Manchmal frage ich mich, ob ich wirklich Dir schreibe oder eher mir selbst. Ob das Gespräch mit Dir nicht auch ein Selbstgespräch ist. Denn was ich Dir erzähle, erfahre ich so von mir.
«Ein Brief ist eine Seele», hat Balzac gesagt.
Erzähl es – Deine zwei kleinen Worte beschäftigen mich nun schon seit vielen Monaten. Das kleine «es» mäandert durch mein Leben. Findet hier und da und auch noch dort Erzählfutter. Treibt sich im Gedächtnis herum. Ein seltsamer Ort, an dem das Vergessen so gern und häufig zu Hause ist wie die Erinnerung. Und da Wissenschaftler das menschliche Hirn als die komplexeste Struktur des gesamten bekannten Universums beschreiben, in dem unter anderem zahlreiche und weitgehend voneinander unabhängige Gedächtnissysteme existieren, ist die Arbeit, die dort geleistet oder unterlassen wird, immer wieder ein staunenswertes Ereignis. Wie funktioniert das autobiographische Langzeitgedächtnis, lokalisierbar im Hippocampus und noch lange nicht entzifferbar. Inwieweit bestimmt das Gedächtnis das Skript unseres Lebens? Wie kann es sein, dass Erinnerungen auf einmal wach werden, die über Jahrzehnte verborgen und einbetoniert in uns schwiegen? Und was ist mit dem, was wir aus dem Gedächtnis verloren? Formt und beeinflusst auch Vergessenes – unbewusst – unsere Lebensgeschichte?
Die französische Schriftstellerin Cécile Wajsbrot hat einen so aufregenden wie beunruhigenden Roman über das Vergessen und das Erinnern geschrieben. Ihr Protagonist Louis Mérian hat über Jahrzehnte nicht einmal geahnt, dass er eine Vergangenheit in sich trägt, die ihn belasten könnte. Dreißig Jahre lang hat er höchst erfolgreich jeden Abend eine Radiosendung moderiert, in der Stunde zwischen Abend und Nacht, die vage, träumerisch, besinnlich sein könnte, eine Stunde der Wahrheit – die Mérian allerdings nur hin und wieder seinen Gästen entlockt. Denn da er seine eigene Wahrheit nicht kennen will, kann er sie auch bei anderen nicht suchen. Und dann ist eines Tages innerhalb von Sekunden sein vergessenes Leben von vor fünfzig Jahren wieder da. Flashback nennt man, was hier geschieht, in der Psychoanalyse. In diesem Moment weiß er wieder, dass er vor einem halben Jahrhundert eine junge Frau geliebt und verraten hat. Sarah war Jüdin und gefährdet in dem von den Deutschen besetzten Paris. Sie arbeitete überdies für die Résistance. Einmal bittet Sarah ihren Geliebten um Hilfe, aber der junge Mann ist zu träge oder zu feige. Danach ist sie verschwunden, er hört nie wieder von ihr – und hat nie wieder an sie gedacht. Kann Verdrängung tatsächlich zum Vergessen führen? Traumaforscher sprechen von «dissoziativer Amnesie». Und Louis Mérian ist traumatisiert. Sarah ist deportiert und ermordet worden. Und er hat nicht einmal versucht, sie zu retten.
Ich habe dieses Buch mit Bangen und Schrecken gelesen. Wie kann man sich kennen, sich vertrauen, sich selbst leben, wenn existenzielle Erfahrungen einfach verschwinden können aus dem eigenen Bewusstsein. Was lebt in einem, von dem man nichts weiß. Welche vergessene Vergangenheit prägt die gelebte Gegenwart.
Wenn in Krisen jenes Ich aus einem emporsteigt, das man vor allem ist, dann war mein Kern-Ich eine Angstfrau. Fritz Riemann, einer der Urväter der Angstforschung, hat erklärt, dass man neurotische Ängste als Alarmzeichen dafür nehmen solle, dass wir etwas vermeiden wollen, statt uns damit auseinanderzusetzen. Demnach sind neurotische Ängste vorgeschobene Ängste, sind Ersatzängste für unbewältigte, unbearbeitete Fragen. Ging es also hier nicht nur um die neue Angst um ihn, um sein Überleben, sondern auch um alte Schrecken von mir? Hat seine Krankheit meine Angst- und Verlassenheitsgefühle aus fernen Zeiten in eine schwindelnd rasende Fahrt versetzt, weil verschollene Erinnerungen aus der Dunkelheit auftauchen und mich überrennen wie die Kakerlaken in meiner New Yorker Küche, wenn man das Licht einschaltete.
