Als er krank wurde, wohnten wir noch nicht. Es gab einen Dachboden, einen «Rohling» mit vielen Wäscheleinen und Dachluken, die man mit Eisenstäben öffnen konnte, es gab Pläne und Baugenehmigungen, Voranschläge und Kreditverträge, es gab Handwerker und alarmierte Nachbarn – und jetzt gab es dazu den todkranken Mann auf der Intensivstation.
Und was geschieht nun?, fragt der künftige Bauleiter zwei Tage nach dem ersten Schlaganfall. Der kleine Mann schaut mich prüfend an.
Wir bauen, erkläre ich kühn. Er scheint mich zu verstehen und nickt. Er liebt dieses Dach, sage ich, wir müssen bauen.
Es war nicht klar, ob er überleben, aber es war klar, dass ich bauen würde. Gäbe ich das Vorhaben auf, zerstörte ich seinen Traum. Und er würde jeden Traum brauchen, um gesund zu werden. Damals dachte ich noch, er könne gesund werden.
Er hatte sich vom ersten Moment an in dieses Dach verliebt, das einem Handwerker gehörte, der dort gewerkelt hatte. Überall lagen noch seine Feilen und Zangen, die Einmaulschlüssel und Meißel, die Sägen und Zwingen, die Bohrmaschine und Spachtel, und Kästen mit Nägeln und Kästen mit Schrauben in allen möglichen Größen. Alles war so penibel geordnet, wie es sein muss in einer guten Werkstatt. Es roch nach Leim und Holz.
Wie bei seinem Vater, der Tischler gewesen war und Intarsienkünstler. Der Kästchen, Nachtclubtüren und Altarbilder, Schachspiele und impressionistische Holzbilder geschaffen hatte. Und einen Bibeleinband von einer so heiter strengen Schönheit, dass man das Buch darin gerne aufschlägt.
Einmal hatte dieser Vater an einem ziseliert gearbeiteten Schränkchen gesessen und den Fehler gemacht, seine Frau zu fragen, für wen das Stück denn sei. Sie wollte nicht antworten, ahnte wohl die Folgen. Ein Geschenk von X für Göring, sagte sie schließlich. Er muss sie ungläubig angesehen haben und erklärte natürlich, dieser herrlich sture Anstandsmensch, dass diese Arbeit leider unverkäuflich sei. Acht Monate ist er dafür ins Gefängnis gegangen. Für eine kleine heroische Geste. Und dann gab es den Pfarrer Augustinus Winkelmann im Kloster Marienthal am Niederrhein, der gefährdeten Künstlern Aufträge gab für seine Kirche. Damit sie leben, ihre Familien ernähren konnten. Sein Vater hat ein leuchtendes Triptychon für den Altar geschaffen.
Als er schon krank war, haben wir einmal einen so komplizierten wie schönen Ausflug in seine Kindheit unternommen und auch das Kloster besucht. Die Pflegerin und ich haben ihn die drei geländerlosen Stufen hinaufgehievt zum Altar – und dann stand er dort, streichelte die kunstvoll ineinandergefügten Intarsien seines Vaters, strich immer wieder mit seiner wackelnden Hand über Alpha und Omega, über Fische und Kreuze, die aus dunklem Grund in hellem Kirschholz erstrahlten.
Als er in das Dach kam, kam er in die Werkstatt seines Vaters. Kam zu seinem Vater, den er geliebt hatte.
Ich musste bauen.
So plante ich nun eine Zukunft, von der ich nicht wusste, ob es sie geben würde. (Als ob man das je wüsste.) Es gab die Möglichkeit des Todes und die Möglichkeit des Wohnens. Und ich habe sein mögliches Sterben und mein entschlossenes Zukunftsbauen wie zwei Sternenbahnen empfunden, die sich – in der ewigen Parallelität gefangen – nie treffen können. Ich lebte mit der Schere im Kopf, die jeden Faden zerschnitt, der sich frech von einem der Orte zum anderen ziehen wollte.
Erst einmal muss ich alles lernen, was seine Aufgabe gewesen wäre: Versicherungen, Finanzierungen, Arbeitsverträge. Ich studiere Revit-Pläne, die ich nicht verstehe. Ich entscheide Fenstergrößen, Türhöhen, Steckdosenplätze, Durchbrüche, Gasleitungen, Dielenböden, Elektrokreise, Wasseranschlüsse – später dann Fliesen, eingefärbte Betonböden, Wasserhähne, Duschköpfe.
