«Wie kann ich weitergehen in den September, und er bleibt im August zurück», fragt ein zutiefst unglücklicher Vater nach dem Tod seines Sohnes in David Grossmans großem Trauergesang ‹Aus der Zeit fallen›.
Man fällt als Zurückgebliebene aus der Zeit, aus dem Leben, das weitergeht, wie man so sagt. Das Leben geht weiter, und es ist ihm ziemlich egal, wo man bleibt als Mensch in diesem Leben, das muss man selbst entscheiden, muss sich fragen, ob man mitgehen kann oder will. Und wohin denn? Und wie bitte geht man hinein in den September oder gar hinein ins nächste Jahr?
Monatelang gehe ich jeden Freitag um 10.47 Uhr, seiner Todesstunde, in sein Zimmer und sitze dort. Es ist mein Ritual, das ich brauche. Immer wieder verabschiede ich mich neu. Monatelang entzünde ich jeden Abend Teelichter an seinem leeren Bett. Immer stehen dort frische Blumen. Vielleicht, weil ich glaube, dass Tote nicht nur unsere Traurigkeit, sondern auch unsere Heiterkeit brauchen für die lange Reise.
Monatelang kommen die Freunde zu mir, weil ich die Wohnung kaum verlassen kann. Wie geht man weg, wenn niemand da ist, zu dem man zurückkommt. Wie schließt man eine Tür hinter sich ab, wenn niemand mehr hinter der Tür auf einen wartet. Wie kann man weg sein, wenn er nicht zu Hause ist.
Du musst jetzt das Drama aus der Wohnung heraus- und dich allein hineinwohnen, – sagt eine Freundin. Vielleicht ein kluger Satz. Aber nicht für mich. Ich will dort sein, wo er war, will ihn dort, wo ich bin. Ich muss bei ihm sein. Kann nicht ins Café oder gar ins Kino, kann keine Ausflüge machen und ihn so lange alleine lassen. Nach jedem kleinen Gang eile ich nach Hause.
Ich kann nicht verreisen. Wie kann man in einen Zug steigen, losfahren, ankommen, in einem Hotel sein Zimmer beziehen, den Koffer auspacken – ohne ihn anrufen zu können, um zu sagen: «Ich bin heil angekommen. Aber mein Zimmer ist abscheulich.» Ich kann nicht mehr zu Hause anrufen. Gibt es dann noch ein Zuhause?
Ich kann nicht einkaufen nur für mich. Eine Handvoll grüne Bohnen, ein Stück Lachs, ein halbes Pfund Kartoffeln, drei Äpfel, ein Brötchen. Ich liebe die Fülle. Ich kann nicht kochen nur für mich – es schmeckt nicht, weil ich lieblos alles in die Pfanne werfe und mich abwende. Und allein essen? Das hat nichts mehr mit Genuss zu tun, sondern ist schiere, nötige Nahrungsaufnahme. Ich kann aber auch nicht im Restaurant sitzen und mit anhören, wie Leute darüber diskutieren, ob sie den Fisch mit oder ohne Meerrettichsoße essen wollen.
Ich kann für eine lange Zeit nicht in einer Runde essen, selbst nicht mit vertrauten Menschen. Da sitzen wir dann um einen runden oder einen eckigen Tisch, essen, trinken, reden. Es gibt Zitronenhuhn mit Reis oder Lammeintopf, dazu einen Salat mit Orangenstückchen und angebratenem Knoblauch mit Rosinen. Es duftet nach Zitrone oder Zimt. Einer der Freunde hat einen guten Rotwein mitgebracht. Eine gelbe Hängelampe, oder vielleicht sind es auch Stehlampen, tauchen die Runde in ein mildes Licht. Ein Sehnsuchtsbild. Würde man von draußen ins Fenster schauen, sähe man Trost, Nähe, Zusammensein, Freundlichkeit. Manchmal leuchtet das Bild und gähnt die Wirklichkeit. Schön war’s, murmelt man dann trotzig vor sich hin, wenn man viel zu spät in der Nacht vom runden oder eckigen Tisch aufsteht und nach Hause geht. Ein wenig betrübt, weil man wieder einmal nicht über das geredet hat, worüber man eigentlich reden wollte. Über die LebensZweifel, die Unruhe, die Erinnerungen. Nicht geredet hat über ihn, über den man so gern reden würde, damit er noch ein bisschen dabei ist, noch ein wenig mitlebt. Manchmal fragt man, wisst ihr noch, und die anderen nicken und erzählen weiter von ihrem Schrebergarten oder dem Buch, das sie gerade gelesen oder geschrieben haben.
Geplauder zerfleddert meinen Kopf.
