Sein Sterben zu Hause

Was ist wichtiger, Beerdigung oder Fest
Fest, sagt er

Das Leben ist ein vorübergehender Zustand.

Irgendwann ist es Zeit zu begreifen, was man längst weiß. Und die Frage zu gewahren, die sich ins Bewusstsein schlängelt: Wo man begraben sein möchte. Nur, wie darüber reden mit einem Mann, der den Tod vielleicht schon kommen hört?

Ich möchte gern wissen, sage ich eines Tages zu ihm, wo ich sein werde, wenn ich tot bin. Ich will mir einen Friedhof ansehen und einen Grabplatz aussuchen. Willst du mitkommen? Und willst du später dort liegen mit mir?

Er will. Und grinst. Als hättest du mir gerade einen Heiratsantrag gemacht, sagt er, fürs Jenseits.

 

Und so fahren wir an einem sonnigen Tag im frühen Sommer zu einem Friedhof, auf dem Freunde sich kurz zuvor eingemietet haben. Genau so haben sie es

Einmal habe ich mit meinen Enkeln dort Verstecken gespielt. Nachdem sie zuvor ein Tipi gebaut hatten für ihn und sich hingekniet hatten vor seinem Grab. Sind wir zu laut, fragen sie mitten im Spiel? Ich glaube, die Toten freuen sich, wenn hier mal was los ist, sage ich – und sie toben weiter.

Doch noch suchen wir dort nach dem richtigen Grabplatz. Er schaut sich aufmerksam um. Lässt sich mit schmerzgeplagtem Gesicht von der Pflegerin über Stock und Stein und Grashubbel fahren. Weiter, sagt er, wenn uns ein Platz nicht gefallen hat, weiter. Und dann

Hier ist es gut, sagt er. Jetzt, sagt er, muss ich nur noch laufen lernen, sonst finde ich hier nicht wieder hin.

Ich bin mir nicht sicher, ob er grinst – oder ob die Verwirrung sich schon langsam einnistet in ihn.

Die Holzkirche des Friedhofs, gebaut nach dem Vorbild norwegischer Stabkirchen, ist innen mit Intarsien geschmückt.

Das ist mein Ort, sagt er.

Wir melden uns an, mieten uns ein. Einzug unbestimmt.

 

Ich bin erstaunt, wie froh ich bin zu wissen, wo wir liegen werden, wie mich die Entscheidung erleichtert, ja beruhigt. Nicht nur zu wissen, wo ich ihn begraben werde, sondern auch zu wissen, wo ich sein werde. Es könnte einem doch wirklich egal sein. Man könnte doch irgendwo untergebracht werden. Früher wollte ich verstreut werden im Meer – doch dann habe ich geträumt, dass ich als Asche dort schwamm und mich verirrte, verzweifelt herumirrte, weil ich das Meer nicht erkannte. Es war ein Albtraum. Seitdem will ich ein Grab. Einen Platz, den ich kenne.

Könnten Sie im Alter in ein Hotel ziehen, wurde ich einmal gefragt. Und ich habe gezögert. Dachte keine Sekunde an die Kosten, sondern mit lustvollem Vergnügen an das gepflegte Frühstück, das mir jeden Morgen mit einer weißen Stoffserviette auf dem Teewagen ins Zimmer gerollt würde. Dachte an den täglichen Drink am Abend in der Bar, immer am selben Tisch sitzend, an dem mir der Barkeeper meinen White Russian brächte, ohne dass ich ihn bestellen müsste. Hörte die wispernden Fragen an ihn von den anderen Gästen nach der schrulligen Alten, die dort jeden Abend in der Ecke vor sich hinsinnend genüsslich an ihrem Glas nippt. Ich spielte Kino. Und fand’s herrlich.

