Klappentext
John Mikali ist ein international
gefeierter Konzertpianist. Das Publikum liegt ihm zu Füßen,
die Frauen finden ihn unwiderstehlich, auch wenn er sich
zurückhaltend gibt. Seine Karriere führt steil nach oben; mit
jedem Konzert wird er besser, der Zenit ist greifbar nahe …
Während Musikfreunde und Frauen in aller Welt Mikali hemmungslos
feiern, weiß nur ein einziger Mensch, daß er zugleich einer
der gefährlichsten Männer in Europa ist – ein
russischer Agent, jener Mann, der Mikali die geheimen Aufträge
vermittelt. Niemand, aber auch niemand sonst kann ahnen, welch
ungeheuerliches Doppelleben der berühmte Pianist führt.
Skrupellos und eiskalt wird er nachts zum Mörder um des Mordens
willen. Heute ein Zionist in London, morgen ein Großindustrieller
in Italien, gestern ein Bankier in Zürich, übermorgen ein
Politiker in Berlin – die Morde scheinen keinen Sinn zu ergeben.
Westliche und östliche Regierungen verdächtigen sich
gegenseitig, ziehen ihre geheimen Anti- Terror-Pläne aus den
Schubladen, Polizei und Geheimdienste arbeiten mit- und gegeneinander
– Chaos droht. Mikali beherrscht seine Camouflage so perfekt,
daß er nie in Verdacht geraten wäre. Bis schierer Zufall
– und eine Frau – ihn mit dem altgedienten Söldner,
Agenten und Haudegen Asa Morgan zusammenführen. Eigentlich ist es
Eifersucht, die Asa Morgan so aufmerksam macht. Dann stößt
er auf eine Fährte, die ihm den Atem verschlägt …
Allmählich, fast behutsam, entwickelt sich nun
ein Kampf zweier gleichwertiger Geheimdienst-Spezialisten, der seine
faszinierende Spannung aus der Meisterschaft des Autors bezieht, wie
kaum ein anderer die Fäden dramaturgisch zu verwirren und
entwirren. Die Schlinge wird immer enger, die Jagd psychologisch und
von der Aktion her immer furioser. Bis zu einem Finale, das so
verblüffend nur ein Higgins zu präsentieren versteht.
Prolog
Der Mann aus Kreta durchschritt das
Tor in der hohen Ziegelmauer, die das Haus am Regent's Park umzog, trat
ins Gebüsch und verschmolz mit der Dunkelheit. Er blickte auf das
Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr. Zehn Minuten vor sieben, er hatte
noch hinlänglich Zeit.
Aus einer Tasche seines Anoraks zog
er eine Mauser mit aufgesetztem Schalldämpfer hervor. Er
überprüfte den Mechanismus, lud durch und steckte die Waffe
wieder ein.
Das Haus war ein imposanter Bau. Kein Wunder, schließlich
gehörte es Maxwell Joseph Cohen – Max
Cohen für seine Freunde. Cohen war unter anderem
Vorstandsvorsitzender der größten Konfektionsfirmen der Welt
und einer der einflußreichsten Juden der britischen High-Society.
Alle, die ihn kannten, mochten ihn gut und achteten ihn hoch.
Leider war er auch ein fanatischer
Zionist, ein schwerwiegender Fehler in den Augen gewisser Leute. Nicht,
daß den Mann aus Kreta dies im geringsten interessiert
hätte. Politik war Unfug. Kindischer Zeitvertreib. Sein Augenmerk
galt nicht der Zielperson, sondern einzig den äußeren
Gegebenheiten, und die hatte er gründlich studiert. Im Haus
befanden sich Cohen, seine Frau und ein Dienstmädchen –
sonst niemand. Das übrige Personal wohnte außerhalb.
Der Mann zog eine schwarze
Wollmütze über, die auch das Gesicht bedeckte und nur Augen,
Nase und Mund freiließ, dann stülpte er die Kapuze seines
Anoraks hoch, trat aus dem Gebüsch und ging auf das Haus zu.
Maria, das Dienstmädchen der Cohens, war im
Wohnzimmer, als es an der Haustür klingelte. Sie öffnete und
erschrak wie noch nie in ihrem Leben. Vor ihr stand ein Phantom mit
gezückter Pistole. Als die Lippen hinter dem obszönen Schlitz
in der Wollmütze sich bewegten, hörte sie eine leicht heiser
klingende Stimme mit deutlich ausländischem Akzent.
