Es bleibt

Lass mich doch einmal traurig sein bitte

Als ich zu ihm in den Krankenwagen steige, um endlich nach Hause zu fahren, sagt er erleichtert: Da bist du ja. Ich bin nicht gern allein. Jetzt, sagt er, jetzt beginnt das schöne neue Leben.

 

Und dann liegt er zu Hause, in der Wohnung, die noch keine ist, liegt in einem Zimmer, das noch keines ist, im gemieteten Krankenbett. Er liegt ganz stumm. Fühlt sich fremd. Um ihn herum zwei Männer, die letzte Ecken spachteln und malen. Es gibt noch keine Möbel, keine Küche und erst seit zwei Tagen eine Haustür. Die ersten Wochen habe ich mit zwei angenagelten schweren Plastikbahnen im Türrahmen gewohnt, die im Windzug schabend aneinanderstießen. Nachträglich kann ich kaum glauben, diesen so jämmerlich kranken Mann in ein so notdürftiges Provisorium geholt zu haben. Damals wollten wir nur weg aus der Klinik.

Er hat die Pflegerin gebeten, einen großen

Der Strauß ist da, die Pflegerin weg.

Und nun?

Ich laufe zum Metzger, zur Apotheke, solange die Maler noch in seinem Zimmer sind. Wage nicht, ihn nur eine Sekunde allein zu lassen. Ich füttere ihn, lese ihm vor, putze sinnlos herum, was tun mit der Zeit? Ich haste innerlich durch den Nachmittag. Erst am Abend kommt die Pflegerin wieder. Er hat Schmerzen, die schlimmer werden. Offenbar ist der Katheter verstopft. Ich rufe die Frau an, die seine Hausärztin werden soll. Nein, sagt sie, am späten Abend komme sie nicht. Ich möge den Notarzt rufen. Was ich tue. Er kommt, und ist wohl eher Gynäkologe als Urologe. Nur mit Mühe gelingt es ihm, den Katheter zu entfernen. Einen neuen zu setzen schafft er nicht. Stümpert herum.

Notarztwagen und ins Krankenhaus, sagt er. Auf keinen Fall, sage ich, und wenn ich ihn dreimal windle in der Nacht, er kommt in keinen Krankenwagen und in kein Krankenhaus. Das nicht. Nicht heute. Er bleibt hier.

Ich will zurück in die Klinik, flüstert er. Er hat Angst. Aber die Pflegerin (die keine Krankenschwester ist) und ich schicken den Arzt weg. Sie stülpt ihm ein Urinalkondom über – so etwas hat sie auch noch nie gemacht –, hängt einen Beutel dran und fährt nach Hause.

 

Ich hole zum Mittagessen, was sich leicht schlucken lässt. Kartoffelmus und Lachs, Quarkspeise. Alles verspeist er mit großem Vergnügen. Er kann schon einiges essen, aber noch nicht trinken. Wasser wird ihm durch einen Schlauch eingeflößt, der in einem Loch im Bauch verschwindet.

Er bittet, die große Flügeltür zur künftigen Küche zu öffnen, und ist glücklich. Schön, sagt er immer wieder, schön und zeigt mit seiner schlackernden Hand mit großer Geste in den großen Raum.

Am Abend kommt ein eleganter Urologe, der sich die Tasche von einer langbeinigen Sprechstundenhilfe tragen lässt. Zumindest weiß er, was er tut.

Endlich erscheinen Handwerker, um die Küche einzubauen. Ich bitte die beiden jungen Männer, an sein Bett zu treten und ihm guten Morgen zu sagen. Er streckt ihnen die wackelnde Hand entgegen, die sie tapfer nehmen. Dann fangen sie an zu sägen, zu schmirgeln und zu hämmern. Der dichte feine Staub hängt auch in seinem Zimmer, der gerade im Krankenhaus eine Lungenembolie knapp überstanden hat.

Langsam bekommen die Tage eine Struktur, einen Rhythmus. Jeden Morgen gehe ich zwischen halb acht und acht in sein Zimmer. Er winkt, wenn ich mich der

Und dann erzählt er, woran er gedacht hat. Meist verstehe ich ihn gut, muss nur selten nachfragen, seinen Redefluss nicht unterbrechen. So viel lagert in seinem Kopf und möchte heraus. Mal sind es Jugenderinnerungen, mal sind es frühere Geliebte, dann ein Theaterstück, das ihm plötzlich eingefallen ist. Er erzählt von seinen vielen Reisen.