Erst dann kamen die Zweifel über ein Hotel als AltersHeim. Was ist mit meinen Erinnerungen, die meine Wohnung in sich trägt und die meine Gegenstände lebendig machen. Hier atme ich mich. Hier spüre ich die Enkel, die Freunde, die Gäste. Hier ist er, hier sind die Scherben seiner Apfelschale. Aber vielleicht brauche ich im letzten Lebensalter keine Gegenstände mehr, um mich zu trösten, weil ohnehin alles Gegenständliche immer weniger wichtig wird, weil man beginnt, zwischen den Zeiten zu leben, zwischen dem Leben und dem Tod, in einem Zwischenland, wie die Schriftstellerin Ilse Helbich es nennt, zwischen dem Hier und dem Dort. Vielleicht ist es ja sogar besser, nicht in der Inbrunst der eigenen Wohnung zu sein, wo Erinnerungen mich halten wollen, wenn ich mich auf den Weg machen

Im Flugzeug schaue ich mich oft um und frage mich, wen ich im Falle eines Absturzes anschauen, mit wem ich ein letztes Lächeln tauschen möchte. Worauf soll mein letzter Blick fallen, wenn ich im Bett oder im Stuhl sterbe? Bitte nicht auf das nüchterne Mobiliar der SterbeZimmer von Exit. Nein, ich möchte nicht sterben in einem Zimmer, in dem nur gestorben wird, in dem Hunderte vor mir sich den Tod geholt haben. Ich wäre wohl doch gern zu Hause. Bei mir. Mit Erinnerungen, die dann nur noch leichtfüßige, unbestimmte Gestalten sein mögen, sich mal auflösen, mal manifestieren, denen ich noch einmal schwach zuwinke und mich mit irrlichternden Gefühlen abwende von ihnen.

Die große Mehrheit der Deutschen möchte zu Hause sterben. Die meisten möchten den Weg in die Ewigkeit oder ins Nichts von dort antreten, wo sie gewohnt haben. Aus der Gewohnheit ins letzte Abenteuer, vom Vertrauten ins Fremde starten. Gestärkt von den Erinnerungen aus ihnen heraustreten. Vielleicht ist irgendwann der Punkt erreicht, an dem einen die eigene Vergangenheit, die Rückschau, gar nicht mehr dringlich interessiert, weil die geistige Verbundenheit mit sich

Silvia Bovenschen beschreibt in ihrem klugen Buch übers Älterwerden, dass sie – wenn sie aus ihrem italienischen Ferienort am Meer wegfuhr und traurig war – doch zugleich freudig wusste, dort glücklich gewesen zu sein. Das habe sie getröstet.

Ob es beim Abschied vom Leben auch hilft, sich in aller Traurigkeit sagen zu können, dass man dort im Leben glücklich war.

 

 

 

Vielleicht habe ich sein nahendes Ende erst im Sommer wirklich begriffen. Im letzten Sommer im Süden. Wohin wir seit einigen Jahren einmal im Jahr so umständlich wie glücklich reisten.

In diesem Jahr kann er innerlich nicht ankommen. Er ist verwirrt, unruhig, fahrig, fährt mit der Hand durch die Luft, als müsse er etwas vertreiben, eine Spannung wegschieben. Er ist unglücklich. Und ich bin es mit ihm.

Das Gerät, mit dem wir täglich seine Blutgerinnung messen, geht kaputt, sodass jeden zweiten Tag eine Krankenschwester kommen muss, um ihm Blut abzunehmen, das ich dann eilig ins Labor im Dorf bringe. Spät am Nachmittag – meist nach mehreren vergeblichen

Jetzt nicht innerlich flüchten in die Erstarrung oder die vertraute Eisbox, um den Schmerz nicht zu fühlen. Ich rede mit mir, ermahne mich. Spür dich, bleib hier, hau nicht ab, schau dich um, atme, hab keine Angst. Du wirst jetzt von dem Hügel hinabsteigen zum Haus. Wirst ihn dort sitzen sehen im Rollstuhl. Oder er liegt auf der Bank – mit vielen Kissen abgestützt und schaut durchs Piniendach in den Himmel. Er wird den Arm ausstrecken nach dir und dich an sich ziehen. Und du wirst dich zu ihm legen, deine Füße zwischen seine Beine betten und ihn mit deinen Zehen streicheln. Wollen wir heute einen Ausflug machen, wirst du ihn fragen. Und er wird das Bein, das er bewegen kann, gegen deins drücken. Ja, bitte.