Ich hätte gern erzählt von den Nächten, in denen ich sorgfältig den sauberen Herd putze, Schubladen aufräume, Kerzenstummel einsammele, Bleistifte spitze, Rechnungen bezahle, Haarbürsten auswasche, Knöpfe nähe an Kopfkissenbezüge, in denen ich hin- und herhatsche auf dem langen Flur der Altbauwohnung, am Küchentisch hocke und E-Mails beantworte. In Margriet de Moors Roman ‹Schlaflose Nacht› geht eine junge Frau mitten in der Nacht in die Küche, greift sich Schüsseln, Mehl, Eier, Butter, den Handmixer – und beginnt zu backen: Herrnhuter Sandküchlein, Apfelkuchen, bretonische Schinkenquiche. Man ahnt beim Lesen, dass diese nächtlich erschaffenen Köstlichkeiten einem großen schwarzen Schlund des Unglücks abgerungen werden. Teig rühren, in flache Scheiben ausrollen, mit Mehl bestäuben, den Ofen vorheizen, durchs Fensterglas schauen, ob die fahle Knetmasse sich schon in goldgelbes Gebäck verwandelt. Die junge Frau hantiert, sie muss die Hände beschäftigen, muss Leckereien riechen, von denen sie offenbar nicht einmal kostet. Die Schlaflose muss backen, um nicht vom Kummer verschlungen zu werden.
Ich kann arbeiten. Konzentration tut mir gut. Dann kann ich vergessen, allein zu sein und zu niemandem zu gehören. Kann vergessen, dass der fehlt, den ich umarmen möchte. Einmal, weil ja außer mir niemand da war, habe ich mich selbst umarmt. Kräftig. Und erst gelacht und dann sehr geweint.
Ist das Einsamkeit? Der verzweifelte Hauthunger.
Nie wieder werde ich ihn spüren, seine Hand auf mir. Connie Palmen erzählt in ihrem ‹Logbuch eines unbarmherzigen Jahres› von einem Experiment, in dem man Affen fütterte, sie aber daran hinderte, sich an den fütternden Menschen zu klammern, oder man erlaubte ihnen zu klammern, gab ihnen aber nichts zu essen. Sie entschieden sich fürs Klammern. Lieber verhungern als nicht berührt zu werden.
Es gibt natürlich Bücher darüber, wie wichtig Berührung ist, es gibt Haptik-Forschungslabore, in denen untersucht wird, wie Nervenfasern, die gleich unter der Haut liegen, Impulse ins Gehirn transportieren und dort z.B. das Hormon Oxytocin ausschütten, das wir brauchen zum Wohlbefinden. Es gibt Vermutungen, dass Berührungen Schmerzen lindern, Ängste reduzieren und vielleicht sogar gegen Depressionen helfen können.
Wie wär’s mit einem Mann?, hat mich ein Therapeut schon vor Jahren gefragt, als der Kranke noch lebte.
Auch das noch, sage ich, noch ein Problem mehr.
Er guckt beleidigt. Er ist ein Mann.
Es gibt auch nette Männer, sagt er.
Ach ja? Kennen Sie welche?
Er greift das Thema nicht wieder auf. Und ist inzwischen selbst auch schon tot.
Es fehlt der zweite Atem, es fehlt die Sorge um ihn, es fehlt die Nähe. Er fehlt. Da ist keiner, der lächelt, wenn er mich am Morgen sieht, keiner, der den Arm nach mir ausstreckt, meine Hand nimmt und sie küsst, keiner, der mit mir lacht – einfach nur so, weil man zusammengehört. Es gibt niemanden, der mir zuhört. Ich muss alles mit mir besprechen. Auch meine Traurigkeit erzähle ich mir selbst.
Das Du bin ich.
Mir fehlt die aufgezwungene Rolle, die unentrinnbare Struktur. Jetzt sind da leere Tage voller Möglichkeiten. Wie habe ich mich danach gesehnt. Und wie fremd sind sie mir jetzt. Als solle ich über schneeglatte Hänge vom Berg ins Tal stürzen und weiß noch nicht einmal, wie man sich Skier anschnallt. Das mit der Freiheit muss ich mir erst noch erklären.
Ach, sagen manche, sein Tod muss doch eine große Erleichterung sein nach all den schweren Jahren. Sie mögen ja recht haben, aber es stimmt einfach nicht. Trauer ist nicht rational, nicht berechenbar, sie ist elementar, ungestüm, ist eine schwere Pranke, die sich auf einen legt und das Ich zerdrückt. In den Nächten frisst sie sich in den Körper, der zittert und rebelliert. So ähnlich stelle ich mir Entzug vor. Allein in der Leere.
Als er noch lebte, bedurfte er meiner. Jetzt bedarf ich seiner. Um in den Blick genommen zu werden. Um gesehen zu werden. Niemand schaut mich an und sieht mich. Jetzt muss ich mich selbst ansehen, mich sehen, um mich meines Seins zu vergewissern. Du bist schön, hat er oft gesagt. Soll ich mir das jetzt selbst sagen. Hinein in den Spiegel, aus dem mich eine bleiche, alte Frau anschaut? Meine Augen sehen eine andere als die, die er sah.
Es beunruhigt mich, nicht zu wissen, wie es ihm geht. Ich weiß auch nicht, wie es mir geht, weiß ja nicht einmal, wer ich jetzt bin. Ein zerfasertes Ich ohne Sicherheitsnetz. Ich werde nicht gebraucht, habe keine Funktion, keine Rolle. Ich mache keinen Sinn. Ich bin Hinterbliebene. Irgendwie zurückgelassen, übriggeblieben. Als habe der Tod einfach vergessen, auch mich mitzunehmen. Das Bleiben will gelernt sein. Es ist ein Hohlraum, ohne Ortsschild oder Wegweiser. Wie sich darin orientieren, wie eine Richtung finden, einen Halt?
