?«

»Warum nicht? Ich mag ihn. Er wird Pandioner. Ritter Talen – auch wenn es schwerfällt, sich das vorzustellen. Er ist lustig und viel netter, als es den Anschein hat. Außerdem kann ich ihn beim Damespiel schlagen. Schließlich können wir nicht die ganze Zeit im Bett verbringen wie du und Mutter.«

»Danae!«

Sie blickte zu ihm auf. »Warum wirst du denn rot, Vater?«

»Schon gut. Aber hüte deine Zunge, oder ich sage deiner Mutter, wer du wirklich bist!«

»Gut«, antwortete Aphrael gelassen. »Dann erzähle ich ihr von Lillias. Wie würde dir das gefallen?«

Sie blickten einander an; dann lachten sie beide.

Es war etwa eine Woche später. Sperber saß in dem Gemach, das er als sein Arbeitszimmer benutzte, über den Schreibtisch gebeugt, und blickte erbost auf Graf von Lendas letzten Vorschlag – eine absurde Idee, welche die Lohnkosten der Regierung nahezu verdoppeln würde. Er kritzelte eine erbitterte Bemerkung darunter: »Warum machen wir nicht gleich alle im Königreich zu Staatsdienern, Lenda? Dann können wir gemeinsam verhungern.«

Die Tür ging auf, und seine Tochter trat ein. Sie hielt ein ziemlich mitgenommenes Plüschtier an einem Bein.

»Ich bin beschäftigt, Danae«, sagte er ein wenig schroff.

Sie schloss die Tür. »Du bist ein entsetzlicher Brummbär, Sperber!«, rügte sie ihn.

Er blickte sich rasch um, ging zur Verbindungstür und schloss sie. »Verzeih, Aphrael«, entschuldigte er sich. »Ich bin ein bisschen verärgert.«

»Das ist mir nicht entgangen. Jeder im Schloss hat es bemerkt.« Sie streckte ihm ihren Plüschbären entgegen. »Möchtest du Rollo einen Fußtritt versetzen, dass er durchs ganze Zimmer fliegt? Ihm ist es egal, und du fühlst dich dann vielleicht ein wenig besser.«

Sperber lachte verlegen. »Das ist tatsächlich Rollo, nicht wahr? Deine Mutter hat ihn genauso herumgeschleppt – bevor seine Füllung herauszufallen begann.«

»Sie hat ihn neu ausstopfen lassen und ihn mir geschenkt«, erwiderte Aphrael. »Ich vermute, ich soll ihn mit mir herumtragen, obwohl ich wirklich keinen Grund dafür sehe. Ich hätte viel lieber ein Zicklein.«

»Ich nehme an, du kommst wegen etwas Wichtigem.«

»Ja. Ich habe ein langes Gespräch mit den anderen geführt.«

Sein Verstand scheute vor der Bedeutung ihrer Worte ein wenig zurück. »Was haben sie gesagt?«

»Sehr freundlich waren sie nicht, Vater. Alle geben mir die Schuld für das, was in Zemoch geschehen ist. Sie wollten mir nicht einmal zuhören, als ich ihnen zu erklären versuchte, dass es deine Schuld war.«

»Meine? Wie nett von dir!«

»Sie wollen überhaupt nicht helfen«, fuhr sie fort. »Also wird es von dir und mir abhängen, fürchte ich.«

»Wir sollen die Welt in Ordnung bringen? Wir ganz allein?«

»So schwierig ist das nun auch wieder nicht, Vater. Ich habe bereits einiges in die Wege geleitet. Unsere Freunde müssten bald eintreffen. Tu so, als wärst du überrascht, sie wiederzusehen, und lass sie dann nicht mehr fort.«

»Werden sie uns helfen?«

»Sie werden mir helfen, Vater. Ich muss sie um mich haben, wenn es so weit ist. Ich werde sehr viel Liebe brauchen, um es zu schaffen. – Hallo, Mutter«, sagte sie, ohne sich zur Tür umzudrehen.

»Danae!«, rügte Ehlana ihre Tochter. »Du weißt, dass du deinen Vater nicht stören sollst, wenn er arbeitet.«

»Rollo wollte zu ihm, Mutter«, log Danae geschickt. »Ich habe ihm gesagt, dass wir Vater nicht stören dürfen, wenn er beschäftigt ist, aber du weißt doch, wie Rollo ist.« Sie sagte es so ernst, dass es fast glaubhaft klang. Dann hob sie den verleumdeten Bären und drohte ihm mit dem Finger. »Schlimmer, schlimmer Rollo!«, schalt sie ihn.