Du, liebste Freundin, hast meine Ohnmacht, meinen Furor, meinen Kräfteverfall erlebt. Ich musste in die Grube meiner Kindheitskrankheit, in die ich wirklich nicht wieder einfahren wollte.
Ich war neun Jahre alt, als es geschah. Wieder ein «es».
Ein kleines blondes Mädchen liegt im Bett und schreit. Seit Wochen hat es hier schon gelegen – im ersten Stock des Elternhauses, in einem hellen Zimmer, das von einem langen, dunklen Flur abgeht. Das Haus ist groß. Die anderen sind meist weit weg. Monatelang hatte man das Kind verschiedenen Ärzten vorgeführt, weil es vor Schmerzen kaum gehen konnte. Verkappte Kinderlähmung hatte einer diagnostiziert und Bewegung verschrieben, was die Qual beim Gehen nicht linderte, und so hatte der nächste Arzt – ähnlich fahrlässig und ahnungslos – Wachstumsschmerzen ausgemacht, hatte Bettruhe verordnet und zweimal in der Woche ein sehr heißes Bad. Natürlich wurden alle Anweisungen penibel befolgt. Deshalb liegt es hier nun. Mitten im Sommer. Mitten in den Ferien. Gerade hat ihm die große Schwester sein Essen gebracht. Und das Mädchen hat sich mit beiden Händen hochgezogen, um senkrechter sitzen, um das Tablett auf dem Schoß balancieren zu können. Noch einmal schiebt es sich mit einem energischen Ruck an die Kissen im Rücken – und schreit auf. Ein unfassbarer Schmerz lässt den kleinen Körper zucken, jede Bewegung ist Marter. Das Kind weint, es wimmert und jammert und zittert. Vermutlich über Tage. Wenn es pieseln muss, dann schiebt man ihm ganz vorsichtig große Wattebäusche zwischen die Beine. Ob es gegessen hat, getrunken hat?
Wenn sie versucht, sich zu erinnern an die Tage, sieht sie Ausschnitte, nie das ganze Bild. Sieht immer wieder das gekrümmt im Bett liegende, weinende Kind. Es kommen Ärzte mit Diagnosen, Morphiumspritzen, Ratlosigkeit. Endlich die Gewissheit: Der Hüftkopf ist aus der Pfanne gesprungen. Eine Epiphysenlösung. Man kann nicht sagen, ob das kranke Kinderbein mitwachsen wird, ob das Kind je wieder wird gehen können. Und selbst bei bestem Verlauf wird es wohl Jahre dauern. Natürlich hört das Kind nichts von den Gesprächen, ahnt nichts von dem, was ihm geschieht und womöglich geschehen wird. Es spürt aber die verzweifelte Unsicherheit. Eine Bedrohung. Wie erzählt man einem Kind Not und Gefahr. Wie erzählt man Zuversicht? Hat überhaupt jemand je geredet mit ihm?
Die Eltern hatten Geld. Und so kam das Kind nicht ins Krankenhaus. Das Krankenhaus kam zum Kind. Es kam ein großes eisernes Bett, in dem es nun liegt auf dem Rücken. Beide Beine im Streckverband mit schweren Gewichten an den Füßen, die über das Ende des Krankenbettes hängen. Es kann sich nicht aufrichten, nicht auf die Seite drehen. Es ist schwierig zu essen, ohne zu kleckern. Es trinkt aus einer Schnabeltasse. Wie man ihm wohl die Haare gewaschen, sie getrocknet und gekämmt hat?
Es kamen die Unbeweglichkeit und die Stille, es kamen das Alleinsein und die Verlassenheit. Zwar hat die Mutter später erzählt, sie habe sich oft am Abend zu dem Mädchen ins Bett gelegt, um bei ihm zu sein, aber sie kann sich nicht erinnern daran. Wie hätte das Kind diese Nähe gebraucht, eine streichelnde Hand, eine Zuversicht, eine Zärtlichkeit. Aber es gibt keine Ahnung, kein Bild, keinen Nachhall. Sie spürt keinen Körper, keine beruhigende Hand, hört keine Stimme, die leise Worte murmelt.