«Führen Sie mich zu Mister
Cohen.» Maria öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Doch der
Mann aus Kreta schob sie mit vorgehaltener Waffe beiseite, trat ein und
schloß die Tür hinter sich. «Keine Flausen, wenn Sie
am Leben bleiben wollen.»
Das Mädchen wandte sich zur
Treppe, und der Mann aus Kreta folgte ihr in den Oberstock. Als sie in
den Korridor einbogen, ging die Tür des Schlafzimmers auf, und
Mrs. Cohen erschien. Jahrelang hatte sie in der Furcht vor einem
Überfall gelebt, und als sie nun Maria sah, den vermummten Mann
und seine Waffe, sprang sie mit einem Satz wieder ins Zimmer
zurück. Sie schlug die Tür zu und drehte blitzschnell den
Schlüssel um, dann lief sie mit wild klopfendem Herzen zum Telefon
und wählte neun-neun-neun.
Der Mann aus Kreta stieß Maria
vorwärts. Das Mädchen stolperte und verlor einen Schuh, ehe
sie vor der Tür zum Arbeitszimmer ihres Herrn stehenblieb. Sie
zögerte, dann klopfte sie an.
Max Cohens «Herein» klang
ein wenig überrascht, denn es war eiserne Hausregel, daß er
in seinem Arbeitszimmer unter keinen Umständen vor acht Uhr abends
gestört werden durfte. Er sah Maria in der Tür stehen,
schreckensbleich und mit nur einem Schuh, und dann wurde das
Mädchen beiseite gestoßen, der Mann aus Kreta erschien und
in seiner Hand die Pistole mit Schalldämpfer. Sie hustete einmal.
Max Cohen hatte in seiner Jugend
geboxt, und einen Augenblick lang war es, als stünde er wieder im
Ring. Bekäme einen erstklassigen Schwinger mitten ins Gesicht, der
ihn glatt auf die Bretter schickte. Und dann lag er auf dem Rücken
in seinem Arbeitszimmer.
Seine Lippen versuchten, die Worte jenes
gebräuchlichsten aller hebräischen Gebete zu formen, das
jeder orthodoxe Jude drei-, viermal am Tag spricht, des letzten Gebets,
das er im Tod stammelt. «Höre, Israel, der Herr ist unser
Gott, der Herr ist einzig.» Doch die Worte wollten nicht kommen,
und das Licht schwand jetzt sehr rasch, und dann war nur noch
Dunkelheit.
Als der Mann aus Kreta durch die
Haustür nach draußen lief, schwenkte der erste Streifenwagen
der telefonisch alarmierten Polizei in die Straße ein, und er
konnte weitere Wagen hören, die schnell näher kamen. Der Mann
sprang durch den Garten ins Dunkle und kletterte über die Mauer in
das angrenzende Grundstück. Wenig später öffnete er ein
Tor und trat in eine enge Gasse. Er zog die Kapuze hinunter, riß
sich die Wollmütze vom Kopf und eilte davon.
Schon wurde die Beschreibung seiner
Person, wie das Mädchen sie der Besatzung des zuerst am Tatort
eingetroffenen Streifenwagens gegeben hatte, per Funk verbreitet. Was
den Mann nicht kümmerte. Ein paar hundert Meter, und er würde
im stockdunklen Regent's Park verschwunden sein. Ihn durchqueren bis
zur jenseitigen U-Bahnstation, am Oxford Circus umsteigen.
Er trat auf die Fahrbahn, als er Bremsen kreischen hörte. Eine Stimme rief: «He, Sie da!»
Es war ein Streifenwagen, wie ein
rascher Blick ihm verriet, und er schlüpfte in die nächste
Seitenstraße und fing an zu rennen. Er hatte Glück, wie
immer, denn während er an der Reihe parkender Autos entlanglief,
sah er, daß kurz vor ihm gerade jemand einstieg. Die Tür
knallte zu, der Motor wurde angelassen.
Der Mann aus Kreta riß die Tür wieder
auf, zerrte den Fahrer, Kopf voran, aus dem Sitz und sprang hinter das
Lenkrad. Er ließ den Motor aufheulen, riß das Steuer herum,
schrammte den Kotflügel des vor ihm parkenden Fahrzeugs und raste
davon, als der Streifenwagen mit seinen Verfolgern um die Ecke gerast
kam.
