Erzähl es, hast Du gesagt, als wir uns vor Wochen das letzte Mal sahen und unter tiefhängenden Wolkenkissen spazieren gingen am Lietzensee. Und seither frage ich mich, was ist «es». Und erschrecke. Es scheint mir zu viel zu stecken in dem kleinen Wort. Zwei Buchstaben nur. Meist nicht einmal einen Zentimeter breit und wiegt doch nur ein paar Gramm. Ich sehe eine Feuerwerksrakete, die an Silvester mit einem glühenden Punkt in die Höhe schießt und als tausendfacher Sternenstaub zur Erde rieselt. Nur ist mein «es» kein Glitzerstaub. Es ist ein Füllhorn an Kümmernis und Widrigkeiten. Wo soll ich denn da bitte hineingreifen und etwas herausziehen. Wie beim Julklapp? Und dann das Geschenk auspacken?
«Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben», schrieb Joan Didion 1968 in dem Band ‹Das weiße Album›, mit dem sie sich etablierte als eine eigenwillige Stimme im Protestchor der amerikanischen Intellektuellen. Mehr als vierzig Jahre später erzählt die achtundsiebzigjährige Didion Geschichten, um zu überleben – oder vielleicht sollte man richtiger sagen: um das Überleben zu ertragen. Sie hat kurz hintereinander ihren Mann und ihre Tochter verloren. Nun schreibt sie an gegen das Vergessen und gegen die Erinnerung, gegen den Tod und gegen die Angst. Sie ist krank, sie wird alt, sie ist allein. Sie wird immer dünner, immer weniger, immer unsicherer. Es bleibt nur noch die Ehrlichkeit. Das schonungslose Konstatieren der Heimsuchung durch das Leben in seiner Vergänglichkeit. Die Schriftstellerin Antje Rávic Strubel, die seit Jahren Joan Didion übersetzt und verehrt, hat sie einmal eine «Wirklichkeitsseziererin» genannt.
Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben. Wir brauchen Geschichten, um das Leben zu verstehen. Vielleicht ist ja auch das, was ich Dir erzählen soll, eine Geschichte.
Erzähl es, hast Du gesagt, erzähl, wie es war und was es gemacht hat mit euch, was es gemacht hat mit dir. Wenn ich «es» erzählen soll, muss ich also auch mich erzählen. In aller Diskretion die Hosen runterlassen. Mich zeigen. Denn Du möchtest wissen, wie man lebt in Krisenzeiten, wer man wird, wen man entdeckt in sich, wo man die Kraft und Geduld herholt, die man braucht, und wo es hapert in einem, wo man versagt, wo man zerbricht und dringend Leim braucht, um sich wieder zusammenzusetzen. Welcher Leim klebt am besten?
Die Krisen haben uns gejagt, wie Mücken es tun auf der Suche nach Blut. Immer wieder mussten wir dem Tod davonrennen. Findet man in solchen Zeiten noch die Ruhe, sich zu besinnen, sich zu bedenken, sich zu ändern? Oder wird man besinnungslos? Wie existiert man im Haifischmaul des Lebens, das jeden Moment zuschnappen kann.
Das soll ich Dir erzählen.
Wie geht man um mit der Angst, der fiesen Gefährtin. Wie schafft man die Balance, in der Krankheit zu sein und im Leben zu bleiben. Wie verändert sich das Leben, wenn ein Berserker, der nur eines immer wollte: seine Unabhängigkeit, plötzlich komplett abhängig wird. Wie schmal ist der Grat zwischen Fürsorge und Übergriffigkeit, wann wird aus Zuwendung Herrschsucht, wann enden Rettungsversuche in demütigender Herabwürdigung. Wann wird Aufopferung erbarmungslos. Wie liebt und hütet man einen Mann, der an dem Tag zusammenbricht, an dem man ihm gesagt hat, man könne nicht mehr leben mit ihm. Was tun, wenn das blöde Schicksal sich zweimal auf dieselben stürzt. Wenn auch sie krank wird, und es immer schwieriger wird, nicht zu hadern. Wie verändert sich das Verhältnis zu anderen Menschen, wie lernt man, sich nicht kränken zu lassen, wenn einige, die sich einst Freunde nannten, aus Angst vor Krankheit und Schwäche wegbleiben. Wie klaffen Wirklichkeit und Wahrnehmung in einem solchen Leben auseinander.