Trauern Sie aktiv, fragt mich ein Mann.
Hast du dich schon neu sortiert, fragt ein anderer.
Manche fragen: Wie geht es dir?
Was soll ich darauf antworten?
Am tröstlichsten ist es, wenn jemand einfach nur sagt: Schön, dass Sie da sind.
Oder wenn mein Enkel lakonisch feststellt, dass ich nun schon zum siebten Mal am Nachmittag Tränen in den Augen hätte.
Mir fehlen Rituale der Trauer. Und so erfinde ich Gesten, kleine Zeichen für ihn und für mich. Als könne ich so die Verbindung lebendig halten zwischen uns.
Ich kaufe bei der Friedhofsgärtnerin lachsfarbene Rosen, stecke einige auf sein Grab und nehme die anderen mit nach Hause, wo ich sie in eine Vase stelle. Dann haben wir die gleichen Blumen. Er auf dem Friedhof. Ich in der Wohnung. Auch meinen Honig kaufe ich bei der FriedhofsFrau. Könnte ja sein, dass er von Bienen stammt, die auch auf seinem Grab Nektar und Pollen gesammelt haben. Im Herbst stecke ich viele Beerenzweige auf sein Grab – Hagebutten, Mispeln, Feuerdorn, Zieräpfel, Vogelbeeren und Ilex. Sie sehen schön aus und schmecken den Tieren. Dann stelle ich mir vor, wie Spatzen, Krähen, Amseln, Elstern und Rehe zu ihm kommen, sich versammeln bei ihm, um gut zu speisen. Vielleicht nicken sie ihm ja zu, wenn sie knabbern. Ist das Gefühlskitsch? Dann bin ich gern kitschig.
Jeden Tag schaue ich in meinem Telefon nach dem Wetter bei ihm auf dem Friedhof. Bevor ich zu seinem Grab gehe, pudere ich mir im Auto die Nase, ziehe die Augenbrauen nach, male die Lippen an. Und ein paar Tupfer Parfüm. Er liebte den Duft.
An seinem ersten Todestag habe ich seine Vorleser zum Essen eingeladen und sie gebeten, einen Stein für sein Grab mitzubringen. Ich möchte dort einen Steinhaufen schichten. Sie erzählen, warum sie diesen Stein mitgebracht, wo sie ihn gefunden haben, was sie an ihm mögen. Einige der Steine sind jetzt bei ihm, einige liegen bei mir im Eingang. So stelle ich wieder eine dingliche Verbindung her zwischen der Wohnung und dem Grab, zwischen ihm und mir. Von jeder kleinen Reise bringe ich ihm einen Stein mit. Und manchmal auch mir.
Eine befreundete Witwe telefoniert täglich mit ihrem toten Mann, nimmt den Hörer und spricht hinein. Eine andere zankt mit dem Toten. Und betrügt ihn. So nennt sie es. Gleich nach seinem Tod ist sie wütend mit einem anderen ins Bett gegangen. Eine träumt, dass die Enkelkinder jetzt in seinem Bett schlafen und gar kein Platz mehr ist für ihn. Sie wacht mit einem schlechten Gewissen auf.
Manchmal suche ich nach Zeichen. Gibt es ihn noch? Sterben, sagen die Buddhisten, ist die Trennung von Geist und Körper. Wo ist sein Geist? Hat er seine Ruhe gefunden? Wacht er über mich? Ist er mein Schutzengel? Ich beneide Menschen, die sich ganz sicher sind, ihre Liebsten im Himmel wiederzutreffen. Dieser wunderbar unschuldige Blick auf das Danach.
Neulich am Grab hat er sich neben mich gestellt, hat den Arm um mich gelegt, und wir haben geredet über diesen Mann, der dort unten in seinem Sarg liegt. Aber er hat mir nichts erzählt über den Moment des Todes. In dem Roman ‹Satin Island› von Tom McCarthy erklärt Petr, der an Schilddrüsenkrebs stirbt, schlimm am Sterben sei, dass man den Tod niemandem erzählen könne. Es sei das Einzige, das man nicht erzählen könne. Die Angst kenne ich. Denn fast alles, was ich erlebe, formuliere ich, während es geschieht, um es hinterher erzählen zu können. Sei es der herbstliche Waldspaziergang auf raschelndem Laub, seien es die imposant muskulösen Unterarme, mit denen der knackige Busfahrer seinen Wagen lenkt, sei es das Gespräch mit dem Freund, der darüber nachdenkt, worin wohl der Sinn liege, so alt zu werden wie er. Vielleicht, sagt er, bin ich noch nicht der, der ich bin, vielleicht muss ich es noch werden. Und nun wird mir das Geschenk des hohen Alters gemacht, um mich noch einmal dieses Auftrags zu erinnern.
Schlingensief, der so jung starb, hat gesagt: Ich kann nicht sterben, bevor ich weiß, warum ich lebe.