Er jagte über die Vale Road nach
Paddington. Wenn er die Polizisten abschütteln wollte, mußte
es schnell gehen, das wußte er: innerhalb von Sekunden
würden sämtliche Streifenwagen im Stadtviertel auf diese
Gegend zuhalten und sie abriegeln.
Das Umleitungsschild an einer
Baustelle, ein nach rechts weisender Pfeil, ließ ihm keine Wahl.
Eine Einbahnstraße, eng und finster, die zwischen
Lagerhäusern zum Güterbahnhof Paddington führte.
Der Streifenwagen war jetzt dicht
aufgerückt – zu dicht. Der Mann gab noch mehr Gas und sah,
daß er in einen langen enge n Tunnel unter den Gleisen einfuhr,
und dann erfaßten seine Scheinwerfer ein Stück weiter vorn
eine Gestalt.
Es war ein Mädchen auf einem
Fahrrad. Ein junges Mädchen in braunem Dufflecoat, um den Hals
einen gestreiften Schal. Er sah ihr weißes entsetztes Gesicht,
als sie sich umblickte. Das Fahrrad schwankte.
Er riß den Wagen zur Seite, der
äußere Kotflügel schlug Funken aus der Tunnelwand.
Vergebens. Es war einfach nicht genug Platz. Ein dumpfer Aufprall,
nichts weiter, und dann wurde das Mädchen von der Kühlerhaube
herunter und zur Seite geschleudert.
Der Streifenwagen bremste scharf. Der Mann aus Kreta fuhr weiter, aus dem Tunnel und in die Bishops Bridge Road.
Fünf Minuten später
ließ er das Auto in einer Nebenstraße in Bayswater stehen,
überquerte die Bayswater Road und ging schnellen Schritts durch
die nächtlichen Kensington Gardens zum Queen's Gate.
Als er zur Royal Albert Hall kam, sah er dort eine
große Menschenmenge und eine Schlange von Wartenden die Treppe
hinauf bis zum Kassenschalter, denn an diesem Abend stand ein
festliches Konzert auf dem Programm. Die Wiener Philharmoniker spielten
eine Symphonie von Brahms, und der Pianist John Mikali war der Solist
in Rachmaninows Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 in c-Moll.
21. Juli 1972. Der Mann aus Kreta
zündete sich eine Zigarette an, betrachtete das Plakat mit dem
Foto John Mikalis, dieses Porträt, das weithin bekannt und
berühmt war: das dunkle lockige Haar, das blasse Gesicht und die
Augen wie blankes schwarzes Glas.
Er wanderte um das Gebäude herum
zur Rückseite. Eine der Türen hatte ein Leuchtschild mit der
Aufschrift Bühneneingang. Er ging hinein. Der Portier in seiner Loge blickte von der Sportzeitung auf und lächelte.
«N'Abend, Sir. Kalt heute.»
«Könnte schlimmer sein», sagte der Mann aus Kreta.
Er bog in den Gang ein, der hinter die Bühne führte. Eine Tür trug die Aufschrift Grünes Zimmer. Er
öffnete sie und knipste das Licht an. Für eine
Künstlergarderobe war das Zimmer überraschend geräumig
und recht ordentlich eingerichtet. Das einzige Möbelstück,
das eindeutig bessere Tage gesehen hatte, war das Übungsklavier an
der Wand, ein altes Chappell-Klavier, das aussah, als wolle es jeden
Moment zusammenbrechen.
Er nahm die Mauser aus der Tasche,
öffnete ein Toilettenschränkchen, hob das unterste Brett hoch
und versteckte die Waffe darunter. Dann zog er den Anorak aus, warf ihn
in die Ecke und setzte sich vor den Ankleidespiegel.
Es klopfte, und der Inspizient
steckte den Kopf herein. «Noch fünfundvierzig Minuten,
Mister Mikali. Soll ich Ihnen vor dem Auftritt noch Kaffee bringen
lassen?»
«Nein, danke», sagte John Mikali.
«Mit Kaffee stehe ich auf Kriegsfuß. Irgend etwas
Chemisches, sagt mein Arzt. Aber wenn Sie mir eine Kanne Tee
verschaffen könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar.»