Habe ich dir je von dem Kameramann erzählt, der die blödesten Kalauer erfand? Was heißt Schnellkocher, hat er einmal gefragt, als wir in Rom ein Gipfeltreffen drehten. Garibaldi.

Und jetzt strahlt er in seinem Bett, als er sich daran erinnert.

 

Oder es ist ein französisches Gedicht, das er aufzusagen versucht. Ich google es, und dann deklamieren wir es gemeinsam.

Maître Corbeau, sur un arbre perché,

Tenait en son bec un fromage.

Maître Renard, par l’odeur alléché,

Lui tint à peu près ce langage : …

Um neun Uhr kommt die Pflegerin mit frischen Brötchen. Jeden Vormittag – wenn er gewaschen wird, wenn er später im Rollstuhl am Esstisch die Zeitung durchblättert (Überschriften kann er lesen, die Zeilen darunter nicht, weil das Gesichtsfeld halbiert ist), wenn Ergotherapeuten, Logopäden, Masseure, Krankengymnasten ins Haus kommen – telefoniere ich mit eventuellen Pflegern oder Krankenschwestern, mache Listen für die, die hin und wieder am Abend kommen, um mich zu entlasten.

Abendpflege

Im Rollstuhl

– Zähne putzen im Bad am Waschbecken

– Rücken abreiben mit Franzbranntwein

– Nachthemd anziehen

 

Im Bett

– Schuhe, Hose, Schiene, Strümpfe ausziehen

– Beine mit Franzbranntwein abreiben

– Po säubern und mit Mirfulan einreiben, wenn nötig

 

– rote Decke über die Füße

– Körnerkissen unter den linken Arm

– weiches Kissen einmal geknickt unter den rechten

– die Brille putzen

– Inhalieren – wenn nötig – mit Salbeitee

– Urinalkondom anlegen und Beutel anhängen

– Linkes Bein und linken Arm mit dem Massagestab massieren

– Linken Arm bewegen

– …

Ich telefoniere mit Krankenkassen, Ärzten, Rollstuhlfachkräften, mache Termine, plane die Tage, die Hilfen, organisiere Handwerker.

Er hasst sein Bett. Zu schmal, sagt er, ein Bettchen.

Stunden telefoniere ich mit der Krankenkasse. Das Bett ist zu schmal, sage ich. In der Nacht fällt sein Bein raus, das gelähmte, das Thrombosebein, das Bein mit dem Spitzfuß.

Tja, sagt die Dame am Telefon, ein Pflegebett ist dafür da, dass man in ihm pflegen kann.

Ob man darin schlafen kann, frage ich, zählt nicht?

Schlaf ist kein Heilmittel, erklärt sie mir mit nun schon einiger Ungeduld in der Stimme.

Ich finde Handwerker, die es breiter machen. Damit er die Arme rechts und links auf Schaumgummistreifen bequem ablegen kann, die Klingel, die Fernbedienung dort liegen können. Das Konstrukt gelingt. Aus alten Laken lasse ich Bezüge nähen.

Genial, sagt er, so ist es gut.

Später lasse ich eine feste Barriere am Bett anbringen.

 

«Habe heute sicher sechsmal versucht, am Schreibtisch zu sitzen», steht im Tagebuch, «es hat nie länger als vier bis fünf Minuten geklappt, weil er ruft und mir zeigen will, dass er das linke Bein schon ein bisschen heben kann, oder es ruft die Frau gellend um Hilfe, die ihn aus dem Bett holen soll – fast hängt er schon mit dem Po am Boden, als ich angerannt komme; weil es klingelt an der Tür und ein Freund erscheint, um mit ihm Fußball zu gucken, der ein Bier möchte und unbedingt meine Anwesenheit, bis die Sendung beginnt, um nicht allein sein zu müssen mit dem, mit dem er nicht reden kann.» «Am Abend», so habe ich notiert, «gibt es Hackfleisch mit geschmorten Zucchini.»