Wie idyllisch, das Foto, auf dem Du mit rotem Sonnenhut durchs hohe Savannengras zu Deinem SchreibPlatz gehst. Aber ich frage mich natürlich: Gibt es dort Schlangen? Immer wittert sie Gefahr, wirst Du jetzt denken, wenn Du diese Zeilen liest. Und hast ja recht. Alle unheilvollen Begebnisse der letzten Jahre schlummern in mir und lauern nur darauf, geweckt zu werden und als schwarzgefiederte Raben flatternd durch mein Herz zu streichen. Dein Hut hat genau das Rot der beiden schlanken Säulen vor Deiner Schreibhütte, wie schön das aussieht zwischen dem gelben hohen Gras, unter dem milchig blauen Hitzehimmel. Der Trost der Schönheit. Davon wird immer wieder die Rede sein. Dieses kleine komische Glücksgeraune in mir, wenn ich genau die richtige Lampe an den genau richtigen Platz in meiner Wohnung stelle. Dann muss ich immer wieder hinlaufen und gucken und ein bisschen Wonne fühlen. Ästhetische Diktatorin, hat er mich genannt. Als ich kürzlich die Farbe des Löffels, mit dem ich mein Ei essen wollte, nach der Farbe meines Pullovers aussuchte … Nein, das möchte ich jetzt lieber nicht kommentieren.
Während ich diese Zeilen schreibe, schaue ich auf einen üppigen Tulpenstrauß mit orangenen, roten und weißen Blüten. Die Kelche geöffnet, einige der Stängel wachsen zielstrebig nach oben, andere ranken sich lässig nach unten. Das hat eine betörende Sinnlichkeit. Als rekelten sich die Blumen einem künftigen Glück entgegen und nähern sich doch nur ihrem welkenden Ende. Nur? Sind Schönheit und Vergänglichkeit nicht ohnehin in der Wahrnehmung vereint? Gibt es Lust an der lebendigen Schönheit ohne die Ahnung ihrer flüchtigen Dauer?
Du seist gern dort in Deiner staubgelben und blaugehügelten Wildnis, hast Du geschrieben. Ob es Dir gelingt, die Weite der Landschaft in Deine Texte zu holen? Schon auf den Fotos tut mir Dein Ort gut, an dem Du jetzt bist. Ich sitze in einem grauen Winterregen. In meiner grauen Stadt. Und soll Dir erzählen, wie es war. Mich auf den Weg machen dorthin – und fürchte mich.
Ein bisschen hast Du gedrängt, als wir neulich am Telefon sprachen. Ich solle es angehen. Und so habe ich heute die Holzkiste mit den Kondolenzbriefen hervorgeholt, habe die Briefe sortiert und die Kiste unter fließendem Wasser geschrubbt. Sie soll nicht staubig sein, wenn ich all die Zettel, die vielen großen und kleinen Notizbücher hineinlege, die ich im Laufe der Jahre vollgeschrieben habe. Nur wenn ich schrieb, wenn ich in Worte fasste, was ich erlebte, ließ sich eine Distanz herstellen, gab es Raum zwischen dem Geschehen und mir. Wenn ich über den Wall der Worte spähte auf das, was mir geschah, konnte ich es ruhiger ertragen. Die Worte beschützten mich. Eingehüllt in einen Mantel aus Sätzen und Seiten und Punkten und Ausrufezeichen, fürchtete ich mich weniger. Der Blick auf das Geschehen hat das Geschehen selbst entdramatisiert, aus der Wirklichkeit eine Erzählung gemacht, die ich las und im Moment des Lesens nicht lebte.
Ich habe nun tatsächlich meine handgeschriebenen Tagebücher zusammengetragen und die über all die Jahre in den Laptop getippten Notate ausgedruckt. Hunderte von Seiten. Morgen bringe ich sie zum Binden. Mal sehen, wie lange sie mich dann anstarren werden, ohne dass ich hineinschaue. Wilhelm Genazino hat einen seiner trüben Helden sagen lassen: «Ich litt … unter innerer Bodenlosigkeit.»