Jeden Morgen zwischen sechs und sieben rufe ich im Krankenhaus an. Meist sind die Antworten entmutigend. Schlechte Nacht, schwacher Puls, zu geringe Sauerstoffsättigung, was Hirn und Herz beschädigen könnte. Oder er hat sich Schläuche und Kanülen aus dem Körper gerissen. Sie haben ihm die Hände angebunden. Was er natürlich nicht erträgt. Sie versuchen es mit dicken Handschuhen, mit denen er nicht wirklich hantieren kann. Später, nach dem zweiten Schlaganfall, ist ein Arm ohnehin gelähmt. Da brauchen sie nur noch einen Handschuh.
Nach dem Telefonat radele ich zur Baubesprechung und fahre dann ins Krankenhaus. Immer habe ich es eilig. Ich muss wissen, wie es ihm geht, muss ihn sehen, ihn anfassen, bei ihm sein, ihn streicheln, im Gesicht, auf der Brust, am Arm, muss seine Hand halten.
Auch noch, als er im Koma liegt.
Jetzt müssen Sie nicht mehr kommen, sagt der Arzt. Es hat keinen Sinn.
Unsinn, denke ich. Und sitze jeden Tag dort, um ihm vom Dach zu erzählen.
Heute haben sie die ersten Wände weggeschlagen, sage ich, weißt du, die hinten, wo es den Gang in dein Zimmer geben wird. Den Bauschutt lassen sie in großen Taschen am Seil mit der Winde herab, die du unbedingt behalten wolltest. War eine kluge Entscheidung. Und auch die Wand vorne in der Küche ist schon fast weg. Das wird ein sehr großer Raum. So wie du es liebst. Der ganze Boden ist aufgerissen, wir müssen neu dämmen. Wir suchen nach einer Lösung für die Gasleitung. Sie muss ja durchs ganze Haus gehen. Aber stell dir vor, wir kriegen einen Kamin. Der alte Luftschacht funktioniert. Das Gerüst am Haus ist schon fast fertig. Und jetzt haben sie Asbest im Dach entdeckt. Gestern balancierten drei Gestalten in weißen Schutzanzügen da oben herum. Abenteuerlich sah das aus. Was für Kacheln sollen ins Bad? Rot oder grün? Na ja, so weit sind wir noch nicht, das hat noch Zeit. Findest du eine eckige Gaube schöner oder eine halbrunde? Ich rede, erzähle, beschreibe, frage. Er muss inzwischen beatmet werden. Manchmal weine ich.
Im Rückblick sehen diese Szenen aus wie absurdes Theater – verzweifelt grotesk und komisch. Da liegt ein womöglich sterbender Mann im Koma, und die Frau erzählt ihm von Gerüsten und Gasleitungen, von Schutt und Fensterbögen, von Dachanhebungen und Zementanlieferungen und von den Bedenken vom Bauamt. Sie baut dieses Dach. Und will es bauen mit ihm. Vielleicht fing ja da alles an, vielleicht hat sich da schon die neu erwachende Liebe, von der noch die Rede sein wird, ins Geschehen geschlichen.
Ich erzähle ihm nicht von der amtlichen Fürsorgepflicht, die ich für ihn beantragen muss.
Ich kaufe alte Türen, bestelle Bücherregale und entscheide mich für ein barrierefreies Bad. Mein Unterbewusstsein weiß offenbar mehr als ich. Ich konferiere mit Gewerken, entscheide, ob die Säulen rund oder eckig werden und wo die Herdplatten eingelassen werden sollen in den Küchentresen. Und schreibe jeden Abend im Bett mit spitzem Bleistift fein säuberlich auf, was ich am Tag beauftragt und was bezahlt habe.
Wenn man sich eine Wohnung baut, muss man Wohn- und Lebenserfahrung hineinbauen. Eine Zärtlichkeit für Materialien, eine Freude an Blickachsen, eine Lust an Formen. Sollte das von sich hineinbauen, mit dem man später wohnen möchte.
Architekten erzählen manchmal, wie schwierig es sei, Bauherren Informationen über sich zu entlocken. Die Antworten seien oft dürftig, wenn man frage, wie sie leben, wie sie wohnen wollten mit sich und dem Alltag. Es sei, als kennten sie ihr eigenes Leben nicht.