Jeden Tag sitze ich mit der Uhr in der Hand. Um fünfzehn Uhr geht die Pflegerin. Dann muss ich da sein. Und bleiben. Jeden Nachmittag. War ich vorher weg, laufe ich zuerst in sein Zimmer, wenn ich zurück bin. Er freut sich, wenn ich komme. Da bist du ja. Wie oft hat er das früher am Telefon gesagt, wenn er mich

Jeden Nachmittag hole ich ihn aus dem Bett, schnüre die Schiene ans Bein, ziehe die Hose erst über das gelähmte, danach über das andere Bein, dann muss er sich mit der funktionierenden Hand an den Galgen klammern, damit er den Hintern heben und ich die Hose hochziehen kann. Jetzt fahren wir das Kopfteil des Bettes in eine fast senkrechte Position, er hält sich an meinem Nacken fest, während ich die Beine über den Bettrand schwinge. Er sitzt. Und ich knie vor ihm auf dem Boden, um ihm die Schuhe anziehen zu können. Ein mühsames Procedere, weil sein Körper versteift durch die Anstrengung. Irgendwann haben wir auch das geschafft – er zieht sich an der Stange vor dem Bett hoch. Er steht. Ich vor ihm. Halte ihn, während er sich leicht dreht, um sich in den bereitgestellten Rollstuhl fallen lassen zu können. Jedes Mal habe ich Angst, beim Drehen umzukippen mit ihm oder womöglich vergessen zu haben, die Bremsen am Rollstuhl festzustellen. Fast jedes Mal sage ich hinterher: Toll, ging doch schon wieder besser.

Einmal erklärt ihm ein befreundeter Arzt, dass es sicher noch Monate dauern werde, bevor er wieder laufen könne. Er weint. Und ich finde die richtigen Worte nicht, um ihn zu trösten.

Jeden Nachmittag sitze ich mit ihm, jeden Abend koche ich. «Es gab köstliches Hühnerfrikassee», steht im Tagebuch, «es geht uns gut». Oder: «Er trinkt

Aber dann wird der Dekubitus schlimmer, er steht nicht mehr auf, liegt leidend im Bett. Ich tue, was ich kann, sagt er. Aber ich will nicht gequält werden. Ich hole den nächsten Arzt mit Reputation. Schon wieder ein eitler Kerl, der eigentlich keine Hausbesuche macht.

Aufschneiden, sagt er, Krankenhaus, sagt er. Dauert ungefähr zehn Tage, sagt er.

Nein, sage ich, nein sage ich, nein. Kein Schneiden, keine Narkose, kein Krankenhaus.

Männer mögen es bekanntlich nicht, wenn ihre Autorität angezweifelt wird. Und Ärzte schon gar nicht. Wie können Laien es wagen, eigene Entscheidungen zu treffen. Das frage ich mich auch, nachdem ich ihn hinauskomplimentiert habe, und recherchiere nervös. Wie behandelt man einen Dekubitus. Ich telefoniere, frage herum. Die Pflegerin erkundigt sich bei Kolleginnen. Wir bestellen ein Lammfell in der Apotheke, auf das wir ihn betten. Und entscheiden: Die Stelle vorsichtig reinigen, ganz sanft mit Eis abreiben, mit flüssigem Betaisadona betupfen, halbwarm trocken föhnen

Wochen und Wochen liegt er jeden Morgen auf der Seite und muss es zulassen, wie sein Hintern massiert, beeist, betupft und geföhnt wird.

 

 

 

Und wie wahrt man dabei seine Würde?

Was ist Würde? Ein innerer Anstand, eine Geisteshaltung, eine zuverlässige Orientierung, Ausdruck einer «erhabenen Gesinnung», um Schiller zu zitieren? Also eher eine Errungenschaft als eine Eigenschaft, eher erworben als ererbt. Ist es ein feierlicher Respekt, den wir stolz und voller Demut zugleich uns selbst entgegenbringen? Wie lässt sich Würde fassbar machen? Ist es die Vorstellung, die wir von uns selbst entwickeln? Der Neurowissenschaftler Gerald Hüther spricht von einem inneren Kompass, den wir, so meint er, schon mit auf die Welt gebracht haben.