Ehlana lachte und ging zu ihrer Tochter. »Man kann ihr einfach nicht böse sein, nicht wahr?«, sagte sie glücklich zu Sperber, als sie sich niederkniete und das kleine Mädchen in die Arme schloss.

»Da hast du recht.« Er lächelte. »Da ist sie dir sehr ähnlich.« Er verzog scheinbar resigniert das Gesicht. »Ich glaube, es ist mein Schicksal, mich von zwei mit allen Wassern gewaschenen kleinen Mädchen um den Finger wickeln zu lassen.«

Prinzessin Danae und ihre Mutter schmiegten die Wangen aneinander und bedachten ihn mit einem beinahe identischen Blick gespielter Unschuld.

Am nächsten Tag trafen ihre Freunde nacheinander ein, und seltsamerweise hatte jeder einen triftigen Grund gehabt, nach Cimmura zu kommen. In der Hauptsache war es die Überbringung unerfreulicher Neuigkeiten. Ulath war von Emsat in den Süden gereist und schilderte, dass die Jahre unmäßigen Trinkens schließlich ihren Tribut von König Warguns Leber forderten. »Er hat die Farbe einer Aprikose«, behauptete der hünenhafte Thalesier. Tynian erzählte, dass der greise König Obler nun offenbar senil wurde. Und Bevier berichtete, dass aus Rendor immer deutlicher von der Wahrscheinlichkeit einer neuerlichen eshandistischen Erhebung die Rede war. Im auffälligen Gegensatz dazu konnte Stragen melden, dass sein Geschäft einen erstaunlichen Aufschwung genommen hatte, und gerade diese Nachricht war vermutlich schlimmer als die übrigen.

Trotz all der schlechten Neuigkeiten nutzten die alten Freunde diese scheinbar zufällige Zusammenkunft, um ihr Wiedersehen zu feiern.

Es war schön, sie alle wieder um sich zu haben, fand Sperber, als er eines Morgens leise, um seine noch schlafende Gemahlin nicht zu wecken, aus dem Bett schlüpfte, obwohl er noch sehr müde war. Dadurch, dass er und die alten Gefährten meist die halbe Nacht beisammensaßen, er aber früh aufstehen musste, um seine Pflichten nicht zu vernachlässigen, fand er nur wenig Schlaf.

»Schließ die Tür, Vater«, bat Danae leise, als er aus dem Schlafgemach trat. Sie hatte sich im Nachtgewand in einen großen Sessel am Kamin gekuschelt, und an ihren nackten Füßen waren unverkennbar Grasflecken.

Sperber nickte, schloss die Tür und setzte sich zu ihr ans Feuer.

»Da sie jetzt alle hier sind, Sperber«, sagte Danae, »sollten wir anfangen.«

»Was genau müssen wir tun?«, fragte er.

»Du wirst einen Ausritt vorschlagen.«

»Dazu brauche ich einen Grund, Danae. Für einen Ausflug ist das Wetter nicht sehr geeignet.«

»Der Grund ist unwichtig, Vater. Lass dir etwas einfallen. Was es auch ist, alle werden es für eine großartige Idee halten – das verspreche ich dir. Reitet Richtung Demos. Sephrenia, Vanion und ich werden uns euch ein Stück außerhalb der Stadt anschließen.«

»Würdest du mir das erklären? Du bist bereits hier.«

»Ich werde auch dort sein, Sperber.«

»Gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten?«

»So schwierig ist das wirklich nicht, Sperber. Das tun wir oft.«

»Schon möglich, aber auf diese Weise wird deine Identität nicht gewahrt bleiben, weißt du.«

»Keine Angst. Für deine Freunde werde ich wie Flöte aussehen.«

»Der Unterschied zwischen dir und Flöte ist nicht sehr groß, das solltest du wissen.«

»Nicht für dich, aber die anderen sehen mich ein bisschen anders.« Sie erhob sich aus dem Sessel. »Kümmere dich darum, Sperber!«, sagte sie. Dann ging sie zur Tür, wobei sie Rollo hinter sich herzog.

»Ich geb es auf«, brummte Sperber.