Als wir Richtfest feiern, liegt er noch im Krankenhaus. Wir holen ihn mit dem Krankenwagen und zwei Sanitätern ins Dach. Soll ich ein paar Worte sagen, fragt er, und dann hält er eine Rede. Vor dreißig oder vierzig Menschen. Ich übersetze. Ich weiß nicht mehr, was er gesagt hat. Aber ich weiß noch, wie ich seine Kraft und seine Courage, seine Würde bewundert habe. Und wieder einmal dachte: Eine zweite Chance. Ein neuer Anfang. Und ahnte am Richtfest nicht, wie wichtig werden würde, was wir hier gerade feierten: das Wohnen.
Man muss sich seine Wohnung er-leben, bevor sie zu einem Zuhause wird. Muss sich der Launen früherer Mieter entledigen oder in neue Räume das hineinsummen und hineinatmen, was man dort später spüren möchte. Gaston Bachelard spricht in seinem Buch ‹Die Poetik des Raumes› von der «Poesie des Wohnens».
Aber wie gestaltet man ein Wohnen mit Gebrechlichkeit, mit Krankheit. Für jemanden, der nicht mehr zu Hause ist in seinem Körper, sondern von ihm bedroht. Der Orientierung braucht und Sicherheit. Für den die Wohnung ein zuverlässiger Ort werden muss, ein Ort, dem er vertrauen kann. Ein Schneckenhaus, in dem er seinen empfindlichen Leib bergen kann. Wie schafft man ein Zuhause, in das Hoffnung und auch Todesgemurmel mit einziehen werden. Wie richtet man sich ein, ohne zu heucheln. Wie versöhnt man Pragmatik mit Ästhetik?
Welche unabdingbaren Gerätschaften stehen herum, wo werden nicht Bilder aufgehängt, sondern Laufstangen errichtet und die Pfosten dafür mit kreischenden Bohrern in die neuen Dielenböden gedübelt. Und dann stellt man einen Spiegel mitten ins Zimmer, der die Geometrie des Raums gründlich verpatzt, ihm aber ermöglicht, sich zu sehen, sich zu überprüfen, wenn er an der Stange das Aufstehen übt.
Teppiche kommen in den Keller. Es rollt sich nicht gut auf ihnen.
«Es muss davon gesprochen werden», so Gaston Bachelard, «wie wir unseren Lebensraum in Übereinstimmung mit allen dialektischen Prinzipien des Lebens bewohnen, wie wir uns Tag für Tag in einen Winkel der Welt verwurzeln.» Was zeigt eine Wohnung von uns, von der Krankheit. Wie viel Krankheit darf sein im Raum. Wir stellen uns der Wirklichkeit, aber wir stellen uns nicht aus. Windeln, Pinkelflaschen oder Urinbeutel sind nicht zu sehen. Selbst die Medikamente sind untergebracht in einer großen Holzkiste, in der uns einst jemand sechs Flaschen Rotwein schenkte. Überall gibt es Tücher, die das Bittere seines Zustands ein wenig verhängen. Bachelard schreibt: «… von den verschiedensten theoretischen Standpunkten aus betrachtet, scheint das Bild des Hauses zur Topographie unseres intimen Seins zu werden.»
Ich kannte einmal eine Frau, die das abgeschabte Sofa und den verschlissenen Lehnstuhl in ihrer Wohnung nicht neu bezog, weil der kranke Mann sie ohnehin bepinkeln und bekleckern würde. So wartete die liebende Gattin mitten in den fadenscheinigen Stoffen auf seinen Tod, um alles erst dann und nur für sich neu polstern und beziehen zu lassen. So nimmt man Kranken ihre Würde und merkt nicht einmal, wie die Schäbigkeit in einen selbst hineinkriecht. Auch das muss man üben: Den Kranken als Subjekt sehen, ihn achten wie (hoffentlich) sich selbst. Die Frage der Würde begleitet einen in Zeiten wie diesen fast täglich.
Ich war zornig, wenn ich ihn mit fleckigem Unterhemd im Bett liegen fand, weil ein Pfleger zu bequem gewesen war, ihn umzuziehen nach einer Sudelei. Fast rabiat zog ich ihm das Hemd aus, ein neues an, darüber ein T-Shirt und dazu eines der farblich passenden kleinen Frotteetücher, die er brauchte, um sich den rinnenden Speichel abzuwischen. Ich habe ihn und mich und die Wohnung gepflegt. Es gab Kerzen, Blumen, saubere Rollstühle. Ich habe mich täglich geschminkt. Ich wollte nicht den Geruch von Krankheit in der Wohnung. Diese Mischung aus Mief und Urin, die sich so leicht festsetzt und aufs Gemüt legt.