«Es» – das war das Sehen und Nichtsehen, das Verstehen und Nichtverstehen dessen, was da geschah. Die kleinste Hoffnung habe ich ergriffen, als sei sie ein Seil und kein Fädchen, und habe meine Kraft darauf vergeudet, das zu verdrängen, was offensichtlich war: Sollte er überleben, dann als schwer versehrter Mann.
«Es» – das war meine Geduld und auch meine Ungeduld. Er musste viel husten wegen der Schluckstörung. Das hat mich nervös gemacht. Die aus den Mundwinkeln rinnende Spucke fand ich oft unappetitlich. Als er wieder ein bisschen selber essen konnte und sich ständig bekleckerte, habe ich auch gereizt reagiert. Wenn er dachte, pinkeln zu müssen, und Angst hatte, zu spät Bescheid zu sagen, und ich immer wieder aufspringen musste, um die Flasche zu holen, habe ich unwillig geächzt.
Ich soll mich hier also der Person stellen, die ich vermutlich war. Ich war nicht, wie ich hätte sein können. Wenn man denn je ist, wie und wer man sein könnte.
Er würde jetzt grinsen und sagen: Schon großes Wollen ist groß.
In einem seiner Romane schreibt Richard Flanagan: «Die Vergangenheit ist immer unvorhersehbar.» The past is always unpredictable. Und wenn sich Beschönigungs- oder Vertuschungsputten mit feisten Backen lächelnd ins Bild drängen? Wenn die trügerische Erinnerung längst die aus mir gemacht hat, die ich gern gewesen wäre? «Deckerinnerung» hat Sigmund Freud den Vorgang genannt, wenn nebensächliche Erinnerungen die existenziellen an den Rand drängen, verdecken. Der Widerstand gegen die heiklen Momente, die bedrängenden Wahrheiten, führt dann zu Erinnerungslücken und -fehlern.
Und so sitze ich hier schräg zusammengeknöpft wie ein falsch angezogener Regenmantel und warte auf die Courage zu lesen, was ich damals aufschrieb. «Wie soll man über Krankheit reden?», hat mal jemand gefragt und sich selbst geantwortet: «Zu viel ist furchtbar. Aber gar nicht wäre schlimmer.»
Wie eine Situation erzählen, wenn ein Mann in seinem Delirium, die Lebensgefahr offenbar spürend, hundertmal und noch viel öfter, immer wieder und wieder sagt: Nicht abbrechen, bitte nicht abbrechen, nicht abbrechen, kein Ende, kein Ende, kein Ende, bitte kein Ende.
«Es» – das war der ständige Angstschmerz, der sich wie eine wässerige Lösung in den ganzen Körper ergoss. Zehn Jahre lang sitzt die Angst mit am Tisch – oder ihre kleinen Cousinen Unruhe, Sorge, Bangigkeit sitzen neben mir auf dem Sofa, am Schreibtisch, stehen mit mir am Herd, liegen mit mir im Bett. Es ist gut, es ist vernünftig, Angst zu haben, aber wenn die Angst uns hat, dann sind wir verloren. Ohne Angst wären wir wohl längst von Kirchtürmen gestürzt, vom Straßenverkehr zermalmt, von der Nacht verschluckt, von der Liebe vernichtet. Aber wenn die Angst uns vertilgt und wir in panischen Nächten fast den Notarzt oder die Polizei rufen wollen, weil das Herz rast, weil es pocht im Kopf und man das Rauschen im Ohr für fremde Schritte hält, die sich bedrohlich nähern, dann hat die Angst die Macht und das Sagen, tyrannisiert uns nach ihrem Gusto.