Als er noch lebte, wusste ich, warum ich lebte. Ich musste über den Sinn nicht nachdenken, weil ich eine unabweisbare Aufgabe hatte. Jetzt habe ich weder ihn, noch habe ich mich. Ausgerechnet in dem Moment, in dem es kein Wir mehr gibt, verschwindet auch das Ich. Man ist nicht länger, wer man war, und ist noch nicht, wer man sein könnte, vielleicht sein wird. Man ist nicht. Und weiß nicht, wie man sein kann ohne Wir und ohne Ich. Der Boden unter den Füßen schwankt. Kein Fundament, auf dem man solide stehen, und kein Fliegender Teppich, auf den man sich schwingen und davonfliegen könnte. Ein neues Ich muss gefunden und das IchSein geübt werden. Wenn Menschen sagen, sie hätten das arme Tier, dann ist das Tier nicht arm, sondern unersättlich. Es schlingt unsere Lebendigkeit in sich hinein. Die muss man sich zurückholen. Trauer ist Arbeit. Trauer ist Gefühlsverwirrung. Wie findet, wie erfindet man ein neues Ich, wie lebt man, wie gestaltet man es.
Der Tod ist ein Schock, sagen Neurologen, der den Hirnstamm, das limbische System und den Neokortex angreift. Daher reagieren viele mit Verdrängung oder mit Aggression, was ein urzeitlicher Verteidigungsmechanismus gegen die Erschütterung sei. Manche erstarren. Werden zu Marionetten, die Trauer tragen. Gelähmt, gefangen.
Manchmal laufe auch ich wie eine aufgezogene Marschierpuppe durch die Tage – akkurat, organisiert, effizient. Tasche, Brille, Einkaufsliste, alles an seinem Platz, Termine im Kopf, der Tag getaktet. Ich funktioniere, aber ich bin nicht in der, die da funktioniert. Oft bin ich brüsk, unwillig, mag keine Menschen um mich, weil zu viele Rollenwechsel zu viel Kraft kosten. Dann belle ich wie ein Straßenköter.
Als ich die Rollstuhl-Rampen in der Wohnung abbauen lasse, fühlt sich das an wie Verrat. Als hinderte ich ihn nun endgültig daran, hier mit mir zu sein, als sperrte ich ihn aus, markierte mein Terrain wie ein Hund, um den Toten zu vertreiben.
Ich bin unruhig, unsicher und habe das Gefühl, noch gar nicht angekommen zu sein in der Trauer. Als müsse man erst hineinwachsen in sie. Als sei sie noch zu groß und schlottere um einen herum wie ein zu weites Kleid. Und tatsächlich kommt erst nach langer Zeit, wenn man aus der Ohnmacht des Schreckens erwacht, der wirkliche, der tiefe Schmerz. Erst dann begreift man, was es bedeutet, jemanden verloren zu haben, verloren zu sein, erst dann lichtet sich der Nebel, der den Blick und die Gefühle zuvor trüb verschleiert hat, erst dann werden die Konturen sichtbar, und man sieht sich in kühler Klarheit als Person in Frage gestellt. Erst dann beginnen die Nerven ganz tief zu beben. Aber auch erst dann kann man die Zärtlichkeit in der Trauer empfinden. Den Lebenswillen des Schmerzes.
Wein doch nicht, sagen viele begütigend, wenn sie nicht wissen, wie sie umgehen sollen mit meinen Tränen. Sie erwarten zu ihrer Beruhigung meine Contenance. Ich aber will den Schmerz, will seine Lebendigkeit und meine Empfindlichkeit, will verletzlich bleiben, stark und zart. Auf keinen Fall möchte ich ihn dämpfen und stumpf erstarren. Connie Palmen spricht von der «Sinnlichkeit des Kummers». Nach all der Angst und all den Bedrängnissen der letzten Jahre sind nun Schmerz und Traurigkeit verlockend sanfte, weiche Gefühle, sind schöne, wachsame Verunsicherung.
«Ich hoffe», steht in meinem Tagebuch, «im Schmerz eine innere Ruhe zu finden.» Ist das der gläserne Kern der Trauer?
Eine Nachbarin hat mir einmal erzählt, dass sie manchmal Menschen auf der Straße nachgehe und ihren Gang nachmache. Dann ahne ich, sagt sie, wie sie sich fühlen, die kleinen stampfenden Männer, die energischen Frauen mit den schwingenden Röcken und die Mädchen im Minikleid mit den «fuck me shoes» an ihren jungen Füßen.
Ich habe mich nicht getraut, die Nachbarin zu bitten, doch mal in meinen Gang zu fallen und mir zu sagen, wie ich mich fühle.
Ich versuche, mich selbst zu beobachten: Immer noch diese Unruhe, die Ohren, in denen es tost, der Kopf, in dem eine Waschmaschine schweres Wasser wälzt, die müden Glieder, die sich widerstrebend durch den Tag schleppen lassen. Manchmal schlurft diese Frau mit dem unbestimmten Ich jetzt durch die Straßen, schaut beim Gehen nach unten. Wie ein Kind, das denkt, wenn es die anderen nicht sieht, wird es auch selbst nicht gesehen. Als ob sie schon jetzt verschwinden wolle im Getöse des Lebens der anderen. Dann erinnert sie sich an die alten Frauen auf dem südfranzösischen Markt, wie sie geschmeidig schlendern, wie sie dort selbstverständlich gehen in ihren eigenen Körpern. Sie sind geschminkt, beringt, tragen laute Farben, wilden Schmuck, luftige Blusen. Welke Arme nur von einem Hauch von Stoff bedeckt. Frauen, die gewiss die Nähe des Todes kennen und sich ihm in höchst lebendiger Pracht präsentieren. Sie staunt und denkt neu nach über ein Ich für sich.