In einem Interview erklärt ein kanadischer Professor, der über Riechen und Schmecken forscht, den neuroanatomischen Grund für die Beziehung zwischen Riechen und Gefühl. «Die Riechzentren Ihres Gehirns sind … identisch mit den Bereichen für die Formation von Gedächtnisinhalten und Emotionen. Es gibt da keinen Umweg über die zentrale Schaltstelle des Thalamus – wie etwa beim Sehen oder Hören.»
In seiner Reha stank es. Nach Rosenkohl, billigem Fett und Fäkalien. Das Gebäude zu betreten war eine Zumutung. Schlimmer, es war ein Anschlag auf die Lebenskraft. Wer soll bitte in solchen Ausdünstungen gesund werden. Auch deshalb wollte ich ihn dringend nach Hause holen. In ein Zuhause, das es noch nicht gab.
Als er krank und die Wohnung zur Welt wurde und zum Schutz vor der Welt, und in ihr das Leben bedroht war, brauchten wir einen Raum, der uns aushielt. Dessen Poesie unseren Schmerz aufnahm und unsere Zärtlichkeit, unser Geschrei und unser Schweigen. Der uns festhielt, wenn wir zu stürzen glaubten, und uns tröstete in seiner Geduld und seiner Schönheit. Ja, wir brauchten einen geduldigen, einen schönen, einen generösen Raum für die Wahrheit und Dichtung unseres Lebens
Das war die Herausforderung.
Als ich einmal in einer Runde von Freunden gefragt wurde, ob ich ein Hobby hätte, wollte ich die Frage unwillig abschütteln. Ich mag das Wort nicht. Denke an Hobbykeller und nervöse Vorbereitungen für Partys mit Nudelsalat. An Bierabende von Stammtischvätern und angestrengt schlüpfrige Lustigkeit. Und doch antwortete ich zu meinem eigenen Erstaunen nach nur kurzer Unschlüssigkeit: Wohnen. Und hatte keine Ahnung, was ich meinen könnte.
Vor Jahren ist mir eine ähnliche Frage schon einmal gestellt worden. Was ist Ihre Passion? Essen, sagte ich und wusste genau, warum ich es sagte. Ich esse leidenschaftlich gern. Muss fast jeden Morgen neu entscheiden, mit welchem Geschmack ich den Tag beginne. Mit Tomate, Marmelade, Käse oder einem gekochten Ei? Also muss ich vorschmecken. Den Gaumen in Gedanken ankitzeln. Ich brauche den richtigen Geschmack am Morgen, weil sich sonst unweigerlich später Unmut in Kopf und Magen ausbreitet. Und dann muss auch noch die Frage geklärt werden, wo ich sitze, um das Brot mit dem Ei oder der Marmelade zu essen. Setze ich mich an den großen Esstisch oder den kleinen Küchentisch? Ich mag beide Tische. Aber es hängt ab von der Mühe, mit der ich mich gerade am eigenen Schopf aus der Nacht in den Morgen gezogen habe, ob ich Lust auf diesen Tisch habe oder auf den anderen, und ob ich lieber sitze auf der kleinen Bank mit dem bunten Kissen oder auf dem Stuhl mit dem geflochtenen Sitz. Und dann muss ich auch noch entscheiden, auf welchem Teller ich mein Frühstück essen möchte. Auf dem geblümten vom Trödler oder dem nacktweißen von IKEA. Im Winter nehme ich fast immer den geblümten. Ich will mich jetzt nicht selber verwirren mit meinen Frühstücksticks, indem ich sie hier alle notiere, und dabei die Frage aus dem Auge verliere: Ist Wohnen meine Leidenschaft?
Was meinst du, fragt eine Frau in der Essensrunde. Einrichten oder was?
Na ja, einrichten muss man ja wohl, wenn man wohnen möchte. Aber ich meine tatsächlich Wohnen: Ich wohne gern. Ich liebe es, zu wohnen. Ich bin wohnsüchtig. Wohnen ist für mich ein existenzielles Gefühl. Es ist viel mehr als nur das Dach über dem Kopf, die Tür zur Welt, die sich schließen lässt, der Vorhang am Fenster, die eine rote Kachel im weißen Bad, die Kastanie im Hof, das Katzengeschrei in der Nacht, die Straßenbahn vor dem Haus. Wenn ich wohne, wohnt alles, was in mir webt und tobt und klagt, alles, was in mir vibriert. Die MenschenLust, die Hektik, die Liebe, die Einsamkeit, die Hilflosigkeit, die Schönheit. Alle haben im Wohnen ihren Platz. Auch der Trost. Manchmal sitzt genau er in der einen roten Kachel im weißen Bad oder in der bronzenen Klinke an der Tür, in den Steinen, die ich gesammelt habe an Ferienstränden; er sitzt in der Nische mit der amerikanischen Keramik aus den zwanziger Jahren oder in der Wärmflasche, die mit heißem Wasser gefüllt schon im Bett auf mich wartet.