»Das habe ich gehört, Vater«, sagte sie, ohne sich umzudrehen.

Als sie später alle beim Frühstück zusammensaßen, sagte Kalten etwas, das Sperber sehr zu Hilfe kam. »Ich wünschte, wir alle könnten Cimmura ein paar Tage den Rücken kehren«, klagte der blonde Pandioner. Er blickte Ehlana an. »Das soll keine Beleidigung sein, Majestät, aber das Schloss ist wirklich nicht der richtige Ort für ein fröhliches Wiedersehen. Jedes Mal, wenn es gemütlich zu werden anfängt, kommt irgendein Höfling mit irgendwas herein, das unbedingt Sperbers Entscheidung erfordert.«

»Da hat er recht«, bestätigte Ulath. »Ein fröhliches Wiedersehen ähnelt in gewisser Weise einer ordentlichen Wirtshausrauferei. Sie macht nicht halb so viel Spaß, wenn sie unterbrochen wird, kaum dass sie in Schwung gekommen ist.«

Da fiel Sperber etwas ein. »Hast du es vor ein paar Tagen ernst gemeint, Liebling?«, fragte er seine Frau.

»Ich meine es immer ernst, Sperber. Welchen Tag meinst du?«

»Als du versucht hast, mir ein Herzogtum zu übergeben?«

»Das versuche ich bereits seit vier Jahren. Ich weiß gar nicht, warum ich mir noch die Mühe mache. Du findest ja immer einen Grund, es auszuschlagen.«

»Das sollte ich wohl wirklich nicht – wenigstens nicht, bevor ich eine Gelegenheit hatte, sie mir alle anzusehen.«

»Worauf willst du hinaus, Sperber?«, fragte sie.

»Wir brauchen einfach einen Ort, wo wir ungestört feiern können, Ehlana.«

»Zechen«, verbesserte ihn Ulath.

Sperber grinste ihn an. »Wie auch immer«, fuhr er fort, »ich sollte mir dieses Herzogtum wirklich ansehen. Soviel ich mich erinnere, liegt es vor Demos. Wir könnten auf jeden Fall das Herrenhaus genauer in Augenschein nehmen.«

»Wir?«, fragte sie.

»Ein guter Rat kann nie schaden, wenn man vorhat, eine Entscheidung zu treffen. Ich finde, wir alle sollten uns dieses Herzogtum ansehen. Was meint Ihr dazu?«

»Die wahre Stärke eines Führers liegt in seiner Fähigkeit, das Offensichtliche als eine neue Idee hinzustellen«, sagte Stragen gedehnt.

»Wir sollten endlich mal raus aus dem Schloss, Liebes«, wandte Sperber sich an seine Gemahlin. »Ein Ausflug schadet uns bestimmt nicht, und hier kann nicht viel mehr passieren, als dass Lenda während unserer Abwesenheit ein paar Dutzend seiner Verwandten in den Staatsdienst stellt.«

»Ich wünsche euch recht viel Vergnügen, meine Freunde«, sagte Platime, »aber ich bin ein weichherziger Bursche und kann es nicht mehr mit ansehen, wie selbst ein kräftiges Pferd leidet oder gar zusammenbricht, sobald ich aufsitze. Ich bleibe lieber hier und behalte Lenda im Auge.«

»Ihr könnt in der Kutsche mitfahren«, bot Mirtai ihm an.

»In welcher Kutsche?«, fragte Ehlana.

»In jener, in der Ihr vor Wind und Wetter geschützt reisen werdet.«

»Ich brauche keine Kutsche!«

Mirtais Augen funkelten. »Ehlana!«, sagte sie scharf. »Widersprecht nicht!«

»Aber …«

»Ehlana!«

»Schon gut, Mirtai.« Die Königin gab seufzend nach.

Sie begannen ihren Ausflug geradezu in Festtagsstimmung. Sogar Faran spürte es, und sein Beitrag zur Hochstimmung bestand darin, dass er Sperber gleichzeitig auf beide Füße trat, während sein Herr aufsitzen wollte.

Selbst das Wetter spielte beinahe mit. Der Himmel war nicht duster und bewölkt, sondern nur mit leichtem Grau überzogen, und die beißende Kälte, die fast den gesamten Winter ungebrochen gewesen war, ließ ein wenig nach und wurde erträglicher. Nicht der geringste Lufthauch war zu spüren, was Sperber voll Unbehagen an das endlose Jetzt jenes Augenblicks erinnerte, den der Trollgott Ghnomb für sie angehalten hatte, als sie von Paler ostwärts gezogen waren.