Wunsch und Kraft klaffen immer weiter auseinander. Selbst an Ausflügen hat er bald keine Freude mehr. Sie sind zu anstrengend. Sollen wir zurückfahren oder bleiben? Ich zittere fröstelnd in der Nacht und glühe am Tag vor Hitze und Sorge. Jeden Morgen schwimme ich, peitsche Arme und Beine ins Wasser, suche das wohlige

Wir bleiben. Vielleicht ahnt auch er, dass es unser letzter Sommer sein wird in diesem Haus, das er so liebt. Als wir Abschied nehmen von dem Blick aufs Meer mit den vielen kleinen Segelbooten, von den dunkelrot glühenden Geranien unter sattgrünen Schirmpinien, von knorrigen Korkeichen und den Inseln im Meer, die immer wieder hinter Wolkenbändern schwebend verschwinden, duften die Rosmarinbüsche in der Hitze.

Früher haben wir gesagt: Bis zum nächsten Jahr, und haben dem Haus aus dem Auto gewinkt.

Jetzt sagen wir nichts – und fahren ab.

 

Wieder zu Hause wird er gleichgültiger, stiller, unerreichbarer. Zieht sich in sich zurück, entfernt sich von mir, von den Menschen, von den Büchern, den Nachrichten. Oft zuckt er auf Fragen nur mit der Schulter, egal, sagt er. Ein kurzes Wort, wie er es liebt. Er kann es gut und deutlich sprechen. Er hat gelernt, kleine Worte zu finden, um sich auszudrücken, und trifft mit ihnen so oft den Kern. Früher hätte er lange Vorträge gehalten, jetzt sagt er ein Wort. Egal. Es klingt traurig, aber auch stoisch. Möchtest du, dass ich bei dir sitze? Egal. Möchtest du ein Eis essen, egal. Enttäuschungen, Traurigkeit wehrt er ab mit dem Wort. Wenn jemand nicht kommt, um ihn zu sehen, wenn der große Baum

Vielleicht konnte er es sich nicht mehr leisten, niedergeschlagen zu sein, weil er seine Kraft für den Abschied brauchte, vielleicht war das «egal» der erste Schritt von vielen auf dem Weg zum Ende. Oft schaut er aus dem Fenster. Mit weit geöffneten Augen. Das kenne ich von meinem Vater. Auch er hat am Ende nur noch in eine ungewisse Ferne geschaut. In der der Tod vielleicht schon herumschlich. Wenn ich ihn fragte, wo er sei, hat er mich erstaunt angesehen. Weg, hat er gesagt.

Das Unglück in seinen Augen. Früher war es da, wenn er wieder einmal etwas gesagt und sein Gegenüber ihn nicht verstanden hatte, wenn er seine Gedanken und Argumente fertig hatte im Kopf und sie – vergebens – gurgelnd zu artikulieren suchte. Dann flüchtete er sich in diesen Blick der Leere, um den Schmerz zu dämpfen. Jetzt flieht er immer öfter an diesen Ort der unheilbaren Gleichgültigkeit – egal.

Und dann auf einmal der Satz, mit dem er sich zeigt in seiner Not:

Es ist eine Tragödie, sagt er, mein Leiden.