«In seinen tausend Honigwaben», schreibt Gaston Bachelard, «speichert der Raum verdichtete Zeit.» Wohnen und Sein gehören für mich zusammen, erkläre ich – nicht ohne Zweifel an meinem eigenen Satz.
Zu Hause sein?, fragt einer aus der Tischrunde.
Ich nicke. Aber ich wohne ja nicht nur zu Hause.
Wenn ich an das Zuhause meiner Kindheit denke, kommt mir fast nie das Bild des Hauses vor Augen, in dem ich aufgewachsen bin; es taucht auf eine kleine Vertiefung in einer Wiese neben einem Weg, auf dem fast nie jemand ging. Dort hockte ich mich hin, schmiegte mich ein in sie und kaute gutgelaunt auf sommerwarmen Grashalmen. Ich kann mich nicht erinnern, gedacht oder mich Träumereien hingegeben zu haben. Es scheint mir im Rückblick, als habe das Kind einfach sein können. Im hohen Gras allein mit sich. Geblieben ist das Gefühl einer kleinen warmen Lebendigkeit. Als hätte ich dort für Momente den Ort der schönen Ruhe gefunden, nach dem ich später immer wieder suchte.
War es das, was ich mit Wohnen meinte? Ein Gefühl der Zuflucht? Oder ich sitze in der Gabelung eines großen Baumes. Versteckt im Laub. Ungesehen, aber mit Blick auf das Haus, in dem ich ein Zimmer habe, mein Kinderzimmer. In dem ich später so viele Monate fast bewegungslos liegen sollte.
Dort oben auf dem bequemen Ast in den Blättern gab es wieder dieses erfreuliche Gefühl, gern da zu sein.
Es war der Park, in dem ich aufwuchs, in dem ich bin, wenn ich an zu Hause denke. Dieser dem Heidesand abgetrotzte riesige Garten mit seinen mächtigen Bäumen, seinen Rhododendrenhecken, seinen Fliederbüschen und Gemüsegärten mit Himbeer-, Brombeer- und Stachelbeersträuchern, seinem Spargelfeld und seinen Obstbäumen – Mirabellen, Äpfel, Birnen, Pflaumen und Kirschen –, mit seinem feuchtwarm dunstigen Treibhaus, mit dem erregenden Geruch nach Erde, in dem ich lernte, Pflanzen zu pikieren.
Als mein Großvater das sandige Areal kaufte, gelegen am Fluss vor den Toren der Stadt, haben ihn seine Freunde ausgelacht. Was er denn wolle mit all dem Sand und den krüppeligen Kiefern. Er war ein sturköpfiger Mann. Hat ganze Lastwagenkolonnen von Muttererde anfahren lassen und einen Park geplant, gepflanzt, gehegt. Hat Schönheit geschaffen. Dieser so gestrenge Mann, in dessen kantig kargem Gesicht keine sinnliche Freude zu lesen war, hat mein Zuhause geschaffen, die Wege und Wiesen und Bäume, in denen ich das Wohnen lernte. Mir Grashöhlen baute. Mit kurzen Kinderarmen unermüdlich abgemähte Halme an meinen geheimen Ort unter eine Hängebuche schleppte, um mir ein Grasbett zu schichten.
Nach dem Abend mit den Freunden, an dem ich Wohnen als meine Passion entdeckt hatte, ging ich durch ein leichtes Schneegestöber nach Hause. Die Kühle tat meinem heißen Kopf gut. Warum hatte ich mich fast intim in dieses Thema hineingeredet? Welche Sehnsüchte, welche Phantasien projizierte ich in mein Wohnen?
Ich wusste nicht, dass viel mehr steckte in dem Wunsch nach schönem Wohnen als der Wunsch nach schönem Wohnen, dass meine leidenschaftliche Wohnsucht eine Antwort war auf kindliche Heimatlosigkeit. Wohnen als nachgeholte Lebenswärme, als Flucht vor existenziellem Unbehaustsein.
«Das Wohnen aber ist der Grundzug des Seins, demgemäß die Sterblichen sind» – der hohe Ton Heideggers ist nicht meiner. Aber ich ahne jetzt, was er meint. Die Verbundenheit vom Menschen mit seinem Wohnen.