Sie ritten aus Cimmura und folgten der Landstraße, die nach Lenda und Demos führte. Sperber wurde glücklicherweise um die Möglichkeit gebracht, seine Tochter an zwei Orten gleichzeitig zu sehen, weil Mirtai entschieden hatte, dass die kleine Prinzessin bei ihrer Kinderfrau im Schloss bleiben solle, da ein Ausflug bei diesem Wetter ungesund für sie wäre. Sperber sah schon jetzt voraus, wie Mirtai und Danae später aneinandergeraten würden, wenn beide ihren Willen durchsetzen wollten. Um ganz ehrlich zu sein, er war außerordentlich gespannt darauf.

Unweit der Stelle, wo sie seinerzeit auf den Sucher gestoßen waren, sahen sie Sephrenia und Vanion an einem kleinen Feuer sitzen, während Flöte es sich auf dem Ast einer nahen Eiche bequem gemacht hatte. Vanion, der jünger und kräftiger aussah als seit Jahren, erhob sich, um die Freunde zu begrüßen. Wie Sperber es beinahe schon erwartet hatte, trug Vanion ein weißes styrisches Gewand ohne Waffengurt.

»Ich hoffe, es ist Euch gut ergangen«, wandte der große Pandioner sich an Vanion, als er absaß.

»Erträglich, Sperber. Und Euch?«

»Ich kann mich nicht beklagen.«

Dann vergaßen sie die steife Förmlichkeit und umarmten einander heftig, während die anderen sich um sie scharten.

»Wer wurde zu meinem Nachfolger erkoren?«, erkundigte Vanion sich.

»Wir haben der Hierokratie dringend nahegelegt, Kalten zu ernennen«, antwortete Sperber ihm unbewegt.

»Was?« , rief Vanion bestürzt.

»Sperber!«, rügte Ehlana ihren Gemahl. »Lass das grausame Spiel!«

»Es sollte nur ein kleiner Scherz sein, Vanion«, sagte Kalten säuerlich. »Manchmal ist sein Humor so schief wie seine Nase. Er ist es, dem die Verantwortung übertragen wurde.«

»Gott sei Dank!«, sagte Vanion inbrünstig.

»Dolmant versucht schon die ganze Zeit, ihn zur endgültigen Übernahme des Amtes zu überreden, aber unser Freund lehnt es immer wieder ab – mit der Ausrede, dass er ohnehin schon zu viel zu tun habe.«

»Wenn ihr versucht, mir noch mehr aufzuhalsen, komme ich bald überhaupt nicht mehr zum Verschnaufen«, beschwerte sich Sperber.

Ehlana blickte mit einer gewissen Ehrfurcht und Scheu auf Flöte, die auf dem Ast die grünbefleckten Füße übereinandergeschlagen hatte und die Syrinx an die Lippen hielt. »Sie sieht genauso aus wie in jenem Traum«, flüsterte Ehlana Sperber zu.

»Sie verändert sich nie«, erwiderte Sperber. »Na ja, jedenfalls nicht sehr.«

»Dürfen wir sie ansprechen?« Aus den Augen der jungen Königin sprach ein wenig Angst.

»Warum kommst du nicht näher, Ehlana?«, fragte Flöte.

»Wie soll ich sie anreden?«, fragte die Königin nervös ihren Gemahl.

Er zuckte mit den Schultern. »Wir rufen sie Flöte. Ihr anderer Name ist ein wenig zu förmlich.«

»Hilf mir runter, Ulath«, befahl die Kleine.

»Ja, Flöte«, antwortete der hünenhafte Thalesier. Er trat unter den Baum, hob die niedliche Göttin herunter und stellte sie auf das winterdürre Gras.

Flöte nutzte den Vorteil, dass sie als Danae außer ihrer Mutter auch Stragen, Platime, Kring und Mirtai kannte, auf geradezu schändliche Weise. Sie sprach in völlig vertrautem Tonfall zu ihnen, was deren ehrfürchtige Scheu vor der Göttin nur steigerte. Vor allem Mirtai wirkte völlig verschüchtert. »Nun, Ehlana«, sagte die Kleine schließlich, »hast du die Sprache verloren? Willst du mir nicht einmal für den großartigen Gemahl danken, den ich dir verschafft habe?«

»Du schwindelst, Aphrael«, rügte Sephrenia sie.