Würde bewahren, auch in Momenten, wenn das entzündete Loch im Hintern gepflegt werden, wenn man, ausgelieferter noch als zuvor, sich dreingeben muss.

Mehrfach wende ich ihn nun in der Nacht, ziehe ihn hoch, mache ihn sauber – nehme Schmerzmittel gegen den verrenkten Rücken. Ich lerne, ihn auf der Unterlage zu mir zu ziehen, um ihn auf die Seite wenden zu können, weiß bald, wie ich das neue Tuch rollen und von der anderen Seite ganz nah an ihn herandrücken muss, um ihn jetzt so schubsen zu können, dass er sich über die zusammengewickelte Unterlage dreht.

Er ist unglücklich, weil er mir so viel zumutet. Zumuten muss.

«Die Scheiße und das Sterben sollten unsichtbar sein», schreibt Annie Ernaux in ihrer wunderbar klugen, so persönlichen wie politischen Chronik Frankreichs und sich darin. Daran war bei uns nicht zu denken. Die

Mein Stuhlgang ist Scheiße, sagt er.

Ich grinse. Was soll er sonst sein, frage ich, Aprikosenkompott oder Himbeermarmelade?

Er schmunzelt, wir plänkeln.

Würde entsteht, so sagt es Gerald Hüther, weil das Hirn eine Orientierung brauche, an der es seine Arbeitsweise ausrichte. So entwickelt man ein Bild von sich, wie man sein möchte. Es wächst eine Achtung vor sich selbst, ein klares Verständnis der Anerkennung der eigenen Person wie des Gegenübers. Für mich hat Würde eine innere Anmut, eine Grazie, eine Harmonie zwischen Sein und Geste. Niemand, der Würde hat, muss eine Pose einnehmen, sich ein Bild überstülpen, weil er dem eigenen Ich nicht traut.

Der schon einmal zitierte große Psychoanalytiker Arno Gruen hat klug beschrieben, wie Pose entsteht. Ein Mensch, der den Weg nicht findet zu seinen eigenen Gefühlen, zu einem Selbst, wird nicht autonom, sondern angepasst leben. Wird sich der Gesellschaft unterwerfen, ihre Regeln übernehmen, sich selbst entfremdet bleiben. Was weder ihm noch der Gesellschaft guttut. Denn jene Menschen, die Leid, Schmerz, Gefühle abgespalten haben in sich, die keine Lebendigkeit fühlen, leben in der «Fixierung auf die Pose». Sie brauchen Macht, Ruhm, Geld, Zerstörung, um ihre «eigene, innere Leere zu füllen».

Für mich ist Würde das Gegenteil von Pose. Pose vergiftet. Würde heilt.

Würde heißt auch: Der oder die zu sein oder jedenfalls sein zu wollen, die man sein könnte.

Werde, der du bist, heißt es bei Pindar, dem griechischen Dichter, der etwa 5oo vor Christus gelebt hat. Man kann es auch in Wolf Biermanns Übersetzung von Alexander Pope sagen:

«Krieg raus, wer du bist!

Und schnüffel nicht Gott hinterher!

Denn das, was die Menschheit ist,

Begreifst du am besten in dir.»

 

Nach einer Weile der erste Spaziergang, das erste Spazierenschieben auf der Straße. Er erkennt eine Frau auf einer Caféterrasse, hebt den Arm, der sich heben lässt, winkt ihr. Sie schaut – leicht befremdet – und redet weiter mit ihren Freunden.

Verzagt lässt er den Arm sinken. Sie erkennt mich nicht. Es gibt mich nicht mehr.

Er hat recht. Der Mann, der er war, war sportlich, sprachbewusst, redelustig, denkschnell, witzig; er radelte, spielte Tennis, liebte Frauen. Der Mann, der er jetzt ist, sitzt schmerzgebeugt im Rollstuhl. Der Dekubitus scheuert und sticht. Eine Seite ist gelähmt. Er sabbert leicht. Hustet viel. Ein lebensrettender Husten, weil der Speichel sonst in die Luftröhre und in die Lunge laufen würde und eine womöglich tödliche Lungenentzündung auslösen könnte. Wenn er sprechen will, krächzt er.