 

Ich weiß nicht mehr, wann wir die Hoffnung auf Besserung aufgegeben haben. Oder hat er sie fast bis zum Ende gehabt? Die Hoffnung stirbt zuletzt. Ein fataler Satz. Denn war sie nicht von Anfang an eine Chimäre, ein verlogen tänzelnder Betrug? Aber wie man ihn liebt, diesen Betrug, wie willig man sich blenden lässt von der Hoffnung, dieser Wirklichkeitsfälscherin. Viele Jahre

Ich habe Angst, er könne morgen sterben, und habe Angst, dass es noch Jahre dauert.

Es wird ein monatelanger Kampf – weniger gegen den Tod als gegen Ärzte, Zumutungen, verlängertes Leiden. Er hat eine neue große, schmerzende Beule auf der Schulter. Lässig lehnt die Orthopädin am Empfangstresen, klaubt sich ein paar Gummibärchen aus dem Glas, kaut und meint: Vielleicht Überanstrengung, weil er sich immer mit dem einen Arm hochzieht, es kann aber natürlich auch etwas anderes sein – und angelt sich mit zwei Fingern noch ein Gummibärchen. Das Wort Krebsgeschwür sagt sie nicht, lässt aber – immer noch genüsslich kauend – die Vermutung hängen im Raum.

Seine Hausärztin will im letzten Jahr noch eine Magen-Darm-Spiegelung machen lassen, vermutet eine innere Blutung und möchte ihn stationär einweisen, und sogar eine Woche vor seinem Tod noch will sie ihn ins Krankenhaus bringen und eine Harnleiterschiene anlegen lassen.

Da wissen wir schon, dass es zu Ende geht.

Was also soll der Blödsinn.

 

Es ist schon bemerkenswert, dass der bleiche Schauder, der wohl die meisten von uns angesichts des Todes erfasst, mit den Errungenschaften des medizinischen Fortschritts wächst. Die Entwicklung der Apparatemedizin beruhigt nicht, sondern jagt den Sterbenden und

Als Antwort auf die Entgleisungen der Maschinen-Medizin gründete die englische Ärztin, Sozialarbeiterin und Krankenschwester Cicely Saunders in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Hospizbewegung. Sie wollte den Sterbenden ihren eigenen Willen und ihre Würde zurückgeben und die Möglichkeit, eines natürlichen Todes zu sterben. Was von vielen Ärzten als Affront aufgefasst, ja als Sterbehilfe denunziert wurde. Dabei ging es den Hospizlern von Anfang an nicht um Hilfe zum Sterben, sondern um Hilfe beim Sterben. Das Leben sollte weder künstlich verlängert noch willentlich verkürzt werden. Es war ein langer Weg durch die medizinischen, universitären und gesetzlichen Institutionen, bevor die Hospizbewegung und in ihrer Folge die Palliativmedizin sich etablierte. Erst 2009 wurde sie an deutschen Universitäten endlich Pflichtfach für

Das ist nicht mein Job, sagte mir kürzlich wieder eine engagierte junge Palliativmedizinerin, ich bin Ärztin, kein Todesengel.

Und wenn ich mein Leben nicht mehr aushalte, wer soll mir helfen, wenn nicht Sie als Fachfrau?

Und Ihnen beim Sterben zusehen, das ich initiiert habe?

Wer soll es denn sonst tun – der Postbote oder der Klempner?

Ich will nicht die sein, die den Tod bringt.

Aber Sie könnten als himmlische Helferin begrüßt werden.

Laut einer Umfrage aus dem Jahre 2019 befürworten fünfundsiebzig Prozent der Befragten eine passive Sterbehilfe und sogar neunundsechzig Prozent einen assistierten Suizid. Denn ist nicht die Aussicht auf Sterbehilfe tatsächlich eine grandiose Lebenshilfe? Weil die Gewissheit für unheilbar Kranke, dass am Ende des Weges jemand steht, der ihnen hilft, gehen zu dürfen, eine tröstliche Erleichterung bedeutet, in der es sich fraglos besser leben lässt.

Er wird nicht eingewiesen, er bekommt keine Harnleiterschiene. Ich habe ihm versprochen, dass er zu Hause bleibt. Kein Krankenhaus, hat er gesagt.