«Gewiß, Sir.» Der
Inspizient wollte schon kehrtmachen, zögerte aber dann.
«Übrigens, vielleicht interessiert es Sie, hab's gerade im
Radio gehört. Maxwell Cohen wurde in seinem Haus am Regent's Park
erschossen. Maskierter Mann. Konnte flüchten.»
«Mein Gott», sagte Mikali.
«Die Polizei glaubt an einen
politischen Mord, weil Mister Cohen allgemein als Zionist bekannt war.
Letztes Jahr wäre er um ein Haar durch eine Briefbombe
getötet worden.» Er schüttelte den Kopf. «Wir
leben in einer seltsamen Welt, Mister Mikali. Was mag das wohl für
ein Mensch sein, der so etwas tut?»
Der Inspizient ging, und Mikali
wandte sich wieder dem Spiegel zu. Er lächelte ein wenig, und sein
Bild lächelte zurück.
«Na?» sagte er.
1
Etwa vierzig Seemeilen südlich
von Athen und nicht ganz fünf von der Küste des Peloponnes
entfernt, liegt die Insel Hydra, einst eine der bedeutendsten
Seemächte des Mittelmeers.
Seit der Mitte des achtzehnten
Jahrhunderts segelten ihre Schiffe bis nach Amerika, und viele
Kapitäne kamen dabei zu gewaltigem Vermögen; venezianische
Baumeister wurden auf die Insel geholt, um dort stolze
Herrenhäuser zu errichten, die man noch heute rund um diesen
wunderschönen Hafen besichtigen kann.
Später, als Griechenland unter
dem Joch der Türkenherrschaft litt, wurde die Insel zum sicheren
Port für die Flüchtlinge vom Festland. Und die Seeleute von
Hydra halfen mit, die türkische Flotte im Befreiungskrieg zu
besiegen und dem Land endlich die Unabhängigkeit
zurückzugeben.
Für einen Griechen haben die
Namen jener großen Hydrioten, der Kapitäne Votzis, Tombazis,
Boudouris, den gleichen magischen Klang wie Sir Francis Drake und
Walter Raleigh für die Engländer.
Den ehrenvollsten Platz auf dieser Liste nahm jedoch der
Name Mikali ein. Als Admiral Nelson den
Oberbefehl im östlichen Mittelmeer führ te, hatten die
Mikalis als Blockadebrecher große Profite gemacht, und vier ihrer
Schiffe verstärkten die Flotte der Alliierten, die 1827 in der
Seeschlacht von Navarino dem Weltmachtstreben des Osmanischen Reichs
ein Ende setzten.
Der aus den Kaper- und Blockadefahrten während
der Türkenkriege stammende Reichtum wurde umsichtig in mehreren
der um diese Zeit entstehenden Schiffahrtslinien angelegt, und so kam
es, daß die Mikalis am Ende des neunzehnten Jahrhunderts zu den
wohlhabendsten Familien Griechenlands zählten.
Und die Männer dieser Familie
waren allesamt geborene Seeleute, bis auf Dimitri, der 1892 zur Welt
kam. Sein leidenschaftliches Interesse galt Büchern, und er
studierte in Oxford und an der Sorbonne und kehrte nur nach Hause
zurück, um als Dozent an der Universität von Athen
Vorlesungen über Moralphilosophie zu halten.
Sein Sohn George stellte indes die
Familienehre wieder her. Er besuchte die Akademie der Handelsmarine auf
Hydra, die älteste ihrer Art in Griechenland. Der kühne und
begabte Seema nn erhielt bereits im Alter von zweiundzwanzig Jahren
sein erstes Kommando. Die Suche nach neuen Horizonten ließ ihn
nicht ruhen; er übersiedelte nach Kalifornien und wurde
Kapitän eines neuen Passagier- und Frachtdampfers der Pacific Star Line auf der Route San Francisco-Tokio.
Geld bedeutete ihm nichts. Sein Vater
hatte ihm auf ein Bankkonto in San Francisco hunderttausend Dollar
überwiesen, damals eine beachtliche Summe. Was er tat, das tat er,
weil er es tun wollte. Er hatte sein Schiff, er hatte die See. Nur
eines fehlte ihm noch, und das fand er in Mary Fuller – Tochter
einer verwitweten Musikpädagogin namens Agnes Fuller –, die
er auf einem Ball in Oakland im Jahr 1939 kennenlernte.