Freiheit stellt sich ein, wo die Angst aufhört. Irgendwo habe ich den Satz einmal gelesen. Klar, habe ich gedacht, deshalb schüren die Rechten ja hier und überall die Ängste der Menschen, damit sie sich manipulieren lassen. Deshalb erklärt ja der großartige Theoretiker der Protestkultur, Gene Sharp, einer der wichtigsten Sätze für die Veränderung einer Gesellschaft in Richtung Freiheit sei: Promote hope not fear. Aber in meinem kleinen Alltag hat die Angst sich eingenistet. Und hat mich unfrei gemacht. Angst als Agentin der Zerstörung von Lebensmut. «Wenn du einmal anfängst, Angst zu haben, kannst du nicht mehr aufhören», wurde kürzlich ein nordkoreanischer Dissident in der Zeitung zitiert. Ich konnte nicht mehr aufhören, Angst zu haben. All die Jahre nicht. Wenn ich in meine Straße einbog und einen rot blinkenden Krankenwagen sah, sah ich ihn darin. Alles, was noch nicht war, könnte jederzeit sein. Vielleicht ist es das, was die Angst lodern lässt – die Fülle der Möglichkeiten. Angst ist diffus, Furcht konkret. In seinem Buch ‹Das Prinzip Hoffnung› schreibt Ernst Bloch: «Der Boden wankt, sie wissen nicht, warum und von was. Dieser ihr Zustand ist Angst. Wird er bestimmter, so ist es Furcht.» Manchmal fließen Angst und Furcht ineinander, weitet sich die Furcht zur Angst. Und wer sich fürchtet, ängstigt sich auch.
Mehrmals hat er in der Intensivstation auf die Frage des Arztes, ob er einfach nur in Ruhe gelassen werden wolle, heftig mit dem Kopf genickt. Die Verweigerung machte dem Arzt fast mehr Sorgen als der Hirnschlag, die Herzmuskelentzündung, die Lungenentzündung.
Wenn du stirbst, flüstere ich an seinem Bett, bringe ich dich um.
Wenn ich das nächste Mal komme, sagt sein liebster Freund am Telefon, dann legen wir uns eine halbe Stunde auf den Teppich, und ich halte dich fest, wir legen uns eine halbe Stunde einfach nur auf den Teppich.
Erinnerungen sind immer auch Erfindungen. Der ungarische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Imre Kertész, der Auschwitz überlebte, hat gesagt, er habe Auschwitz erfinden müssen, um über Auschwitz schreiben zu können. Weil er sonst das Schreiben nicht überlebt hätte? Wir anderen, mit den vergleichsweise belanglosen Zumutungen und Verstrickungen, erfinden aus Bequemlichkeit oder Eitelkeit oder weil wir uns im gemütlich dämmrigen Lebenshaus nicht trauen, neue Fenster aufzureißen. Angst vor dem Unbekannten in uns oder vor blanker Leere. Was, wenn man sein Leben lang ein unbeschriebenes Blatt geblieben ist?
Sie sehen völlig nixig aus, hat mir einmal eine imposante Frau ins Gesicht geschmettert, als ich schüchtern und unsicher auf einer ihrer berühmten Partys in New York herumstand – nicht eingeladen, sondern mitgebracht. Der Satz hat mich verfolgt. Und erst später, als ich selbst alt wurde, habe ich mich damit getröstet, dass sie zwar recht hatte, als sie nichts fand in mir, aber dass sie auch böse war, böse auf ihre alternde Schönheit und mich, die ich vor ihr stand, jung und mit leerem Gesicht, in dem aber noch viel Platz war für neue Lebendigkeit.
Wie «es» erzählen? Bitte keine Schmonzette, sagt die Frau in mir, deren Nerven in den vielen Jahren fasrig wurden, die zärtlich und zornig wuchs und schrumpfte. Die lernte, eine andere Wirklichkeit zu gestalten. Die ihm den Tod wünschte und nichts so sehr fürchtete, als dass er sterben könnte. Wie leben mit ihm? Wie leben ohne ihn? Aber wir haben gelebt, haben sogar immer wieder gern gelebt und voller Freude in dieses Leben gegriffen.