Als er krank wurde und krank blieb, als ich die Wohnung baute und das Wohnen mit ihm übte darin, als jedes Zimmer eine Antwort wurde auf die Herausforderungen des gebrechlichen Lebens, wollte ich ein Bollwerk schaffen gegen die Zumutungen der Krankheit und manche Seelenfurcht.
Schützt Wohnen vor Verlassenheitsgefühlen? Vor Verzagtheit? Weil die Verlässlichkeit von Lampe und Lesestuhl, von Schreibtisch und Bett, weil die Erinnerung, die an der mitgebrachten Schüssel aus Portugal hängt, Trost sind. Weil das Bild sich freut auf meinen Blick. Weil der Dielenboden meinen Tritt kennt? Die Teekanne meine Hand. Weil mein Kaffeebecher weiß, wo er zu stehen hat auf der Fensterbank, weil die Blumen in den Kästen nur für mich blühen, weil die Butter streichfertig wartet auf mich auf dem Küchentresen. Weil meine Wohnung mich sein lässt, wie ich sein will. Wie mein Körper sich geschmeidig und lässig bewegt in meinen Räumen. Wie die Füße den einen oder anderen Hüpfer wagen, wie die Straßenfrau sich wandelt zur Wohnungsfrau. Ohne Schuh und Mantel, leichter die Kleidung, behänder der Schritt. Wie das kochende Wasser die Beruhigung eines Tees verspricht, wie sich hier auch die Briefe vom Finanzamt öffnen lassen, die man auf dem Weg im Hausflur unter die andere Post mischt, um sie ein bisschen zu vergessen.
«Das erlebte Haus ist keine leblose Schachtel», sagt Bachelard. Zwar wohnen wir ja alle nicht nur zu Hause, sondern auch – wie ich – grashalmkauend in Wiesennischen oder in Baumgabeln, wir wohnen in Büchern, Betten, Straßen, Kneipen, liebsten Menschen, in Zügen, Phantasien, Träumen, Filmen oder in Düften. Mäandern durch ZuhauseGefühle, die wir wahrlich nicht immer oder nur zu Hause haben. Aber wir wollen wohnen, wollen unsere Höhlen, suchen Schutz für unsere Existenz, Wohlbefinden an einem Ort.
Als er krank wurde und krank blieb, habe ich wohl erst wirklich zu wohnen begonnen, als die Welt ferner und unerreichbarer wurde, als die Schutzlosigkeit mich zu zermahlen drohte und ich Deckung suchte, Hüllen, Obhut. Als ich jeden Trost, jede Vertrautheit, jede Gewohnheit brauchte.
Vor einigen Jahren saß ich auf einem Abendessen einem Mann gegenüber, der erzählte, er wolle jetzt, nach dem Tod seiner Frau, aus seinem Haus ausziehen. Was ihm schwerfalle. Auf meine Frage, wie lange er denn dort gelebt habe, sagte er: fünfzig Jahre. Wie schrecklich – entfuhr es mir ungalant. Zum Glück sagte ich nicht, wie ungern ich einziehen würde in so ein Haus. Wie anstrengend, ja kraftraubend muss es sein, fünfzig Jahre fremdes Leben wegzuwohnen. Vor allem aber war es mir unvorstellbar, ein halbes Jahrhundert lang in ein und demselben Haus, in ein und derselben Straße, in ein und derselben Stadt gelebt zu haben. Jeden Morgen aus derselben Haustür gehen und abends wieder hinein. Jeden Morgen gen Osten zur Straßenbahn laufen und abends gen Westen zurück. Jeden Tag in denselben Läden einkaufen (wenn die es denn schaffen, so lange zu bleiben), jeden Tag derselbe Blick aus demselben Fenster auf das geziegelte Garagendach des Nachbarn, jeden Tag neun Schritte vom Schlafzimmer ins Bad und zwölf vom Schreibtisch in die Küche. Jeden Tag die Hand auf derselben Klinke. Jeden Tag dieselben reflexhaften Bewegungen. Ich sah abblätternde Farbe, welkende Haut, fadenscheinige Teppiche, schüttere Haare, vermodernde Kellerverliese, altersfleckige Hände auf rostenden Wasserhähnen, morsche Beine auf morschen Treppenstufen – ich war ungerecht.