Menschen, die ihm früher entgegenströmten – er

Vielleicht kannst du bei mir bleiben, wenn ich ihn besuche, und wenn du merkst, ich schaffe es nicht, führst du mich unauffällig hinaus.

Manche Menschen ahnen gar nicht, was für eine Zumutung sie sind.

 

Wieso hat er nicht jeden Tag getobt und geschrien, sich das Gesicht zerkratzt, nach mir geschlagen, nach der Pflegerin, wieso hat er sein Essen, sein Trinken nicht an die Wand geschleudert oder ausgespuckt, mir ins Steuer gegriffen, wenn wir (später haben wir auch das geschafft) im Auto fuhren, wieso hat er nicht ständig in die Hosen gekackt aus Protest. Er hat gewütet, gefaucht, mit seiner starken Rechten um sich geboxt. Aber er hat sich eben auch jeden Morgen gefreut, wenn ich in sein Zimmer kam, hat mich angelacht.

Würde, sagt ein Freund, heißt annehmen, was einem abverlangt wird, ohne seine Haltung dabei zu verlieren. Das gilt auch für mich.

«Seit einer Woche», steht in meinem Tagebuch, «habe ich das Haus kaum verlassen und bin klaustrophobisch. Seine Pflegerin ist krank. Die andere mag ich noch nicht alleine lassen mit ihm. Aber ich will raus, will durch die Stadt schlendern, will Leben sehen, fühlen, hören. Will Ablenkung, neue Bilder, neue Eindrücke. Will ein Draußen.»

Immer will ich raus, weg. Wie er. Weg, sagt er, wenn ich frage, wohin er gehen würde, wenn er gehen könnte. Weg!

Als ich einmal mit einem Taxi zum Bahnhof fahre, fragt der gesprächige Fahrer, wohin es denn gehe. Weg, sage ich, schleudere ihm das Wort entgegen. Und gebe damit mehr von mir preis als mit jedem Ort, den ich genannt hätte. Weg von zu Hause, weg von ihm, von der Enge, der ständigen Verfügbarkeit.

Das Alleinsein wird für mich zum Sehnsuchtsort.

 

Würde heißt annehmen, was einem abverlangt wird, ohne seine Haltung dabei zu verlieren. Eine literarische Figur verkörpert für mich Würde in ihrer reinen Form. Stoner, der Protagonist in dem gleichnamigen Roman von John Williams. Ein Autor, der weiß, dass kaum ein Leben aus Glanz, Erfolg und Nachruhm besteht. Aber dass jedes Leben seine Würde, seine Sehnsucht, seine Unberechenbarkeit hat, seine Liebe und seine dramatische Banalität. Williams reizt es nicht, von der Oberfläche eines Lebens zu erzählen, sondern

Vielleicht habe ich auch deshalb diesen Roman so andächtig gelesen und verschlungen zugleich. Weil auch ich in diesen Krankenjahren immer wieder versucht habe, mich innerlich zu befreien, ohne aus der Verantwortung zu fliehen. Da ich die Situation nicht ändern konnte, musste ich mich ändern, indem ich lernte, die innere Freiheit zu leben, während die äußere Freiheit schrumpfte. Ein hehres Ziel. Oft notiert. Und selten erreicht. Dem Lauern der Lebensverheerung, den Zumutungen des Alltags bin ich immer wieder kleinmütig erlegen. Kein Wunder, dass Stoner mein Held wurde. Einer, der von außen gesehen fraglos ein Verlierer ist, tatsächlich aber ein autonomer Charakter, ein widerspenstiger Sonderling, der triumphiert über die Welt der Macht, des Ansehens und der Bewunderung.

 

Als ich endlich begriffen hatte, dass er nicht krank war und genesen, sondern krank war und krank bleiben würde, habe ich mich wehren müssen gegen die Resignation, gegen die Versuchung zu kapitulieren, gegen die Gefahr, bitter, und die Sorge, einsam zu werden. Dem wollte

Hadern? Es macht einfach keinen Sinn zu fragen, warum ich? Welche Antwort erwarte ich denn? Dass ein Gott mich straft, ein Schicksal mir grollt, ich selbst schuld bin, mir einen Mann ausgesucht zu haben – ungebärdig, lebenshungrig, so empfindsam wie explosiv –, der munter in die Selbstzerstörung stürmte? Will ich feststellen, dass die Welt ungerecht ist – geschenkt. Soll ich nun, weil es mich getroffen hat, philosophisch die Frage nach der Weltgerechtigkeit stellen?