»Ich weiß, liebe Schwester, aber es macht so viel Spaß.«

Da musste Ehlana lachen. Sie streckte die Arme aus, und Flöte rannte begeistert zu ihr.

Flöte und Sephrenia setzten sich zu Ehlana, Mirtai und Platime in die Kutsche. Kurz bevor sie aufbrachen, streckte die kleine Göttin den Kopf aus dem Fenster. »Talen«, rief sie lächelnd.

»Ja?«, fragte Talen vorsichtig.

Sperber war ziemlich sicher, dass Talen eine dieser erschreckenden Vorahnungen hatte, die in jungen Männern und Beutetieren fast auf dieselbe Weise erwachten, wenn sie sich gejagt fühlen.

»Setz dich doch zu uns in die Kutsche«, forderte Aphrael ihn mit honigsüßer Stimme auf.

Talen blickte Sperber fast flehend an.

»Geh schon«, befahl Sperber. Gewiss, Talen war sein Freund, aber Danae war schließlich seine Tochter.

Dann setzten sie ihren Weg fort. Nach einigen Meilen beschlich Sperber ein unheimliches Gefühl. Obwohl er seit seiner Jugend ungezählte Male auf dieser Straße zwischen Cimmura und Demos geritten war, erschien sie ihm plötzlich fremd. Es gab Hügel an Stellen, wo keine hätten sein sollen, und sie kamen an einem stattlichen Hof vorbei, den Sperber noch nie gesehen hatte. Er zog seine Karte hervor und warf einen Blick darauf.

»Was ist los?«, fragte Kalten.

»Hältst du es für möglich, dass wir irgendwo falsch abgebogen sind? Seit über zwanzig Jahren nehme ich schon diese Straße, aber plötzlich sehe ich keinen vertrauten Orientierungspunkt mehr.«

»Oh, großartig, Sperber!«, sagte Kalten kichernd. Er blickte über die Schulter zu den anderen. »Unserem glorreichen Feldherrn ist es gelungen, sich zu verirren«, erklärte er. »Wir sind ihm blind durch die halbe Welt gefolgt, und jetzt kennt er sich zwanzig Meilen von zu Hause entfernt nicht mehr aus. Ich weiß nicht, wie Ihr es seht, aber mein Vertrauen in ihn schwindet rapide.«

»Möchtest du uns führen?«, fragte Sperber ihn gereizt.

»Und mir diese Gelegenheit entgehen lassen, nichts zu tun, außer zu nörgeln und zu kritisieren? Nie und nimmer!«

Es sah nicht danach aus, als würden sie vor Anbruch der Dunkelheit irgendein erkennbares Ziel erreichen, und sie waren keineswegs darauf vorbereitet, die Nacht im Freien zu verbringen. Sperbers Besorgnis wuchs.

Flöte streckte den Kopf aus einem Fenster der Kutsche.

»Was ist los, Sperber?«, erkundigte sie sich.

»Wir müssen ein Nachtquartier finden«, antwortete er, »aber wir sind auf den letzten zehn Meilen an keinem einzigen Haus vorübergekommen.«

»Reite nur weiter, Sperber«, wies sie ihn an.

»Es wird bald dunkel, Flöte.«

»Dann sollten wir uns beeilen.« Sie verschwand wieder in der Kutsche.

Von einer Hügelkuppe blickten sie in der Dämmerung über ein Tal, das einfach nicht sein konnte , wo es war. Unter ihnen breiteten sich sanft gewellte, von Birkenhainen unterbrochene Wiesen aus. Auf halber Höhe des Hanges stand ein niedriges, strohgedecktes Haus, aus dessen Fenstern goldschimmernd Kerzenlicht schien.

»Vielleicht nehmen sie uns für die Nacht auf«, sagte Stragen hoffnungsvoll.

»Nur weiter, meine Herren«, rief Flöte aus der Kutsche. »Das Abendessen steht bereit. Es wäre unhöflich, es kalt werden zu lassen.«

»Aphrael ist wohl immer für eine Überraschung gut?«, meinte Stragen.