Fast jeden Morgen lachen wir zusammen. Zum ersten Mal lacht er in der Rehaklinik, als er eine CD von Gerhard Polt hört. Meine Tochter hat sie ihm mitgebracht und spielt sie ihm vor. Wir wissen noch nicht, wie sehr sein Kopf beschädigt ist, ob er überhaupt denken, Zusammenhänge erfassen kann – als auf einmal sein Bett wackelt. Schüttelfrost, denke ich, Fieber, ein Anfall, Dehydrierung; und habe schon den Finger an der Klingel, als ich begreife: Er lacht. Er schüttelt sich nicht im Fieber, sondern vor Lachen. Er versteht, was er hört, er begreift den Witz, der Kopf funktioniert. Himmel sei Dank: Er kann lachen. Er hat in all den Jahren immer wieder schallend gelacht, hat sich kaum halten können vor Lachen, hat Tränen gelacht, saß halbgelähmt in seinem Rollstuhl, konnte nicht sprechen und hat gelacht.
Wenn ich im Rückblick zu erstarren drohe im Eisbunker der Erinnerung, dann schaue ich mir Fotos an, auf denen er lacht. Strahlend lacht. Und tröste mich mit der Gewissheit, dass es diese Momente gegeben hat. Sie immer wieder gab. Das Lachen war ein großes trotziges Dennoch. Und es war ein Lachen mit einer neuen Freude aneinander. Die wir langsam entdeckten. Denn in all diesen elenden Jahren, in denen wir gekämpft, gelitten und gewütet haben, haben wir uns und einander auch mit neuer Innigkeit kennengelernt. Er musste seine Bedürftigkeit zeigen. Ich meine Hilflosigkeit. Beides ließ sich nicht verbergen. Er hatte die Courage und die Kraft, emotional dem brüchigen Körper zu folgen. Sanft zu sein, zuzuhören, hinzusehen. Ich mag ihn jetzt viel lieber als vorher, sagt eine junge Freundin, als sie ihn besucht. Er nimmt mich ganz anders wahr.
Auch das gehört dazu, das Lachen, die Innigkeit, wenn ich «es» erzählen soll.
Die englische Journalistin Elisabeth Tova Bailey hat eine leuchtend kluge und hinreißende Erzählung von einer Kranken geschrieben, in der Krankheit kaum vorkommt. Stattdessen berichtet sie uns alles über eine Schnecke. Ihre Schnecke. Über die wir mehr erfahren, als wir je wissen wollten – und gar nicht aufhören können zu lesen. Mit vierunddreißig Jahren wird Elisabeth Tova Bailey krank. Ein gefährlicher Virus ungewisser Herkunft zerstört ihr vegetatives Nervensystem, bringt sie mehrfach an den Rand des Todes und belässt sie über eine lange Zeit so geschwächt, dass sie sich im Bett kaum von einer Seite auf die andere drehen kann und es nicht einmal schafft, sich aufzurichten, um aus dem Fenster zu blicken. Eines Tages bringt ihr eine Freundin ein kleines am Waldrand ausgegrabenes Ackerveilchen in einem Keramiktopf. Auf dem Wege hat sie noch eine Schnecke aufgelesen und diese unter die Blätter der Pflanze gesetzt. Bailey wundert sich sehr über dieses merkwürdige Geschenk. Was soll bitte sie mit einer Schnecke? Und ahnt nicht, dass in diesem Moment eine höchst wundersame Geschichte beginnt. Denn es ist die Schnecke, die Bailey im Leben hält, die sie rettet. Diese kleine weiche Molluske in ihrem kunstvoll schönen Gehäuse, die die Kranke über Stunden und Wochen und Monate beobachtet. Wie sie neugierig und anmutig gleitend die Umgebung erkundet, elegant ihre Fühler bewegt, sich mit gerecktem Hals nach hinten über ihr Gehäuse hinweg putzt, sich Schlafmulden gräbt. Und ausgerechnet dieses klebrige Kriechtier wird der Kranken (und auch uns) zum Lehrmeister in behutsamer Wahrnehmung und stillem Sein. Das Schneckenschauen wird zu einer Art Meditation. Baileys oft angstvoll panische Gedanken werden ruhiger. Passen sich dem fließenden Gleiten des Tieres an. Der Pulsschlag normalisiert sich. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich immer mehr auf die Schnecke und immer weniger auf sich und ihr Leiden, das sie frei von jeglicher Larmoyanz konstatiert. Bald kann sie die nachtaktive Schnecke geruhsam essen hören. Ein tröstlich gleichmäßiges Geräusch. Die Kranke fühlt sich nicht länger allein in ihrem eigenen Gehäuse aus bedrohlicher Hinfälligkeit und Entkräftung, im Dunkel der schlaflosen Nacht. Nach Wochen des Schneckenschauens «konnte an unserer Beziehung kein Zweifel mehr bestehen: Die Schnecke und ich lebten offiziell zusammen». Nur die Schnecke ist so gemächlich, bedächtig und sanft, wie die Kranke es braucht.