In der Nacht sind es nicht die sirrend attackierenden Mücken, die den Schlaf vertrieben haben. Wütend hat sie sich jedes Mal ins Gesicht geschlagen, wenn einer der kleinen Blutsauger sich auf der Wange, der Braue niedergelassen hat. Nach der Mücke kommen die rattengrauen Gedanken. Kommen die gänzlich nutzlosen Fragen – was wäre gewesen, wenn …
Dann wandert der Schlaf ohne sie in die Nacht. Es ist ja nicht nur ihre Traurigkeit über seinen Tod, sondern auch seine Traurigkeit über sein Leben mit der Krankheit und auch das Weh über all die verpassten Jahre davor. Denn nicht immer gelingt es, sich einzunisten im guten Schmerz der Traurigkeit, weil so viele ungute Erinnerungen an ungute Zeiten auftauchen. Weil sie wütend ist auf ihn, weil er war, wie er war, und wütend, weil er jetzt nicht mehr ist.
Seien Sie freundlich mit sich, sagen Hirnforscher, dann produziert das Gehirn Dopamin und Serotonin – und Sie fühlen sich besser. Darf man auch freundlich sein zum Selbstmitleid? Um ihn zu trauern, heißt ja auch, mein Alleinsein zu beklagen. Ich habe noch nie allein gelebt. In meinem ganzen langen Leben noch nicht.
Warum ist Selbstmitleid ein gesellschaftliches Tabu, das man so gern mit leichter Verachtung konstatiert. Ich will es. Ich brauche es. Ich bestehe darauf. Ich werde es lernen, Mitleid mit mir selbst zu haben.
Mitgefühl für sich, Zärtlichkeit. Sind das die aufgetauten Gestalten aus dem Gefrierfach, die nun auch mal geschmeidig tanzen wollen?
Das Gefühlseis schmilzt. Statt Geschmeidigkeit: zwei Bandscheibenvorfälle. Ein eingeklemmter Nerv.
Wie akzeptieren, dass nicht er, sondern dass ich brauche. Bisher war meine Bedürftigkeit durch ihn legitimiert. Ich war die Frau des Kranken. Jetzt, da er tot ist, und ich frei bin, muss ich zugeben: Ich brauche, weil ich allein und weil ich traurig und weil ich schwach bin.
Du, liebste Freundin, hast schon gekocht für mich in Zeiten, in denen Du gar keine Zeit hattest. Kann ich kurz kommen, hatte ich wohl ziemlich kläglich ins Telefon gerufen. Immer, hast Du gesagt – weil Du wusstest, welch Riesensprünge über Riesenschatten ich machen musste, um das zu fragen.
Ich kenne eine Frau, die alles, was sie macht, wunderschön findet. Ob sie eine E-Mail schreibt oder ein Gedicht, ob sie ein Bild malt, ihren Garten anlegt oder ein Essen kocht. Ich beneide sie um die Kraft ihres Glaubens an sich.
Jetzt musst du dich durchbeißen, sagt ein Freund, wie man so sagt, wenn das Leben trocken wird und hart wie altes Brot. Ich hätte es lieber saftig.
Ich glaube, es war Janet Frame, die einmal gesagt hat, vergangene Zeit sei keine verschwundene Zeit, sondern angesammelte. Wenn die Vergangenheit weiter in mir west, dann tun es auch die ehemaligen Spielarten meines Ich. Und begleiten mich durch den Tag. Das zarte, kranke Kind, die verstörte junge Frau, die verunsicherte Mutter, die Frau mit Männerlust und Arbeitswut und auch die, die ich zehn Jahre lang war – die Frau an seiner kranken Seite. Wenn ich sie alle in mir habe, spüre ich ein Gedrängel. Also bitte ich sie zur Ruhe, damit ich mit jeder einzeln reden kann. Ich glaube, das wird ein sehr langes Gespräch. Vielleicht liegen wir dann ja versöhnt auf dem Totenbett. Und können uns lächelnd verabschieden von dem Leben, das wir gemeinsam ertragen, begehrt, gefeiert und vollendet haben.
Seit Wochen laufe ich an dem Schaufenster einer Galerie vorbei, in dem Barbie-Puppen in einen Mixer gestopft sind. Eine Drehung am Knopf und sie wären alle zerfetzt; Finger, Füße, Teile von Armen und Beinen spritzten durch den Behälter. Seit Wochen finde ich diese Installation obszön. Morgen werde ich hineingehen und nach dem Sinn des Kunstwerks fragen.
Warum erst morgen? Als ob die Zerbrechlichkeit des Lebens nicht jeden Tag wohnte in mir.
Der Mensch in seiner Fragilität. Kaum einer hat das so eingefangen wie der Bildhauer Alberto Giacometti. Ich liebe seine langen, dünnen Figuren, zerbrechlich, wie von zuckenden Fingern modelliert. Da ist nichts gerundet, abgeschliffen oder poliert. Es sind poröse, zerfurchte Menschengebilde, die ein wenig verloren auf kleinen Sockeln in der Leere des Lebens herumstehen. Figuren, die man nicht nur besehen, sondern auch betasten möchte, den Händen des Künstlers nachspürend, ihre Entstehung im wahrsten Sinne des Wortes be-greifend. Giacometti, der immer nach dem suchte, was er zeigen wollte und – wie er fand – nicht zu zeigen vermochte, schrieb: «Tastend suche ich im Leeren den weißen Faden des Wunderbaren zu erhaschen, der zitternd schwingt, und von dem die Träume mit dem Geräusch eines Baches entschwirren, der über kostbare, lebende Kiesel fließt.»