Sein Vater reiste zur Hochzeit in die
Neue Welt, kaufte dem jungen Paar ein Haus am Meer in Pescadero und
kehrte nach Europa zurück, als der Geschützdonner des Zweiten
Weltkriegs bereits am Horizont grollte.
George Mikali befand sich auf halbem Weg nach
Japan, als die Italiener in Griechenland einfielen. Bis sein Schiff die
Route beendet hatte und wieder in San Francisco einlief, war die
deutsche Wehrmacht auf den Plan getreten. Im April/Mai 1941 hatte
Hitler, um Mussolinis Prestige zu wahren, Jugoslawien und Griechenland
überrannt und die britische Armee vertrieben – das Ganze
innerhalb von fünfundzwanzig Tagen und um den Preis von weniger
als fünftausend Mann.
George Mikali war der Weg in die alte
Heimat abgeschnitten, und von seinem Vater hörte er nichts. Dann
kam jener fatale Sonntag im Dezember, als Japans Überfall aus
Pearl Harbor ein rauchendes Trümmerfeld machte.
Im Februar übernahm George
Mikali in San Diego den Oberbefehl eines Transport- und
Versorgungsschiffs. Zwei Wochen danach schenkte seine Frau, die in
ihrer dreijährigen Ehe immer gekränkelt und einige
Fehlgeburten erlitten hatte, einem Sohn das Leben.
Mikali durfte drei Tage Urlaub
nehmen, und in diesen drei Tagen überredete er seine
Schwiegermutter, die Direktorin einer Oberschule war, für immer in
sein Haus zu ziehen, und spürte er die Witwe eines Matrosen auf,
der unter ihm gedient hatte und bei einem Taifun vor der japanischen
Küste ums Leben gekommen war.
Die vierzigjährige,
kräftige und stämmige Frau namens Katina Pawlo,
gebürtige Kreterin, hatte bisher in einem Hotel am Hafen von
Pescadero als Zimmermädchen gearbeitet.
George Mikali brachte sie nach Hause
zu seiner Frau und seiner Schwiegermutter. Die gedrungene robuste
Bäuerin mit ihrem schwarzen Kleid und schwarzen Kopftuch wirkte
auf die beiden Frauen wie ein fremdartiges Wesen, und doch fühlte
Agnes Fuller sich seltsam zu ihr hingezogen.
Und Katina Pawlo, die in achtzehn
Ehejahren kinderlos geblieben war, glaubte ihre verzweifelten Gebete an
die Jungfrau Maria erhört und die Tausende von geopferten Kerzen
auf wunderbare Weise belohnt, als sie sich über die Wiege neben
dem Bett beugte und das schlafende Kind erblickte. Zärtlich
berührte sie mit dem Finger die winzige Hand. Der Knabe
schloß das Fäustchen darum und hielt den Finger so fest, als
wolle er ihn nie wieder loslassen.
Es war, als schmelze ein Stein in ihrem Inneren,
und Agnes Fuller sah es dem dunklen Gesicht an und war beglückt.
Katina holte ihre wenigen Habseligkeiten aus dem Hotel und
übersiedelte noch am gleichen Abend in das Haus.
George Mikali zog in den Krieg, fuhr
immer wieder zu den Inseln, einen Einsatz nach dem anderen, bis zum
Spätnachmittag des 3. Juni 1945, als sein Schiff mitsamt der
Besatzung versenkt wurde.
Die zarte Gesundheit seiner Frau war diesem Schlag nicht gewachsen. Mary Mikali starb zwei Monate später.
Der Junge wuchs zwischen Katina Pawlo
und seiner Großmutter auf. Die zwei Frauen verstanden sich
instinktiv in allem, was den Jungen anging, denn beide liebten ihn mit
gleicher Zärtlichkeit.
Als Direktorin der Howell Street High
School fand Agnes Fuller nur noch wenig Zeit zum Unterrichten, doch war
und blieb sie eine sehr gute Pianistin. Sie wußte daher, was es
bedeutete, daß ihr Enkel bereits im Alter von drei Jahren
über ein untrügliches Musikgehör verfügte.
Als er vier war, fing sie an, ihm
Klavierunterricht zu erteilen, und bald stellte sich heraus, daß
hier ein überdurchschnittliches, ja, einmaliges Talent heranwuchs.