»Oh ja«, bestätigte Sperber, »das ist ihr größtes Vergnügen.«

Wäre es ein bisschen kleiner gewesen, hätte man das Haus als Hütte bezeichnen können. Doch die Zimmer waren groß, und es gab erstaunlich viele. Die Möbel waren bäuerlich, aber gut gearbeitet. Überall standen Kerzen, und in jedem der blitzblanken Kamine brannte ein gemütliches Feuer. Auf einem langen, reich gedeckten Tisch in der großen Stube wartete ein üppiges Bankett auf sie. Doch außer ihnen befand sich keine Menschenseele im Haus.

»Gefällt es euch?«, fragte Flöte mit seltsam besorgter Miene.

»Es ist wundervoll«, versicherte Ehlana ihr und umarmte die Kleine.

»Es tut mir leid«, erklärte Flöte entschuldigend, »ich konnte mich einfach nicht überwinden, euch Schinken vorzusetzen. Ich weiß zwar, wie gern ihr Elenier Schweinefleisch esst, aber …« Sie schauderte.

»Ich glaube, wir werden es nicht sehr vermissen, Flöte.« Kalten betrachtete die Tafel mit leuchtenden Augen. »Nicht wahr, Platime?«

Der fette Dieb blickte fast ehrfürchtig auf die vielen Speisen. »Meine Güte, ja, Kalten«, pflichtete er ihm begeistert bei. »Es sieht alles köstlich aus.«

Ohne Ausnahme aßen alle mehr, als gut für sie war, und seufzten anschließend in wohliger Sattheit.

Berit kam um den Tisch und lehnte sich über Sperbers Schulter. »Sie macht es schon wieder, Sperber«, murmelte der junge Ritter.

»Was?«

»Die Feuer brennen, seit wir hier sind, trotzdem muss noch immer kein Holz nachgelegt werden. Und die Kerzen werden nicht kürzer!«

Sperber zuckte mit den Schultern. »Es ist ihr Haus, nehme ich an.«

»Ich weiß, aber …« Berit fühlte sich sichtlich nicht wohl. »Es ist unnatürlich«, sagte er schließlich.

»Berit«, erinnerte Sperber ihn mit sanftem Lächeln, »wir sind durch eine unmögliche Gegend geritten, haben ein Haus erreicht, das nicht wirklich hier ist, und speisen ein Festmahl, das niemand zubereitet hat, und Ihr macht Euch Sorgen wegen ein paar Kleinigkeiten wie endlos brennende Kerzen und ein Kaminfeuer, das kein Holz braucht?«

Berit lachte und kehrte zu seinem Stuhl zurück.

Die Kindgöttin nahm ihre Pflichten als Gastgeberin sehr ernst. Sie schien sogar besorgt, es könne irgendetwas nicht perfekt sein, als sie ihre Gäste zu den Zimmern brachte, und erklärte übereifrig Dinge, die gar nicht erklärt werden mussten.

»Sie ist ein so liebes, niedliches Kind, findest du nicht?«, sagte Ehlana zu Sperber, als sie allein waren. »Sie macht sich offenbar große Sorgen um die Bequemlichkeit und das Wohlbefinden ihrer Gäste.«

»Für Styriker ist dergleichen nicht so wichtig«, erklärte Sperber. »Flöte ist nicht an Elenier gewöhnt, und wir machen sie nervös.« Er lächelte. »Sie gibt sich sehr viel Mühe, einen guten Eindruck zu machen.«

»Aber sie ist eine Göttin.«

»Sie ist trotzdem nervös.«

»Bilde ich es mir nur ein, oder ist sie unserer Danae wirklich so ähnlich?«

»Alle kleinen Mädchen sehen sich ähnlich, nehme ich an«, antwortete er vorsichtig, »genau wie alle kleinen Jungen.«

»Vielleicht«, räumte Ehlana ein, »aber sie riecht sogar wie Danae, und beide haben offenbar eine Vorliebe für Küsse.« Sie hielt inne, dann strahlte sie. »Wir sollten sie zusammenbringen, Sperber. Sie würden einander bestimmt mögen und wundervolle Spielgefährten werden.«

Bei der Vorstellung verschlug es Sperber fast die Sprache.

Der Rhythmus des Hufschlags, der Sperber schon früh am nächsten Morgen weckte, klang vertraut.

»Was ist los, Liebling?«, fragte Ehlana verschlafen.