Kein Krankenhaus, habe ich versichert.

Er habe keine Angst vorm Sterben, sagt er.

Und erst jetzt, da ich die Tagebücher wieder lese, sehe ich, wie oft wir vom Sterben gesprochen haben. Ars

 

Weißt du, sage ich eines Tages zu ihm, als wir nebeneinandersitzen. Ich überlege mir, ob ich eine Trauerfeier möchte, wenn ich tot bin, einen Leichenschmaus. Und wer kommen sollte. Erinnerst du dich, dass mein Vater eine Liste gemacht hatte. Bitte vergesst Herrn O. nicht, hatte er gemahnt.

Ein Freund aus New York, einer der ersten, der an AIDS starb, hatte seine Beerdigung perfekt organisiert, er hatte nicht nur eine Gästeliste gemacht, er hatte eine Kneipe gemietet, Essen ausgesucht und Künstler engagiert, die auftreten sollten.

Wie ist das bei dir, frage ich scheinbar beiläufig, was ist wichtiger – Beerdigung oder Fest?

Fest, sagt er, sagt es wie aus der Pistole geschossen. Wieder ein kurzes Wort.

Und ein Fest haben wir gefeiert. Ein großes, lautes, ausschweifendes, lebendiges Totenfest. Mit vielen Menschen, gutem Essen und gutem Wein, mit erzählten

 

 

 

Aber noch stirbt er.

Es geht uns gut – heißt das Mantra einer Freundin, immer dann mit einiger Heftigkeit in die Maschine getippt, wenn sie grad verzagen möchte. Ich versuche es. Es klappt nicht. Es geht uns nicht gut.

Oft liege ich schlaflos lauschend, aufjagend mitten in der Nacht – hat er gerufen? Manchmal ruft er tatsächlich. Wenn er Geräusche gehört hat, das Urinalkondom abgegangen ist, wenn er schlecht geträumt oder Kopfweh hat. Jeder Schmerz eine neue Bedrohung. Es kann ja alles nur noch schlimmer werden. Der Ohrwurmsatz lärmt in mir.

«Bin so müde des Unglücks», simse ich an eine Freundin.

 

Weihnachten, von dem ich nun ahne, dass es sein letztes sein wird, möchte ich besonders schön machen. Ich kaufe ein für ein Essen, das wir beide mögen. Lachs und

Der Rotkohl köchelt, ich schäle Kartoffeln, laufe, um sein Tuch aufzuheben, das er hat fallen lassen. Kartoffeln ins Wasser, Musik, sagt er, also hin zum CD-Player und Horowitz eingelegt. Ich brate das Hirschfilet an, er muss mal. Also Gas aus, Schieber geholt, unter den Hintern gehalten, ausgeleert, ausgewaschen, weggeräumt. Den Hirsch weitergebraten, die gekochten Kartoffeln püriert. Alles in den Ofen, um es warm zu halten. Der Rotkohl braucht noch Johannisbeergelee und geraspelten Ingwer. Jetzt die Kerzen am Baum anmachen. Weihnachtsgeschichte vorlesen. Bescherung spielen. Nur wir beide. Wir packen ein paar Geschenke aus, die liebevolle Freunde schickten. Es interessiert ihn wenig. Schau mal, wie nett, rufe ich begeistert. Nur das Fotobuch, das meine Tochter klebte, schafft es, ihn zum Lächeln zu bringen. Und die Zeichnungen der Enkel. Morgen kommen sie, sage ich. Schön – er lächelt wieder.