Erst im Jahr 1948 konnte Georges
Vater, Dimitri Mikali, seine nächste Reise nach Amerika
unternehmen, und was er dort vorfand, erstaunte ihn über alle
Maßen: einen sechsjährigen amerikanischen Enkel, der
fließend griechisch mit kretischem Akzent sprach und wie ein
Engel Klavier spielte.
Er nahm den Jungen liebevoll auf seine Knie,
küßte ihn und sagte zu Agnes Fuller: «Die dort
drüben auf dem Friedhof in Hydra werden sich in ihren Gräbern
umdrehen, die alten Seefahrer. Zuerst ich – ein Philosoph. Und
jetzt ein Pianist. Ein Pianist mit kretischem Akzent. Ein solches
Talent ist eine Gottesgabe. Es muß gefördert werden. Ich
habe im Krieg viel verloren, aber ich bin noch immer reich genug, um
dafür sorgen zu können, daß er alles bekommt, was er
braucht. Zunächst soll er hier bei Ihnen bleiben. Später,
wenn er ein bißchen älter ist, werden wir sehen.»
Von nun an erhielt der Junge die
beste Ausbildung, die besten Mus iklehrer. Als er vierzehn war,
verkaufte Agnes Fuller das Haus und zog mit Katina nach New York, wo er
sein Studium auf höchstem Niveau fortsetzen konnte.
Kurz vor seinem siebzehnten
Geburtstag erlitt Agnes Fuller eines Sonntagabends einen Herzanfall.
Sie war tot, ehe der Krankenwagen im Hospital eintraf.
Dimitri Mikali war inzwischen
ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität von
Athen. Im Lauf der Jahre hatte sein Enkel ihn mehrmals in den Ferien
besucht, und sie waren einander nähergekommen. Dimitri flog bei
Erhalt der Trauernachricht sofort nach New York, und was er dort sah,
schockierte ihn.
Katina öffnete ihm die Tür
und legte einen Finger auf die Lippen. «Heute vormittag haben wir
sie begraben. Es hieß, man könne nicht länger
warten.»
«Wo ist er?» fragte der Professor.
«Hören Sie ihn denn nicht?»
Die Klänge des Klaviers drangen
schwach durch die geschlossene Türe des Salons. «Wie nimmt
er es?»
«Wie ein Stein», sagte
sie. «Alles Leben hat ihn verlassen. Er hat sie geliebt»,
fügte sie schlicht hinzu.
Als der Professor die Tür öffnete, sah er seinen Enkel im
dunklen Anzug am Klavier sitzen und eine seltsam
geisterhafte Melodie spielen, wie Blätterraunen in einem
nächtlichen Wald. Aus irgendeinem Grund wurde Dimitri Mikali von
unbegreiflicher Beklommenheit erfaßt.
«John?» Er legte dem Jungen die Hand auf die Schulter und fragte auf Griechisch: «Was spielst du da?»
«Le Pastour von
Gabriel Grovlez. Es war ihr Lieblingsstück.» Der Junge
wandte sich um und blickte ihn an, seine Augen waren wie schwarze
Löcher in dem bleichen Gesicht.
«Wollt ihr mit mir nach Athen
kommen?» fragte der Professor. «Du und Katina. Eine Weile
bei mir bleiben? Bis ihr drüber weg seid?»
«Ja», sagte John Mikali. «Ich glaube schon.»
Eine Weile gefiel es ihm in
Griechenland. Das Leben in Athen, dieser lärmenden,
fröhlichen Stadt, die Tag und Nacht ohne Pause auf den Beinen zu
sein schien. Die geräumige Wohnung in der eleganten Gegend um den
königlichen Palast, wo der Großvater fast allabendlich
Gäste empfing. Schriftsteller kamen, Künstler, Musiker. Und
vor allem Politiker, denn der Professor war Anhänger der
Demokratischen Front und größter Geldgeber der
Parteizeitung.
Und dann Hydra, wo sie zwei
Häuser hatten; eines in dem Gewirr der Gäßchen hinter
dem kleinen Hafen, das andere auf einer entlegenen Halbinsel an der
Küste jenseits von Molos. Dort hielt der Junge sich immer wieder
für längere Zeit auf. Katina sorgte für ihn, und der
Großvater hatte unter beträchtlichen Kosten einen
Konzertflügel hinüberschaffen lassen. Doch wie Katina am
Telefon zu vermelden wußte, wurde niemals daraufgespielt.