»Faran hat sich offenbar losgerissen«, antwortete Sperber.

»Er wird doch nicht durchgehen, oder?«

»Und sich um den ganzen Spaß bringen, den es ihm machen wird, mich den halben Vormittag hinter sich herzuhetzen? Ganz bestimmt nicht.« Sperber schlüpfte in einen bereitliegenden Morgenrock und trat ans Fenster. Erst da hörte er Flötes Syrinx.

Der Himmel über diesem geheimnisvollen Tal war bedeckt, wie es den ganzen Winter lang gewesen war. Schmutzig graue Wolken erstreckten sich, von einem stürmischen Wind getrieben, kalt und düster von Horizont zu Horizont.

Unweit des Hauses befand sich eine Wiese, auf der Faran in leichtem Galopp im Kreis lief. Er trug weder Sattel noch Zaumzeug und wirkte freudig erregt. Flöte lag auf seinem Rücken und blies ihre Syrinx. Ihr Köpfchen ruhte bequem zwischen seinen mächtigen Schultern. Sie hatte die Knie übereinandergeschlagen und trommelte mit einem Fuß den Takt auf die Kruppe des kräftigen Fuchses. Diese Szene – Aphrael auf dem Rücken liegend auf dem mächtigen Hengst – war so vertraut, dass Sperber die Augen aufriss.

»Ehlana«, rief er schließlich, »das musst du dir ansehen.«

Sie kam zu ihm ans Fenster. »Was in aller Welt tut sie da?«, rief sie erschrocken. »Du musst sie aufhalten, Sperber! Sie wird herunterfallen und sich verletzen.«

»Das wird sie bestimmt nicht. Sie und Faran spielen nicht zum ersten Mal so. Er wird sie nicht hinunterfallen lassen – selbst wenn es wirklich geschehen könnte.«

»Was machen sie denn?«

»Ich habe keine Ahnung«, gestand er, obwohl das nicht ganz stimmte. »Aber ich glaube, dass es bedeutungsvoll ist«, fügte er hinzu.

Er lehnte sich aus dem Fenster und blickte zuerst nach links, dann nach rechts. Auch die anderen standen an den Fenstern und starrten auf ihre kleine Gastgeberin.

Der stürmische Wind ließ nach und erstarb, während Flöte ihre muntere Weise blies, und das trockene Rascheln des winterdürren Grases vor dem Tor verstummte.

Das jubelnde Trillern der Kindgöttin stieg zum Himmel auf, als Faran unermüdlich im Kreis kanterte, und während sie spielte, öffnete sich das schmutzige Grau der Wolken und rollte zurück, beinahe wie eine Bettdecke, die zurückgeschlagen wird, und ein tiefblauer Himmel mit vereinzelten, vom Sonnenaufgang getönten Wattewölkchen kam zum Vorschein.

Sperber und die anderen blickten staunend zu diesem wundervollen Himmel auf, und wie es Kindern manchmal ergeht, sahen sie lila Drachen und rosarote Greifen in den Wolken, die wogten und verschmolzen und sich übereinandertürmten, höher und höher, und sich auflösten, als alle Geister der Luft und der Erde und des Himmels zusammenkamen, um den Frühling willkommen zu heißen, den die Welt bereits für immer verloren geglaubt hatte.

Die Kindgöttin Aphrael erhob sich und stand nun auf dem Rücken des mächtigen Fuchses. Ihr glänzend schwarzes Haar flatterte, und die Klänge ihrer Flöte schwebten dem Sonnenaufgang entgegen. Und dann, ohne in ihrem Spiel innezuhalten, fing sie zu tanzen an. Sie wiegte sich und drehte sich, und ihre grasfleckigen Füßchen wirbelten im Rhythmus ihres Liedes.

Erde und Himmel und Farans breiter Rücken waren für Aphrael eins, als sie tanzte, und sie drehte sich in der stillen Luft ebenso geschickt wie im jetzt grünen Gras und auf dem Rücken des kanternden Pferdes.

Ehrfürchtig beobachteten die Gefährten sie aus dem Haus, das es nicht wirklich gab, und die Schwermut fiel von ihnen ab. Ihre Herzen öffneten sich weit, als die Kindgöttin das fröhliche, immer neue Lied von Erlösung und Erneuerung für sie spielte. Denn nun war der trostlose Winter zu Ende und der Frühling wiedergekehrt.