Irgendwann – viel später – begreift sie: Die schöne, die strahlende Mutter war keine, die Zärtlichkeit schenken konnte, weil sie selbst hungerte danach. Sie konnte nicht geben, sondern musste nehmen. Brauchte selbst verzweifelt den Lebenstrost der Wärme, der ihr, der Unglücklichen, fehlte.
Und so rettet das Kind sich in die Gefühllosigkeit – das wird seine intuitive Überlebensstrategie. Vielleicht ist es das, was im Rückblick vor allem weh tut, diese emotionale Deformation einer Neunjährigen. Der Weg ins Eisfach der Unempfindlichkeit. Den so viele von uns kennen, die als Kinder auf die eine oder andere Weise verletzt worden sind.
Dieses Kind liegt Monate und dann noch viel länger im selben Zimmer, im selben Bett mit Blick auf denselben Vorhang, gelbe Blumen auf grüner Wiese. In seinem Blickfeld steht auch ein brauner hässlicher Kachelofen. Ein Relikt aus Kriegsjahren. Er ist nicht zufällig dort stehen geblieben, sondern aus Furcht – «falls wir ihn mal wieder brauchen». Die Nachkriegsangst wohnt mit dem Kind in dem Raum.
Die liebsten Erinnerungen sind die Tauben, wenn sie morgens früh vor dem Fenster den Tag begrüßen, oder wenn an heißen Nachmittagen ihr besänftigendes Sommergurren durch die halbgeschlossenen Fensterläden hineindringt ins Zimmer. Ein Trostgesang. Den dicken Vögeln abgelauscht im verdunkelten Raum.
Die schmerzlichsten Erinnerungen sind das laute Geplauder und Gelächter, das von unten heraufschallt, wenn Familie und Freunde sich zu gemeinsamen Mahlzeiten treffen. Im Winter sind es die begeisterten Rufe von rodelnden Kindern vor seinem Fenster. Es hört, wie sie jubeln, und kann sich nicht einmal aufrichten, um hinauszuschauen, ihnen zuzusehen.
Nach etwa einem halben Jahr im Bett hört das Kind auf zu essen. Weigert sich, auch nur einen Teelöffel Apfelmus oder Suppe zu sich zu nehmen, die man ihm ständig und immer besorgter vor den Mund hält. Es schüttelt den Kopf, kneift die Lippen zusammen und erklärt, nie wieder essen, nicht mehr leben zu wollen. Es ist inzwischen zehn Jahre alt. Jeden Morgen saugt es heimlich am Schwamm, mit dem man es wäscht, und übergibt sich. Wochenlang verweigert es jede Nahrung.
Weihnachten löst man die Gewichte von den bandagierten Beinen, hebt das Kind aus dem Bett, legt es auf einen Liegestuhl und trägt es ins Erdgeschoss, ins Weihnachtszimmer. Kamen Sanitäter, um es zu tragen? Das Kind ist jetzt in Räumen, die es über ein halbes Jahr nicht gesehen hat – das ist eine lange Zeit in seinem kurzen Leben. Es ist schön dort. Ganz anders als oben im ersten Stock. Hier sind Menschen, die hin- und hergehen, herumsitzen, miteinander reden, hier duftet es nach Tannenzweigen, brennenden Holzscheiten und Essen. Es liegt vor dem Weihnachtsbaum mit seinen grünen Kugeln, neben dem alten Sofa mit den dicken Noppen in der Rückenlehne, dem roten Sessel mit dem bestickten Kissen, vor sich das Feuer im Kamin, daneben das Wildschwein aus Leder mit dem abgerissenen Schwanz. Der Esstisch ist sorgfältig gedeckt. Silber und Kristall, altes Porzellan, Tannengestecke mit dicken Kerzen, Stoffservietten passend zur Tischdecke. Das Kind fühlt sich offenbar geborgen und getröstet. Denn als der Puter mit Sauerkraut auf den Tisch kommt, greift es nach einer Salzstange und isst sie. Und dann noch eine und noch eine. Das Kind hat glänzende Augen und kaut Salzstangen.