Und musste mich fragen: War es tatsächlich das Gefühl der tristen Ödnis oder auch ein heimlicher Neid, der mich befiel? Denn wieso wehre ich mich gegen Gewohnheit und brauche das Wohnen als unersetzliches DaSeinsGefühl. Wenn wir von gewohnter Lebensweise sprechen, von gewohnter Umgebung, reden wir davon, mit der Lebensweise, der Umgebung vertraut zu sein. Wir haben eine Weile in ihr gewohnt. Ist also jedes Wohnen die Vorstufe zur Gewohnheit? Die schöne Regelmäßigkeit des gedankenlosen Trottens auf x-mal gewanderten Pfaden, des automatischen Griffs, mit dem man immer das in die Hand bekommt, was man erwartet hat. Wehe, jemand hat den Sender des Radios im Bad verstellt, und es kommt am Morgen ein Programm, das man nicht will.
Gewohnheiten sind beruhigend. Und ist man auf Reisen gewesen, hat in fremden Städten gearbeitet, in Hotels übernachtet, ist in Bussen gefahren, deren Route man nicht kennt, hat in Lokalen fremde Gerichte gegessen, dann freut man sich auf sein Zuhause, aufs Wohnen in der Gewohnheit.
Wenn ich länger weg gewesen bin, empfängt mich meine Wohnung allerdings fühlbar schmollend. Vielleicht weil ich mich nicht gebührend verabschiedet habe, wie ein Freund es zu tun pflegt. Immer klopft er vor seiner Abreise an eine Wand seiner Wohnung oder an die Haustür. Tschüss, sagt er, bis bald, und winkt noch einmal von der Treppenstufe nach oben.
Wohnungen sind kapriziös. Sie wollen wahrgenommen und nicht vernachlässigt werden. Sie können nur umhüllen, trösten, bergen, beleben, sie können uns nur willkommen heißen, wenn wir mehr in ihnen sehen als ein Gebrauchsgut. Sie sind eine zweite Haut, die uns schützt. Eine empfindliche Hülle, die jeden Atemzug, der in ihr getan wird, aufnimmt. Ich kenne Menschen, die nach Krankheiten, unguten Besuchern, unfreundlichen Gesprächen in ihren Zimmern mit Salbeiblättern das Gift der Verstimmungen ausräuchern.
Wie merkwürdig anders sich dieselben Zimmer anfühlen, wenn sie lange leergestanden haben. Als habe sich die Wärme, die Lebendigkeit nicht halten können ohne seine Bewohner darin, als verrotte die Freude wie der vor Wochen vergessene Apfel in der Obstschale. Immer wieder muss man sich die eigene, eigensinnige Wohnung neu erobern. Muss beherzt eintreten, abgeben von sich, um aufgenommen zu werden. Muss sich großzügig hineinleben. Nach langen Trennungen fremdelt man ja auch mit dem Liebsten, redet widrige Sätze, fühlt sich klamm im Gespräch – ach, den Nachbarn geht es gut und deiner Mutter auch, jaja, das freut mich, und die Kaffeemaschine ist wieder heil, wie schön, der Steuerberater hat schon dreimal angerufen, hm …
Als ich aus New York wegging und auf einem Containerschiff nach Deutschland reiste (ich konnte meine zehn Jahre dort nicht in einem Acht-Stunden-Flug verabschieden), holte mich mein Liebster, mit dem ich nun leben wollte, morgens um drei Uhr am Hafen ab. Es war April, noch duster, es nieselte, und wir standen fremd voreinander. Ich glaube, wir haben einander nicht einmal umarmt. Natürlich wussten wir, dass wir uns freuen sollten – und konnten es nicht. Es dräute zu viel Unbekanntes. Ich hatte mein Leben in New York aufgegeben. Er sein Leben als ewiger Junggeselle. Und nun?
Und so fiel diesem sonst so wortgewandten Mann nur der grandios abgegriffene Satz ein:
Ich habe mir sagen lassen, es soll sehr schön sein, so eine Schiffsreise zu machen.
Ich wollte sofort wieder zurück.
Und blieb.
Auch meine Wohnung und ich wissen nicht gleich wieder, etwas miteinander anzufangen. Als hätten selbst die Schüsseln, Leuchter und Tassen ihre Lebendigkeit verloren.
Es braucht die erste Berührung, das im Flur geträllerte Lied, die auf dem Sofa gelesene Zeitung, das in der Küche eingegossene Glas Wein. Nach Hause kommen hat immer mit dem zu tun, der da nach Hause kommt. Mit dem Lebensgefühl des Ankommens, mit dem Rauschen im Kopf von der Reise, der Arbeit, den Abenteuern, den Enttäuschungen. Alles schleppt man in die Wohnung, lädt den Ballast ab in ihr und hofft, sie möge die Konfusion im Kopf klären, die Gewohnheit möge für Ruhe sorgen und Läuterung.