«Bitterkeit habe ich mir schlicht verboten» – so steht in meinem Tagebuch. Was für ein ahnungsloser Satz. Ich habe zum Glück klüger gehandelt als gedacht. Habe so oft wie möglich gearbeitet. Habe mir freie Zeit organisiert, Stundenpläne gemacht. Einmal am Tag musste ich das Haus verlassen und irgendwo in der Nachbarschaft einen Kaffee trinken, die Zeitung lesen, Leute anschauen. Damen mit Hündchen, schaukelnde Busen, junge eifrige Männer in zu eng geschnittenen Anzügen oder zu weiten Pullovern, junge Mädchen mit glatter Haut und im Sommer flatternden Röcken; ich beobachtete die hatschenden Alten, die Penner, die Bettler, die tobenden Kinder. Mit hungrigen Augen habe ich sie alle verschlungen.

Die Friseurin von gegenüber sitzt auf der Holzbank vor dem Salon und raucht eine Zigarette. Sie träumt von einer anderen Zukunft, will wieder in die Schule gehen, das Abitur nachmachen, Sprachen lernen. Sie hat einen

Ihr Kollege erzählt mir aus dem Leben seiner reichen Kundinnen. Gelangweilte alte Frauen, die mit ihrer Entourage ins Adlon ziehen, wenn zu Hause die Teppiche gereinigt werden. Die sonnenhungrig im gecharterten Flugzeug nach Cannes fliegen, um einen Tag lang in dem Haus einer Freundin aufs Meer zu gucken. Die Zofe hat kaum Zeit, die Koffer auszupacken, da geht es schon wieder zurück. Ein glanzvolles Leben, sagt er, zwei der Glanzdamen haben sich übrigens im letzten Jahr umgebracht.

Ich brauche Geschichten. Auch in Romanen ist es weniger die Handlung als das Gefühlsgestrüpp, in das ich mich wonnevoll hineinlese. Die subterranen Kanäle der Bewusstseinsströme, das in allen Schattierungen schimmernde Weiß des Zorns und des Verrats, die maulwurfblinde Entschlossenheit, mit der Wege genommen werden, die in den Abgrund führen. Und immer wieder die so beständigen wie ausdauernden Versuche, ein Glück zu finden oder gar eine Liebe und diese zu retten.

Gerade jetzt will ich Geschichten hören. Aus dem normalen Alltag, dem verrückten Alltag, egal, irgendwas. Einmal erzählt mir ein befreundetes Paar von der Krise, in der sie Monate gesteckt hätten. Wir wollten dich nicht belasten, sagen sie. Ich begehre auf. So sperrt ihr mich doch noch mehr ein in seine Krankheit.

 

Er kann jetzt den geschälten und geachtelten Apfel selbst essen, den ich ihm jeden Morgen in derselben geblümten Schale bringe, die ihm eine bayerische Geliebte einst schenkte. Er kann den angedickten Tee selber trinken. Später liegt er im Bett und kaut mit großem Behagen sein in kleine Stückchen geschnittenes Käsebrötchen. Jeden Morgen. Er kann kauen. Endlich kann er kauen. Nach drei oder vier Jahren wird die Magensonde entfernt, und er kann recht gut essen. Am liebsten hat er Püriertes aus Süßkartoffeln, roten Beeten, Auberginen, Zucchini, Sellerie oder Kartoffeln. Er isst Gemüse ohne Kräuter – sie könnten hängen bleiben im Hals – und hellgold gebratene Bratkartoffeln.

Dieses zufrieden kauende Gesicht. Er kann zufrieden sein. Erst kürzlich habe ich von einer Untersuchung gelesen, die herausfand, dass selbst Patienten mit einem Locked-in-Syndrom, die nur noch mit den Augenlidern flattern können, im Durchschnitt nicht weniger

Kleine Momente der Normalität. Ein Mann liegt im Bett und isst mit sichtlichem Genuss sein Brötchen, sitzt im Rollstuhl am Tisch und löffelt lustvoll mit leicht wackelndem Arm Zermanschtes.