Immer bittet auch er um Langsamkeit, bittet darum innezuhalten, er braucht meine Ruhe, meine Gelassenheit, die ich so oft nicht habe.
Ich sause mal eben zum Bäcker.
Langsam!
Ich koche uns schnell was.
Langsam!
Ich telefoniere nur kurz mit Luise.
Lange!
Gerade rauscht ein Boot mit schwarzem Segel über den Fluss, an dem ich sitze. Das würde ich Dir viel lieber erzählen, mir vorstellen, wer dort ist auf dem Boot, ein zerstrittenes Paar vielleicht, sie hat schlecht geschlafen, hastig gefrühstückt und keine Lust auf den grauen Sturm, der sie vorantreibt. Er sitzt scheinbar unbeeindruckt von Frau und Wind mit den Tauen in der Hand und singt. Lauthals. Ein wütender Jubel entströmt seiner Kehle. Er mag es, hier zu sein. Dreht sich nicht um nach ihr, will ihr verstimmtes Gesicht nicht sehen. Früher hatten sie Spaß miteinander, wenn sie gemeinsam segelten. Haben sich auch bei Regen auf den Planken geliebt. Er singt lauter.
Die Tagebücher sind nun gebunden und sehen wunderschön aus. Rot und kupferfarben wie der Bezug meines großen Tagbettes, auf dem ich auch jetzt liege und schreibe. Einband und Stoff waren keineswegs abgestimmt aufeinander, aber sie harmonieren. Ich schaue sie gern an. Aber nicht hinein. Tagelang habe ich keinen der drei dicken Bände aufgeschlagen.
Aber jetzt, liebste Freundin, habe ich tatsächlich einen Teil der Tagebücher gelesen. Habe mich jeden Morgen mit Herzzittern und Bangen an meinen Tisch gesetzt. Den Tee in der gelben Tasse mit dem türkisenen schmalen Rand, die Du so magst. Und mit der Frage im Kopf: Will ich das hier wirklich? Da draußen gibt es Menschen, Museen, Radwege, Parks, Konzerte, Zimmertheater, Kneipen, da gibt es Kinos, Markthallen, Frühstückscafés mit vielen Zeitungen, mit frischen, duftenden Dinkelbrötchen und hausgemachter Aprikosenmarmelade. Es gibt den Wedding, Neukölln, Spandau, Pankow, so viel Berlin, das ich nicht kenne. Es gäbe sogar die Möglichkeit zu reisen.
Ich lese minuziöse Berichte der Tage, Wochen, Monate, Jahre. All die Handgriffe und Hoffnungen, Fortschritte und Todesnähe, Verwaltung und Pflege, Freundesdienste und Freundesflucht. Ich lese viel Finsternis, Wirren, Wut und Angst. Angst vor der nächsten Thrombose, der nächsten Lungenembolie, dem nächsten Herzabsturz, dem nächsten Seelenabgrund, der nächsten Blasenentzündung, dem nächsten Dekubitus.
Aber ich lese auch Kraft und Zartheit, Leises, Beglückendes. Wenn er etwa – als er endlich einen elektrischen Rollstuhl bedienen kann – ganz dicht an den Herd herangefahren kommt, an dem ich hantiere, Zucchini und Frühlingszwiebeln schneide oder Süßkartoffeln schäle, um näher bei mir zu sein, mir zuzusehen. Wenn er Nähe mag, ist das Leben auf einmal fast normal. Zwei Menschen, die zusammen sind, sie kocht, er schaut lächelnd zu und legt ihr seine wackelnde Hand auf die Hüfte.
So ist es schön, sagt er. Schön, sagt er jetzt oft, wenn er Dinge sieht, die er früher übersehen hat. Sanfte Momente. In denen es ganz still wird in uns.