Endlich soll der Streckverband abgenommen werden. Aufregung, Hoffnung – vielleicht weiß sie es noch, aber vielleicht denkt sie auch nur, dass es so gewesen sein müsste. Es kommt ein Arzt mit schwarzer Brille – die Erinnerung sagt, er trägt auch einen schwarzen Anzug – und macht sich ohne Umstände entschlossen ans Werk. Ohne Tinktur und Tupfer. Er versucht gar nicht erst, den Pflasterverband sanft abzulösen. Mit groben Händen und schwitzend vor Anstrengung reißt er ab, was mehr als ein halbes Jahr auf den Kinderbeinen geklebt hat. Fetzt dem Kind den Verband und auch die Haut von den weichen Innenseiten der Schenkel, den Kniekehlen, dem empfindlichen Schienbein. Immer wieder. Mit grausamer Energie. Pflaster um Pflaster, Hautstreifen um Hautstreifen – so viele Pflaster, so viele Hautstreifen, es ist ein Herunterreißen, ein Schreien, ein zuckender Körper, ein Albtraum.
Der Arzt, der tatsächlich Mordhorst hieß, blieb auch danach der Hausarzt der Familie.
Und jetzt ist die Frau, die einst dieses Kind war, wieder Ärzten ausgeliefert – oder glaubt es zu sein. Und wehrt sich. Ist eingeschüchtert und begehrt auf. Hat tintendunkle Wut. Sie will den, der jetzt krank ist, mit Hilfe von Ärzten, aber eben auch vor Ärzten retten. Niemand soll ihm die Haut abreißen. Das Damals scheint auf. Sie erinnert sich. Und will sich nicht erinnern. Und muss es tun. Denn das hat sie irgendwann verstanden: Wenn sie an ihre Kraft will, muss sie durch die Urschlamm-Traurigkeit hindurch.
Das schöne Weihnachten, an dem das Kind seinen Hungerstreik aufgegeben hatte, war lange her. Und ein bisschen hatte es sich wohl getäuscht, im Gefühl von Lebenswärme geborgen zu sein, dort in dem schönen Zimmer mit dem großen Tannenbaum. Erst viel später macht ihre Schwester sie aufmerksam auf ein Foto, das die Mutter ins Jahresalbum geklebt hat.
Zu der Zeit des Fotos lag das Mädchen schon seit Jahren nicht mehr im Bett und ging auch nicht mehr an Krücken, aber es hinkte, zog ein Bein nach. War ein dickliches Humpelkind. Das die Eltern mitgenommen hatten in die Skiferien, obgleich es natürlich nicht Ski laufen durfte. Die Eltern residierten im Grandhotel, das Kind war mit dem Kindermädchen in einer kleinen Pension nebenan untergebracht. Als Erinnerung an diese gemeinsamen (sic!), sportlichen (sic!) Tage steckte nun im Fotoalbum die Postkarte einer flotten jungen Skifahrerin, deren Gesicht die Mutter mit dem Gesicht des lahmen Kindes überklebt hatte. Lustig sollte das sein. Lustig?
Schau mal genau hin, sagt ihre Schwester.
Schäbig, empört sich eine Freundin.
Eine Therapeutin hebt nur die Augenbrauen.
Und sie selbst?
In seinem Roman ‹Nach seinem Bilde› schreibt Jerome Ferrari über Fotografien: «… als würden sämtliche Augenblicke der Vergangenheit simultan weiterbestehen, nicht jedoch in Ewigkeit, sondern in einer unbegreiflichen Fortdauer der Gegenwart.» «Die Kindheit», hat Elisabeth Borchers einmal gesagt, «ist das Herz des Menschen.» Manchmal glaubt man, sich dieses Herz herausreißen zu müssen, um leben zu können. Und irrt. Weil das, was man loswerden wollte, mit Macht zurückdrängt in den Hohlraum, weil man ramponiert bleibt und nicht versteht, woher die innere Brüchigkeit kommt. Das wäre der Moment, Verbindung aufzunehmen mit der Vergangenheit, die man vergessen wollte, das verletzte Ich aufzuspüren, das man einst war. Was für ein Akt der Courage – und Courage hat die Frau, die einst dieses Kind war, über Jahrzehnte nicht gehabt. Sie verdrängte, vergaß, taumelte, strauchelte.