Wissen Sie, sagt ein Freund, der schon lange lebt mit seiner kranken Frau: Es gibt viele Arten zu leben.

 

Es war eine Chance. Ich habe Jahre gebraucht, das zu begreifen. Er war schneller. Es ist mir, hat er einmal gesagt, es ist mir vielleicht noch nie so gutgegangen.

Meinte er den Satz, als er ihn sagte? Fühlte er sich befreit? Nur die Krankheit und er. Keine Erwartungen, keine Rolle, keine Bühne, kein Druck, keine Intrigen, kein Kampf. Herausgenommen aus der Welt. War es nur das eine Mal, dass er so fühlte? War manchmal eine tiefe Ruhe in ihm?

Er hat es nie wieder gesagt. Vielleicht hat er es nie wieder empfunden. Aber einmal hat es dieses Gefühl gegeben. Dieses Wohlsein. Und hat vielleicht einen kleinen Summton, einen Subton hinterlassen in ihm. Sodass neben dem Zorn und der Bitterkeit, der mutlosen Niedergeschlagenheit immer wieder auch Raum war für Behagen und Gelächter. Das Leben bleibt eben nicht in der Schublade liegen, in der wir es so gern unterbringen möchten. Es rumort, bricht aus, ist voller hell lebendiger Widersprüche. Zum Glück. Der gerade Weg

Ein bisschen bleibe ich dort, wo er nicht mehr sein kann. In der Welt. Und er lässt mich dort sein. Vielleicht aus Angst, mich sonst zu verlieren. Vielleicht ist er einfach großzügig. Oder klug, weil so ein bisschen Welt auch zu ihm kommt. Er mag es, dass ich arbeite. Ist froh, wenn ich abends ausgehe.

Ich komme früh zurück. – Warum? Bleib lange.

Und immer hat er Angst um mich. Er weiß, dass er ohne mich nicht existieren kann. Nicht so existieren kann, geborgen im Elend.

Bin ich dir lästig, fragt er oft.

Wie darauf antworten? Nicht mehr als früher, sagen und grinsen dabei. Es jedenfalls versuchen. Witz und Verzweiflung – strange bedfellows, die gern das Bett teilen, wenn man sie lässt und sich balgen um die Daunendecke.

Bin ich dir lästig?

Hin und wieder sage ich: Weniger als früher. Und auch das stimmt. Das Miteinander – seit Jahren verlorengegangen – haben wir jetzt. Die gemeinsame Herausforderung: In der Krankheit sein und im Leben bleiben. Ihn nicht vernachlässigen und auch nicht mich. Das ist die Gratwanderung.

Vielleicht, denke ich, vielleicht kann man wirklich so leben.

 

Das sind vielleicht die schwersten Momente, wenn die Lust auf Zukunft von der Gegenwart aufgebraucht wird, wenn das düstere Jetzt uns beherrscht.

Den Kopf nicht hängenlassen, ermahne ich mich. Ein hängender Hals lädt ja unumwunden dazu ein, abgeschnitten oder ans Seil gehängt zu werden.

Was tun? Wie kann ich ihn erreichen? Wo ist er? Soll ich dir etwas vorlesen, frage ich, wollen wir Musik hören? Er schüttelt den Kopf. Er kann nicht einmal mehr wollen. Sitzt nur noch da in seiner grauen Verlorenheit.

Aber wir leben, sage ich. Als könnte das ein Trost sein.

Immer wieder will er nicht leben, wenn er sich nicht verständlich machen kann, sich ausradiert fühlt vom Bild der Welt, die er einst so raumgreifend bewohnte.

Er habe sich umbringen wollen in der Nacht, sich hinausstürzen wollen aus dem Fenster, aber der Weg sei so lang (als ob er einen kürzeren Weg schaffen würde).

Weil alles sinnlos ist.

Das ist nicht neu, sage ich, sinnlos war das Leben für dich auch vorher schon – aber darf ich dich zitieren: Man braucht einen Hilfssinn im Leben, und das sind andere Menschen. Ich bin ein anderer Mensch, also bin ich Lady Hilfssinn.

Er grinst. Und so plaudern wir und lachen. Er isst eine Birne und einen Apfel, scheißt hingebungsvoll, trinkt einen Becher angedickten Tee, hustet wenig.