Trauer hat auch mit Mut zu tun. Tastend im Leeren den weißen Faden zu suchen. Die Transformation zu wagen, den Wechsel von einem Zustand in den anderen. Trauer ist nicht nur Abschied, sondern auch Aufbruch und Abenteuer. Das Leben muss rückwärts verstanden – aber vorwärts gelebt werden, heißt es bei Kierkegaard.
Jeden Ort von früher gilt es sich neu zu erobern. Allein zu sein, wo ich mit ihm war, allein zu sein in der Zeit, zu sitzen, zu schauen, zu hören. Am Esstisch, im Park, auf seiner Lieblingsbank, in seinem Lieblingsblick, in der Nacht, im Frühling, im Klaviersalon. Auch den Morgen muss man bezwingen, den vor allem. Die Geborgenheit des Schlafs verlassen, sich der unbarmherzigen Helligkeit stellen, die sich aus der Nacht schält. In die muss man hinein. Allein. Ich mag sie nicht, die Stunde zwischen Schlaf und Tag. Die Aussicht auf immer die gleiche Morgengymnastik, die Dusche, das Frühstück, die Zeitung, ein Telefonat oder auch drei, Mails, Alltagsverwaltung, Bücher, Spaziergänge. Ich will Schneisen mähen ins vorhersehbare Einerlei. Ich kaufe mir einen Strauß wuchernder Wicken oder YvesKlein-blauer-Anemonen. Dann sind die Blumen der erste Satz, den ich in den Tag schreibe, damit er nicht weiter vor mir liege wie ein weißes Blatt Papier, das mit spürbarer Ungeduld darauf wartet, gefüllt zu werden.
Immer muss man sich etwas trauen, sich etwas zutrauen. Muss sich glauben, alleine wohnen zu können, muss sich erlauben, Schönheit für sich zu schaffen. Das ist nicht immer nur tröstend. Es tut auch weh. Weil man ja Schönheit noch dringlicher teilen möchte als Gram. Ich übe. Übe auch, es mir gutgehen zu lassen. Wie Max Frisch es probiert hat: «Nicht ohne eine gewisse Entschlossenheit beginne ich, mich zu verwöhnen.»
«Und so geht das Leben dahin», steht in meinem Tagebuch, «immer wieder schön gefüllt und manchmal leer glotzend.» Immer wieder schaue ich am Abend Fotos auf meinem Telefon an. Ha, da ist mein Leben, ich hab ja eins.
Am zweiten Geburtstagsmorgen, den ich allein verbringe, setzt sich meine alte Gefährtin, die Verlassenheitsangst, nicht mit mir an den Frühstückstisch. Ich kann mir kaum glauben, dass ich nicht leide.
Und eines Tages lodert auf einmal eine kleine Glücksflamme in mir. Es ist früh am Morgen. Ich habe mir einen Tee gemacht. Draußen ist die Stadt noch still, drinnen spüre ich die Sommerwärme des alten Dielenbodens unter den Füßen. Es ist ein Moment, der stimmt, der passt, der wie angegossen sitzt auf der Haut. Und die Freude wiederholt sich. Ich sitze auf einem Stuhl in meiner Wohnung und folge den Sonnenstrahlen auf der Wand, die dort Schattenbilder malen. Ich sitze und schaue und denke: Sieh mal an, es geht. Oder ich liege auf meinem Tagbett, vertieft in ein Buch, geschnittene Apfelscheiben in einer kleinen marokkanischen Schüssel neben mir und muss auf einmal innehalten mit dem Lesen, weil sich der Moment so – ja, so richtig anfühlt.
Es gibt ein kluges kleines Buch von dem englischen Soziologen Daniel Miller über die Kümmernisse des Lebens und den ‹Trost der Dinge›. Miller fragt hier nach der Rolle, «die alltägliche Objekte für unser Verhältnis zu uns selbst und unseren Beziehungen zu anderen Menschen spielen».
Eine Freundin erzählt einmal von einem Mann, der eine Verabredung mit ihr abgesagt hat, weil ein lange bestelltes, «heiß ersehntes» Sofa an dem Nachmittag geliefert werden sollte. So leidenschaftlich, sagt sie, hat er noch nie von jemandem gesprochen wie von diesem Sofa.
Während ich Dir schreibe, wehen neben mir zarte Gräser kupferfarben in der Nachmittagssonne. Und ein kleines Glockenspiel singt im Wind.
Schön, hätte er gesagt, schön.
Und langsam beginne ich, ihn wieder zu spüren: den Trost der Schönheit. Weil ich Schönheit wieder wahrnehme. Man kann etwas monatelang angeschaut und nicht gesehen haben. Bis auf einmal eine Reaktion da ist, eine kleine Glut, ein sanftes Erwachen.