Gewohnheit kann sich also auswachsen zur notwendigen Geborgenheit oder – bleibt sie unbefragt – zum dumpfen Stillstand. Weil das Neue ausgeschlossen, die Wirklichkeit entkräftet, der Möglichkeitssinn narkotisiert wird. Weil man das Wohnen und sich darin nicht neu denkt. In der Gewohnheit gibt es keine Brüskierung, keine Herausforderung, kein spontanes Agieren, sondern nur die Einfügung ins Immergleiche. Dann wird die Geborgenheit zum Bunker, in dem man sich anheimelnd einbetoniert und nicht merkt, wenn die Welt draußen zu brausen beginnt. In meiner Privatsphäre kann ich mich der Welt berauben (privare heißt berauben). Kann ich der Innerlichkeit frönen, um erschreckt ins Geschehen zu glotzen, wenn es womöglich schon zu spät ist.
Deshalb ist es ja so gefährlich, wenn sich die Gewohnheit in die offene Gesellschaft einschleicht. Wenn man zum Beispiel meint, die Demokratie sei so selbstverständlich wie die Couch in der Wohnküche, auf der man Tag für Tag lauschig vor sich hinsitzt. Und auf einmal steht ein Sturmtrupp vor der Tür der Demokratiedöser, dessen Zusammenrottung man vor lauter Gemütlichkeit überhört hat – und reklamiert die Wohnung für sich.
In dem schönen und klugen Katalog zur Ausstellung ‹Innenleben – Die Kunst des Interieurs› wird in vielen Beiträgen die Verbindung zwischen Kunst, Wohnen und Welt hergestellt. So schreibt die Kuratorin Sabine Schulze über die Utensilien des Interieurs, von Pantoffeln und Kerzen und Büchern, von Decken und Kissen: «Diese stereotypen Requisiten, die uns am Körper und gleichsam an der Seele kleben. Wohnen ist konservativ. Geborgenheitssehnsüchte scheuen radikale Neuerungen.»
Wohnen ist konservativ – weil es Erinnerungen bewahrt? Kurz nach seinem Tod zerbrach die Schüssel, in der ich ihm zehn Jahre lang jeden Morgen einen geschälten und geschnittenen Apfel ans Bett brachte. Und nun stehen die ungeflickten Bruchstücke seit fünf Jahren in der Küche auf dem Radio. Sie müssen dort sein. Ich brauche sie. Die Scherben gehören jetzt zu meinem Wohnen.
In Zeiten von Not und Krankheit wird die Wohnung zum Lebensort, zu dem Ort, an dem man bangt, verzagt oder phantasiert. Ein Ort, in dem Kraft und Zärtlichkeit schwingen. Hier ist man nicht nur geschützt vor der Welt, sondern hier wird man auch gestärkt, um Welt zuzulassen. Wohnungen sind ein Dazwischenraum zwischen uns und der Außenwelt. Wir laden ohnehin nicht jeden ein, uns wirklich zu kennen. Und so laden wir auch nicht jeden ein, uns in allen Zimmern unserer Wohnung zu besuchen. Weil die Räume uns sichtbar machen. Sie sind das Gehäuse, in dem wir uns manifestieren, uns zeigen. Wer die Wohnung betritt und in ihr ist, kann uns lesen.
Mir war immer ein wenig beklommen zumute, wenn ich in die Wohnung eines neuen Liebhabers kam und ihn dort in seinem Wohnen anders sah, als ich ihn mir vorher ausgemalt hatte.
Wohnungen verpetzen uns.
Als er krank wurde und krank blieb, haben nicht nur wir uns verändert, auch das Wohnen musste sich der Krankheit unterordnen und sie zugleich beherbergen. Sollte die Krankheit besänftigen. Durch Schönheit, Dinge, offene Türen für Menschen. Unsere Wohnung wäre ohne sein Kranksein eine andere geworden. Und wir hätten ohne die Wohnung ein anderes Kranksein gelebt. Wohnen und Wirklichkeit, zu Hause sein und Kranksein haben sich verwoben. Wie sich Sein und Wohnen wohl immer verweben.
Räume warten auf Erinnerungen, warten auf gelebtes Leben, warten auf Geschichten und bewahren sie. Auch deshalb wohne ich noch immer dort, wo ich mit ihm gewohnt habe. Ich möchte, dass die Wohnung mir unsere Geschichte erzählt.