Zurück in die Küche, um die Lachsbrötchen zu richten, das weiche Weißbrot für ihn, das getoastete für

Jetzt das Maronenpüree mit Sahne cremig rühren. Musik, sagt er. Ich laufe hin, lege eine neue CD ein. Keine Ahnung mehr, was wir nun hörten. Sein Tuch ist nass vom Speichel. Ein neues holen aus dem Schrank im Nebenzimmer. Verdammt, ich habe vergessen, den Rotwein zu öffnen und zu dekantieren. Das Essen anrichten. Auf vielen Platten, die ich nachher alle abwaschen muss. Aber es ist Weihnachten. Ich spiele Weihnachten. Mit einem Festmahl à deux. Klammere mich ein bisschen an eine konfuse Perfektion. Renne dem Wissen hinterher, vielleicht zum letzten Mal Weihnachten zu feiern mit ihm. Also muss gefeiert werden.

Irgendwann sitzen wir tatsächlich gemeinsam am Tisch und essen. Ich füttere ihn, spreche zu ihm, esse selber und will, dass es schmeckt. Ein Abend des Wollens. Er versucht zu lächeln. Löffelt gehorsam Maronenpüree, Kartoffelmus und Schokopudding. Ich räume auf, wasche ab, trockne Teller und Pfannen. Er fährt

Wir haben sehr gelacht über deinen Bericht, schreibt eine Freundin am nächsten Tag.

Ich habe ihn ab diesem Weihnachten oft fotografiert. Als wollte ich ihn festhalten für mich, ohne ihn festzuhalten.

 

Ein Zahn entzündet sich, es könnte ein Abszess sein, vielleicht auch Krebs, befindet ein Arzt. Vielleicht sei es auch eine Zyste. Fortgeschrittene Knochenauflösung, sagt er, Gefahr eines Kieferbruchs. Ich sehe einen schlackernden Kiefer in seinem Mund. Schreckliche Schmerzen. Sehe künstliche Ernährung. Krankenhaus, sagt der Arzt. Natürlich sagt er es. Wir versuchen, ihn röntgen zu lassen, was nicht gelingt. Er randaliert und beißt vor Wut fast der Pflegerin in den Arm.

Im Tagebuch steht: Ich möchte ihn mit starken Händen und kaltem Herzen erwürgen. Die Hände könnte man ja trainieren. Aber wo krieg ich das kalte Herz her.

Selbst der Palliativarzt hat nichts Besseres zu tun als dringend einen Krankenhausaufenthalt mit intensiver Diagnostik und eventueller Bestrahlung anzuraten. Ich weigere mich, telefoniere mit anderen Ärzten, recherchiere. Und eines Nachmittags dreht er sich den kranken Zahn heraus.

Der Palliativarzt wird aggressiv: So wie Sie Ihren Mann beschützen wollen, wird das eine Zumutung für andere. Ich werfe ihn hinaus. Hole eine Ärztin, die ich kenne. Die ist gut, sagt er. Und erklärt im nächsten Atemzug, dass er gesund sei und keine Ärzte brauche. Er hat recht. Er weiß genau, wie es ihm geht. Will keine weitere Diagnostik und keine Behandlung. Und mäandert immer mehr von luziden zu verwirrten Momenten.

Wo ist meine Frau, wo ist meine Frau – immer wieder ruft er es. Am Tag und in der Nacht. Wo ist meine Frau.

Er sitzt eben in der Todeszelle, sagt eine Freundin.

Er versucht, den Fernsehapparat mit dem Telefon auszustellen, fährt mitten in der Nacht das Kopfteil seines Bettes so hoch, dass er fast vornüberkippt und nun nicht weiß, wie er es zurückfahren kann. Ich höre ihn wimmern, laufe in sein Zimmer, sehe ihn gekrümmt liegen, kläglich rufen. Ich fahre das Bett in eine fast waagerechte Position, rede, streichle ihn, stehe frierend mit bloßen Füßen neben seinem Bett, lege ihm eine Beruhigungstablette unter die Zunge und mir auch.

Als ich ihm beim Hinausgehen einen Luftkuss schicke und sage, ich küsse dich, atmet er tief: Danke, danke.

Er braucht mich so, die ich doch selbst kaum noch bin.