Wie oft habe ich ihm die Privilegien, die Schönheiten, die Freude aufgezählt, die wir trotz allem hatten. Genießen, was genießbar ist, habe ich wie eine Litanei in die Räume gerufen, in denen wir waren. Manchmal hat er gelächelt, fühlte sich gewärmt, aufgehoben in meinen Worten. Dann wieder dieser Blick – begütigend und wund zugleich: Nett, dein Versuch, du Ahnungslose. Ein freundlicher, unbewohnter Blick. Verzeih, hätte ich nuscheln sollen. Und habe es nicht getan. Bitte, habe ich stattdessen gesagt. Habe selbst um Hilfe gerufen.
Die Toten sterben in uns hinein, heißt es irgendwo bei Rilke. Es dauert, bis man begriffen hat, dass sie gegangen, und bis man bemerkt, dass sie nun in einem sind. Und so habe ich ihm eines Tages erklärt, dass ich nun nicht länger bei ihm in der Vergangenheit bleibe, bei ihm und seiner Krankheit, sondern ihn mitnehme in mein Leben. Jetzt möge er bitte mit mir kommen. In die Stadt, ins Kino, zum Kaffeetrinken, zum Fahrradfahren.
Und bitte vergiss meinen Geburtstag nicht.
Jetzt bist du in mir.
Und ich bin nicht mehr die Frau mit dem kranken Mann. Und auch nicht mehr die frische Witwe.
Und nun?, simse ich einer Freundin.
Rock ’n’ Roll, kommt es prompt zurück.
Jetzt ein bisschen Altersrock? Warum eigentlich nicht? Sie sind ja noch da, die Lust und die Neugier, warum sich nicht erlauben zu träumen, Grenzen auszulachen, Ideen zu spinnen, bis sie ein Netz werden, in dem sich vielleicht Mitstreiter fangen lassen. Ich wollte schon immer eine heitere Alte werden. Weil Heiterkeit die Melancholie nicht fortjagt, sondern sie liebevoll annimmt, sie aufnimmt in sich. Weil sie leicht bitter schmeckt nach Schattenwelt, weil sie weiß um lauernde Lebensbeschädigungen und trotzdem grinst. Lustigkeit ist Ablenkung, Heiterkeit ist Trost. Und wer braucht keinen Trost! In der wunderbaren Serie ‹After Life› sagt eine Frau über einen trauernden Witwer, sie habe noch nie einen so traurigen Mann gesehen – und er bringe sie immer zum Lachen.
Rock ’n’ Roll? Warum soll ich mir nicht ein Rendezvous mit der Sehnsucht erlauben. Bitte kommen Sie doch zum Tee – oder was sagt man zu ihr? Siezt man sie, oder wählt man doch lieber das vertrauliche Du? Wenn man aus Hamburg kommt, nennt man sich beim Vornamen und sagt Sie. Und wenn es keinen Vornamen gibt? Was tun, wenn sie winkt aus der Ferne? Hinfliegen? Natürlich, die Arme ausstrecken, und schon ist man dort. Der Weg ist ja so kurz. Obgleich sie manchmal im Mond sitzt oder in einer Wolke. Und dann wieder im Lied der Amsel auf meinem Balkon.
Ich möchte, dass die Sehnsucht bleibt, dass sie unbestimmt bleibt und mich mit diesem schönen Gefühl unbekannter Möglichkeiten erfüllt. Was alles sein könnte. Denn unsere Lebendigkeit liegt in der Sehnsucht. Sie macht uns aus. Macht uns geschmeidig, zärtlich, erfinderisch, sie regt unsere Phantasie an, in ihr träumen wir. Sehnsucht darf alles. Darf auch verwerflich lodern. «Die Sehnsucht ist es, die uns’re Seele nährt und nicht die Erfüllung», schreibt Arthur Schnitzler.
Früher allerdings habe ich mir die eine oder andere Sehnsucht erfüllt. Einmal zum Beispiel sah ich das Foto eines Mannes in der Zeitung und wusste: Den will ich. Und habe einiges angestellt, um ihn kennenzulernen. Es hat geklappt. Mit zitternden Gliedern hinein in die Liebschaft und mit zyklopischem Zähneklappern wieder raus.
«Mut heißt auch, Frieden mit der Ungewissheit unseres Daseins zu schließen.» Den Satz habe ich notiert und weiß nicht, woher er kommt. Je älter ich werde, desto weniger kenne ich das Gefühl der Gewissheit. Außer der des Todes. Aber immer wieder baue ich mir Strukturen und glaube offenbar, sie seien sicher. Das nackte Ich sucht Halt. Fürchtet sich vor der Haltlosigkeit des Ungefähren. Statt genau darin eine Chance zu sehen, wach und gespannt von Tag zu Tag zu gehen und Neues zu entdecken und zu leben. Der fulminante kanadische Schriftsteller holländisch-tamilisch-singhalesischer Abstammung, Michael Ondaatje, weiß nie, was in seinen Romanen passieren wird, wenn er anfängt zu schreiben. Er wolle sich doch nicht langweilen, sagt er, sondern herausfinden, mit wem er es da zu tun kriege. Und so gesellen sich immer mehr Menschen zu ihm, und er ist neugierig auf sie und darauf, wie sich ihr Leben und Innenleben entfalten werden. Vielleicht könnte man genau so leben, wie er schreibt – es jedenfalls versuchen. Losleben und bereit sein.