Als er krank wurde und krank blieb, wurde es hohe Zeit für sie, in die Kindheit und nach dem Kind zu schauen. Sie hatte es dort liegen lassen in seiner Not, seiner Traurigkeit, seinem Zärtlichkeitshunger, seinem Alleinsein. Hatte es nicht aufgenommen bei sich, um es nachträglich zu erlösen. Den freundlichen Blick auf Menschen hatte sie dort, wo sie herkam, nicht gelernt. Auch nicht den freundlichen Blick auf sich. Den sie jetzt so braucht. In der nächsten Krankheit. Seiner Krankheit. Den freundlichen Blick auf ihn und auf sich. Und den Mut, Verwundbarkeit zuzulassen.
Seelenkärgling, hat der Schriftsteller Albert Vigoleis Thelen einmal seinen Vater genannt. Und man sieht einen solchen Menschen vor sich, der die Muschelschale um sich herum zuklappt und sich einsperrt in eine unbekömmliche Unbiegsamkeit. Die einen allerdings für eine Weile scheinbar schützt. Flucht in Verdrängung ist so oft beides. Erst Notwendigkeit und dann Versäumnis. Und wenn man nicht spürt, wann der eine Zustand in den anderen kippt und man sich zu oft vor sich in sich versteckt, dann verliert man sich.
Jetzt also gilt es, verschlossene Seelentüren zu entriegeln, die Einfallstore für Gefühle zu öffnen, den alten Schmerz erneut zu spüren, den Panzer zu zertrümmern, der einen einst gerettet hat und dann so belagernd einengte. Es braucht viele Hammerschläge, um das Gehäuse zu zerlegen. Natürlich friert man dann jedes Mal, wenn man im Hemd im Lebenswind steht.
Der amerikanische native Autor Tommy Orange schreibt in seinem Roman ‹Dort Dort›: «Wir haben alle viel durchgemacht … in dieser Welt, die uns entweder zerbricht oder uns so hart macht, dass wir selbst dann nicht mehr zerbrechen, wenn es dringend notwendig wäre.» Nennen wir es Panzer oder Eisbox, in denen wir unsere verdrängten Ängste verwahrt haben. Und vermutlich frieren in vielen von uns viele kleine eiskalte Gestalten, die wir nun herausspazieren lassen könnten. Manche kriechen vor lauter Schreck gleich wieder zurück. Müssen immer wieder hervorgeholt werden. Es tut weh, wenn sie auftauen. Wie abgefrorene Zehen am Kamin.
David Grossman, der sich immer wieder aufmacht, den Kern des Menschen zu ergründen, «dieses Beben der Einmaligkeit», wie er es nennt, erzählt in seinem Roman ‹Kommt ein Pferd in die Bar›, von einem Mann, der sich hinter der Maske eines bösen und schrillen Comedian verbirgt, um den sensiblen Intellektuellen und das verletzte Kind in sich zu beschützen. Der sich im Eis der Unempfindlichkeit einzurichten versucht. Erst nach und nach begreift man, dass die scheinbare Abgebrühtheit sein Harnisch ist, um eine lebenslange Verzweiflung ertragen zu können. Jetzt wird die Rüstung aufgebrochen. Jetzt überlässt sich der Comedian geradezu tollkühn der Erinnerung, macht sich schutzlos, zeigt sich, sieht sich in all seinen Beschädigungen und lässt andere ihn sehen. Grossman zieht uns hinein in einen gähnenden Abgrund von Schmerz, Zorn und Schutzzynismus in diesem klugen, magischen, seelenwunden Roman.
Und dann, so sagt er es einmal so weise wie zärtlich in einem Gespräch über das Buch, dann komme nach dem Schmerz der Moment der Süße der Versöhnung mit sich, zwischen dem, der man war, und dem, der man ist.
«The sweetness of becoming one again.»
Für mich ist dieser Satz ein Lebenssatz geworden.
«The sweetness of becoming one again.»
Das zersplitterte Ich zusammenzufügen zu einem Ganzen. Ein einiges Ich zu werden.
Und das ist die Hoffnung: auch dann, wenn man wieder einmal ein Stück seiner verbannten Kindheitsnot in diese oder jene Lebenskrise hineingeschleppt hat. Der neuen Herausforderung mit einem besänftigten, befreiten und versöhnten Ich begegnen zu können.