Am nächsten Morgen ziehe ich mir einen roten Pullover an, weil ich mich so matt und grau fühle.

Was wird kaputt, frage ich.

Ich, antwortet er.

 

Hallo, ruft er, hallo, immer wieder, hallo. Und meint nicht mich. Wen will er erreichen. Hallo, hallo.

Er scheint schwach und verwirrt, doch tief in sich hat er ein Ziel, sein letztes Ziel, den Tod. Und geht seinem Ende mit derselben entschlossenen Willenskraft entgegen, mit der er zuvor versucht hat, gesund zu werden. Er wird immer unruhiger. Kann nicht mehr laufen, die Beine rutschen ihm weg, eine Pflegerin fällt mit ihm hin. Er kann nicht mehr sitzen, nicht mehr zuhören, will keine Worte mehr, keine Informationen, nichts, was das Hirn beschwert? Oder einfach nichts, was ihn ablenkt von seinem Weg?

In den letzten Wochen, sagt einer der Vorleser, hat er oft die Augen zugemacht – und ich wusste nicht, ob er vielleicht einnickte. Ich habe dann einfach weitergelesen, damit er nicht plötzlich aufwacht, wenn ich aufhöre.

Ich sage die Vorleser ab.

Das Leben ist wirklich schwer, sage ich zu ihm, vielleicht zehn Tage vor seinem Tod.

Immer schwerer, antwortet er.

Deshalb suche ich nach Pillen, die es dir erleichtern, sage ich.

Nein, erwidert er, ich bin dagegen.

Willst du das Schwere leben?

Er nickt.

 

Nie mehr, sagt er, wolle er essen.

Und dann?, frage ich.

Hoffentlich sterben, ruft er verzweifelt.

Nur um drei Tage später zu erklären, dass er weiterleben wolle. Das zerreißt mir das Herz. Du musst nicht leben für mich, sage ich und hoffe, dass ich meine, was ich sage. Ich möchte, dass er sterben kann, und will nicht, dass es passiert, fürchte mich vor dem, was ich mir wünsche. Ich halte das Sterben nicht aus und werde das Leben ohne ihn nicht aushalten.

Und nun wird Ihr armer Mann geplagt mit Ihrer Angst vorm Sterben --- sagt die Palliativärztin. Ich protestiere.

Willst du für dich leben oder für mich, frage ich.

Für mich, sagt er und sitzt mit geschwollenen Beinen gekrümmt in seinem Rollstuhl und schaut mich unter hängenden Lidern mit leicht verdrehten Augen an.

Nur einer Freundin hat er eine Woche vor seinem Tod gesagt: «Ich werde sterben.» Sie hat es mir erzählt – und ja, ich bin in Panik geraten.

 

Die letzten Tage leidet er. Aua, ruft er, aua, ruft es immer wieder, Tag und Nacht, und ich weiß nicht, was ihn schmerzt. Der Abschied?

Er rutscht auf dem Polster seines Rollstuhls hin und her, will nicht sitzen, kann nicht sitzen, schlägt sich an den Kopf. Aua, aua. Nachts wache ich auf, weil ich ihn rufen höre. Aua. Sitze dann neben seinem Bett. Halte seine Hand. Aua.

Das Sterben ist so heilig wie eine Geburt, sagt die Ärztin.

Er braucht Ruhe, und wir brauchen sie auch. Der Tod versteckt sich nicht mehr. Wir spüren ihn alle. Ich sitze an seinem Bett und singe ihm leise sein Lieblingslied vor.

I’m just a girl who can’t say no

I’m in a terrible fix

I always say come on let’s go

Just when I oughta say nix.