Und wenn irgendwann der Aufbruch kein Möglichkeitsgefühl mehr ist, sondern gerade noch ein fahles Winken aus großer Ferne? Wenn der Zeitfaden immer kürzer wird? Der Tod des anderen macht es unmöglich, die eigene Vergänglichkeit zu ignorieren. Und zugleich will ich nach seinem Tod für eine Weile von der eigenen Vergänglichkeit nichts wissen. Ich lebe. Ich will leben. Jetzt bin ich dran. Was, wenn ich vor meinem Sterben und meinem Tod nicht genug gelebt habe? Aber wann bitte hat man genug gelebt?
Wird es genug gewesen ein, achtundneunzig Zikaden gehört zu haben oder dreihundertzweiundwanzig? Wird es genug gewesen sein, einhundertsiebzigmal am Meer gesessen, siebenhundertvierundfünfzigmal mit Freunden gegessen zu haben. Den Highway Number One bin ich nur ein Mal gefahren. Ich war noch nie in Südamerika, kenne Stockholm und auch Sydney nicht. Ich habe noch nie in einem Film mitgespielt. Ich war, soweit ich weiß, noch nie ein Schmetterling. Ich habe noch nie Zeit in einem Schweigekloster zugebracht. Ich habe Albert Vigoleis Thelen kennengelernt, aber nicht Patrick Leigh Fermor und nicht einmal Paul Auster. Was muss ich noch tun, damit es genügt?
Ich habe mich sattgelebt, sagt eine Freundin kurz nach ihrem neunzigsten Geburtstag, und lebe jetzt richtig gern.
Vielleicht ist es leichter, gern zu leben, wenn man Krisen gelebt hat, wenn man sich erlebt hat in der Herausforderung und im Danach – wenn die Kraft wiederkommt und auch die Lust, wenn eine Wehmut bleibt und eine Zärtlichkeit, eine auch ängstliche Wahrnehmung für die Verletzbarkeit von uns Menschen.
Gerade wieder muss ich an eine kleine Geschichte denken – ich glaube Barbara Gowdy hat sie geschrieben –, die mich über die Jahre immer wieder begleitet hat. Sie erzählt von einem indischen Arbeitselefanten, der Telefonmasten in vorgegrabene Löcher hebt, einen nach dem anderen. Plötzlich aber weigert er sich, den Mast ins nächste Loch zu setzen. Sein Mahud schreit ihn an, schlägt ihn. Doch der Elefant bleibt stur. Rührt sich nicht. Bis jemand entdeckt, dass sich dort ein kleiner Hund versteckt hat. Kaum haben sie das Tier herausgeholt, setzt der mitleidige Elefant seinen Mast folgsam in das Erdloch.
Wir brauchen Geschichten, um zu leben. Wir brauchen Geschichten, um das Leben zu verstehen.
Erzähl es, hast Du gesagt. Und so habe ich aufgeschrieben, was das trügerische Gedächtnis mir zugespielt hat. Auf dem Feld zwischen Wahrheit und Dichtung können viele Bälle hin- und hergeworfen werden. Es geht nicht ums Zielen, es gibt kein Tor, in das ich Sätze schießen und Hurra schreien könnte.
Ob alles so war, liebste Freundin, wie ich es Dir erzählte? Die Frage kann ich nur mit Karl Ove Knausgård beantworten: «Es war vielleicht nicht wahr, was ich geschrieben habe, aber es war ehrlich.»
Wir haben das große Trotzdem gelebt. Es jedenfalls versucht. In all seiner Schärfe und Zartheit. In all seinen Irrungen, all seiner Heiterkeit. Manchmal fühlten wir uns vom Leben ausgetrickst.
Sonst wäre es ja kein großes Trotzdem gewesen.
Und jetzt?
Heute werde ich von der Sonne getrocknete Laken von der Leine nehmen und sie bedächtig zusammenfalten. Werde dem Efeu zuschauen, der sich wie ein Keuschheitsgürtel um die nackte Sandsteinfrau rankt, werde den Vögeln zuhören und dem Wind in den Zweigen der großen Platane. Ich werde still auf meiner kleinen Steinbank sitzen und die Wolken begleiten und mit ihnen die eigenen Gedanken und sie ziehen lassen, werde gemächlich durch den Tag hatschen, mit der Nachbarin plaudern im Nachmittagslicht, wichtige Nichtigkeiten austauschen, dem Froschkonzert am Abend lauschen unter einem gelben Mond; ruhig den Rotwein im Glas schwenken, ihm zuprosten, vielleicht werden Du und ich telefonieren – und ich werde für einen Tag oder jedenfalls für einen Moment in diesem Tag so weise sein, nichts anderes zu wollen als genau das, was gerade ist.
P.S.: Das muss ich Dir noch erzählen: Letzte Nacht habe ich geträumt, ich sei ein Geburtstagskuchen in G-Dur. Und als am Morgen die Amsel kam, um auf dem Balkon, auf dem ich saß mit meinem Tee, Wasser aus der flachen Schale zu trinken, die ich ihr und den anderen hingestellt hatte, habe ich ihr ein Lied vorgesungen. Und dann noch eins. Sie war offensichtlich verblüfft, vielleicht sogar konsterniert. Geantwortet hat sie jedenfalls nicht.