Er kann sich ja nicht einmal umbringen. Weil er das Fenster nicht allein erreichen, die Tabletten nicht horten, sich vor kein Auto werfen oder von einer Brücke springen könnte. Jahrelang hat er gesagt, bald sei er so weit, «dann kann ich es tun». Aber wenn ich in seine Verzweiflung hineinflüstere: Du kannst mich doch nicht allein lassen, und er erklärt, er lebe doch ohnehin nur noch für mich, möchte ich mich ans offene Fenster stellen, mich weit hinauslehnen und sehr laut HILFE schreien.

Am Abend der Satz: In dieser Nacht werde er sich wohl nicht umbringen.

In der anderen Welt beginnt an eben dem Tag die Buchmesse.

 

Es tut weh, sich wieder hineinzufühlen in die Zeit. Der alte Schmerz kommt zurück, quartiert sich ein, macht sich breit, will wieder dort sein, wo er sich so lange heimisch gefühlt hat, tut so, als hätte er ein Gewohnheitsrecht, setzt sich ins Brustbein und wartet, lauert auf

Lange lasse ich mich – ich wiederhole mich, weil es sich wiederholte – kosend von der Hoffnung umtändeln. Er wird wieder gehen, er wird wieder sprechen, sagt ein Arzt, der mir als Koryphäe auf seinem Gebiet geschickt wird, und erklärt mir mit klugen Worten die Plastizität des Gehirns, das imstande sei, neue Vernetzungen aufzubauen. Ich strahle den Heuchler dankbar an. Ich will das alles glauben. «Der linke Arm und die linke Hand sind leider mausestill», schreibe ich an eine Freundin, «aber ich höre, die Hand komme immer am letzten zurück.»

«Wir machen es uns gemütlich», steht im Tagebuch. Ein so friedlicher Satz. Als gäbe es eine Normalität. Wie heißt es in Fontanes Effi Briest: «In Wahrheit ging die Krankheit weiter und zehrte still das Leben auf.»

Das war die Normalität. Wir mussten lernen, uns zu verändern, mussten lernen, weniger Erwartungen zu haben, nein, andere Erwartungen zu leben. Uns zu verabschieden von angeblichen Gewissheiten, eine neue Beziehung zur Welt finden. Eine neue Lebensfreude. Menschennähe. Nicht untergehen. Offenbleiben. Fenster schlagen in den Kerker Krankheit. Wir hatten das Glück und Privileg, genug Geld zu haben für eine große Wohnung, die großartige Pflegerin, für Gäste, ordentlichen Wein, Therapeuten, Ärzte, Annehmlichkeiten. Raum und Zeit, hatte er früher oft gesagt, seien der Luxus des Alters. Nur, wie füllt man Raum und Zeit, wenn Krankheit einen täglich ausraubt.

 

Er kann inzwischen fernsehen. Er mag es sogar. Als wir den Apparat in der Rehaklinik zum ersten Mal anstellten, hat er geschrien und angstvoll getobt. Offenbar konnte sein Kopf die Bilder nicht ordnen. Er geriet in Panik. Heute sucht er sich aus, was ihn interessiert, kann die Fernbedienung selbst handhaben. Zappt durch die Programme. Jeder Hauch von errungener Selbstbestimmung beglückt. Als er einen Film über eine erfolgreiche, sterbenskranke Anwältin anschaut, die sich am Ende von einer Brücke in den Tod wirft, bevor der sie holen kommt, ruft er mich. Er erzählt mir den Film, und ich soll ihm zuhören. Er will mich in seinem Schmerz. Das ist meine Geschichte, sagt er, das ist genau meine Geschichte. Und weint. Ich widerspreche, natürlich widerspreche ich, wie ich immer widerspreche, wenn er mutlos ist. Spreche ihm all die Jahre Mut zu, auch dann noch, als ich selbst keinen mehr habe. Seine Krankheit, sage ich ihm jetzt, sei ja ganz anders. Bei ihm könne vieles besser werden und sei ja schon so vieles besser geworden. Deine Geschichte, sage ich, ist das nun gar nicht.

 

Lass mich doch einmal traurig sein, bitte.