Other girls are coy and hard to catch

But other girls ain’t having any fun

Any time I lose a wrestling match

I have the funny feeling that I’ve won

I’m just a girl who can’t say no …

Wir stellen einen Tisch und Stühle in den Flur vor seinem Zimmer. Sitzen dort, reden, essen, trinken Tee und Wein. Die Enkel spielen. Vielleicht hört der Sterbende uns, lässt sich begleiten vom hiesigen Gemurmel auf

Ich rufe Freunde an und frage, ob sie sich verabschieden möchten. Sie kommen und bringen Gerichte vom Thai, vom Inder, vom Chinesen. Essen, das er früher so liebte. Ich schmecke nichts. Es wird sein letzter Lebensabend sein.

Ich sitze bei ihm. Mit wenigen Kerzen nur im Zimmer. Sehe im Dunkel der Nacht seinem Sterben zu.

Ameisen kriechen durch meinen Kopf. Gedanken, die wie Ameisen jeden Krümel auflesen auf dem Weg – als müssten sie etwas bauen. Aber was?

 

 

 

Nach seinem Tod am nächsten Tag haben wir ihn gewaschen und angezogen, man hört nur leichte Geräusche von schwappendem Wasser, von Hemdenstoff auf Laken, hört unsere Hände, unseren Atem. Wir haben alle Medikamente weggepackt, die Gummiunterlagen, die Windeln. Er soll nicht in einem Krankenzimmer liegen, sondern in einem Raum voller Schönheit und Ruhe. Ruhe kann man nicht sehen. Aber wir nennen Ruhe schön. Oder kann man Ruhe doch sehen, weil man Ruhe malen kann?

Er liegt in seinem Bett in seinem Zimmer voller Blumen und Leuchter mit Kerzen, mit Bildern von den Kindern und mit den Büchern, die er liebte. Auch die

Während der nächsten Stunden weicht das Leiden aus seinem Gesicht. Sein Antlitz klärt sich auf, sieht versöhnt aus, gelöst – erlöst? Am Abend schaut er fast amüsiert, mit einem kleinen Schalk um den Mund, als wolle er gleich etwas Spöttisches sagen. Zehn Jahre lang, werde ich in seiner Todesanzeige schreiben, zehn Jahre lang hat er seine Krankheit in Würde gelebt – mit Witz und Wut und Kraft.

Wieder kommen Freunde, um nun dem Toten eine gute Reise zu wünschen. Wir essen Hühnercurry, glaube ich.

Später sitze ich bei ihm. Die Schattengestalten im Raum sind wir. Der Tote und die Frau. Es löst sich die Einsamkeit aus der Nacht und hüllt uns ein. Kein Mond, auf dessen Lichtbahn wir entgleiten könnten.

 

Am nächsten Morgen ist er gegangen. Man sieht es und kann es doch nicht erklären. Man spürt eine Leere, spürt, dass dort nur noch ein Körper liegt.

Ich glaube, er ist gegangen, sage ich zu meinem achtjährigen Enkel. Der Junge schaut mich erstaunt an und erklärt, er sei längst weg.

Woher weißt du das?

Weil ich es gesehen habe, antwortet er, als hätte ich ihn gefragt, ob die Sonne schon aufgegangen sei.

Als seine Schwester, die bei einer Freundin übernachtet hat, hört, dass er gestorben ist, erklärt sie, da wolle sie jetzt hin. Und so fährt meine Tochter das

So ist das eben, Omama, jeder muss sterben.

 

Nach zwei Tagen wird er abgeholt. Wird sein Körper aus dem Bett gehoben, in eine Tuchbahn gelegt und eingerollt darin, wird die Treppe hinuntergetragen und im Leichenwagen verstaut. Schau es dir nicht an, sagt eine Freundin. Ich schaue, ich muss es tun, muss bei ihm sein, muss ihn begleiten, ich will es. Ich gehe die Treppen hinunter mit ihm, fünf lange Stockwerke, durch die Haustür, durch die ich ihn so oft gerollt habe, stehe auf der Straße und winke linkisch, als der schwarze Wagen sich entfernt.

Und irgendwie bin ich die Treppen wohl auch wieder hinaufgekommen.