Ich bin so traurig, sage ich eines Morgens zu ihm.
Schön, sagt er, schön.
Ich werde keine Idylle malen. Es war nicht idyllisch. Er war nicht das Schaf und ich nicht die liebliche Hirtin. Er hat gewütet. Ich habe gefaucht. Er konnte mich so kränken wie sonst niemand. Fast bis zum Ende. Es gab Zornattacken gegen mich und gegen seinen Zustand.
«Mein Zustand.»
Ich nehme mir Pausen beim Lesen, liebste Freundin, schaue in den Himmel, auf dem vom Wind gejagte Wolkenschiffe vorübersegeln. Mache mir einen Tee, koche mir ein Ei, schneide mir einen Apfel.
Krankheit und Kränkung. Erst in diesen Jahren habe ich den semantischen Zusammenhang verstanden. Den Angriff der Krankheit auf die Unabhängigkeit, auf die Selbstachtung, auf fast alles, was das Ego bisher ausgemacht hat. Wie sich behaupten im ruinierten Zustand. Wie ein Ich bewahren, ein neues Ich hervorbringen. Ein Ich sein.
«Heute Nachmittag», so steht es im Tagebuch, «hat er gezittert vor Enttäuschung und Erschöpfung. Immer wieder hat er sich an der Stange hochgezogen, weil er dachte, er müsse scheißen. Immer wieder habe ich seine Hosen nach unten gestreift und die Pfanne unter den nackten Hintern gehalten. Die Adern im Hals und auf der Stirn schwollen an von der Anstrengung. Und nichts kam. Immer wieder diese Pein. Immer wieder diese Besorgnis, er könne den richtigen Moment verpassen und in die Hose machen. Immer wieder die Angst davor, von dem körperlichen Ungenügen zutiefst gedemütigt zu werden.»
Ich habe die Kränkung nur miterlitten. Wenn man denn mitleiden kann mit jemandem, der so aus allem herauskatapultiert worden ist, was sein bisheriges Leben ausgemacht hat. Wenn man denn mitleiden soll, weil er das vielleicht am wenigsten braucht.
Dein Schmerz ist mein Schmerz – mit diesem Satz hat mich einmal eine Therapeutin aus ihrer Praxis getrieben. Es geht doch darum mitzufühlen und trotzdem und gerade bei sich zu bleiben. Das konnte die Therapeutin nicht. Das konnte ich nicht. Als meine Tochter über lange Zeit sehr krank war und ich mitlitt, war ich keine gute Gefährtin für sie. Weil ich hilflos in ihren Schmerz eintauchte. Was sollte sie mit dieser Art MitLeid anfangen. Mich trösten, weil es ihr schlechtging?
Sein Zustand hat mir so weh getan, dass ich manchmal wütend wurde mit ihm, um den Schmerz wegzuschimpfen. Emotionale Hilflosigkeit gebiert bekanntlich kleine oder auch größere Monster. Wir Menschen sind merkwürdige Wesen. Oft so rudimentär in unseren Gefühlen, so wenig kultiviert, so unerzogen. Ein Elternhaus, das keine Schule der Gefühle ist, entlässt emotional hilf- und haltlose Kinder in eine komplizierte Welt. Menschen, die ihre eigenen Gefühle nicht kennen und auch nicht die der anderen, sind nicht nur unglücklich, sie können gefährlich werden. Weil sie Härte mit Stärke verwechseln und Mitgefühl mit Schwäche. Weil sie denken, es sei besser zu nehmen als zu geben. Und Freundlichkeit sei nur was für Weicheier. Die ihren Schmerz in Verliese einmauern und riesige Felsblocken aus Arroganz, Abwehr, Urteil und Zorn vor die Tür rollen, damit er unerreichbar bleibt. Es leiden die Individuen. Es leidet der soziale Zusammenhalt. Eine freie Gesellschaft lebt auch von der Empathie, der Achtsamkeit, des Achtens auf andere.
Auf ihn zu achten und auch auf mich – ich hatte beides nicht gelernt. Und hatte nun zehn Jahre Zeit, es zu üben.