Schließlich kam John Mikali
nach Athen zurück, lehnte bei Parties an der Wand, immer
aufmerksam, immer höflich, äußerst attraktiv mit seinem
schwarzen lockigen Haar, dem blassen Gesicht, den Augen wie dunkles
Glas, völlig ausdruckslos. Und niemals sah man ihn lächeln,
was die Damen ungeheuer interessant fanden.
Als ihn eines Abends jemand bat, etwas zu spielen, hatte der Junge sich zum Erstaunen seines Großvaters ohne
Zögernd ans Klavier ge setzt und Bachs Präludium und Fuge Es-Dur vorgetragen, so kristallklar und von eiskalter Brillanz, daß die Zuhörer in gebanntem Schweigen verharrten.
Später, nachdem der Applaus
verklungen und der letzte Gast gegangen war, hatte der Professor sich
zu seine m Enkel auf den Balkon begeben, wo er dem offenbar nie
abreißenden Brausen des nächtlichen Verkehrsstroms lauschte.
«Na, du hast also beschlossen, dich wieder zu den Lebenden zu gesellen? Was nun?»
«Paris, würde ich sagen», erwiderte John Mikali. «Das Konservatorium.»
«Aha. Die Konzertlaufbahn. Ist das dein Plan?»
«Wenn es dir recht ist.»
Dimitri Mikali umarmte ihn liebevoll.
«Du weißt doch, daß du mein Alles bist. Was du
willst, das will auch ich. Ich sage Katina, daß sie packen
soll.»
Er fand eine Wohnung in einer engen
Straße nahe der Sorbonne, nicht weit von der Seine entfernt, in
einem für die Hauptstadt Frankreichs so charakteristischen Bezirk
mit eigenen Läden, Cafés und Bistros. Eine Gegend, in der
jeder jeden kannte.
Mikali trat ins Konservatorium ein,
übte täglich acht bis zehn Stunden und widmete sich
ausschließlich seinem Klavier, alles andere blieb aus seinem
Leben verbannt, sogar die Mädchen. Wie bisher führte ihm
Katina den Haushalt, kochte für ihn und bemutterte ihn.
Am 22. Februar I960, zwei Tage vor
seinem achtzehnten Geburtstag, fand am Konservatorium eine wichtige
Prüfung statt, bei der eine Goldmedaille zu gewinnen war. Er hatte
fast die ganze Nacht hindurch geübt, und um sechs Uhr morgens war
Katina fortgegangen, um frische Croissants und Milch zu holen.
Er kam gerade aus der Dusche und zog sich den
Bademantel über, als er draußen auf der Straße das
Kreischen von Bremsen und einen dumpfen Aufprall hörte. Mikali
stürzte ans Fenster und schaute hinunter. Katina lag im Rinnstein
hingestreckt, die Croissants kullerten über das Pflaster. Der
Citroën-Laster, der sie überfahren hatte, floh im
Rückwärtsgang. Mikali erhaschte einen Blick auf das Gesicht
des Fahrers, dann war der Wagen um die Ecke verschwunden.
Katinas Agonie dauerte mehrere
Stunden, und er saß im Krankenhaus an ihrem Bett, hielt ihre Hand
und ließ sie auch dann noch nicht los, als Katinas Finger im Tode
steif geworden waren. Die Polizei drückte ihr Bedauern aus. Leider
habe es keine Zeugen gegeben, was den Fall schwierig mache, aber man
würde der Sache selbstverständlich nachgehen.
Für Mikali spielte das keine
Rolle, denn er kannte den Fahrer des Citroën-Lasters. Es war
Claude Galley, ein brutaler Rüpel, der mit Hilfe zweier Mechaniker
in der Nähe der Seine eine Autowerkstatt betrieb.
Er hätte sein Wissen an die
Polizei weitergeben können. Aber er tat es nicht. Dies war
Privatsache. Eine Angelegenheit, die er allein regeln mußte.
Seine Vorfahren hätten ihn verstanden, denn auf Hydra galt seit
Jahrhunderten das eiserne Gesetz der Blutrache. Ein Mann, der ein den
Seinen angetanes Unrecht nicht ahndete, verfiel selber dem Blutbann.
Und doch steckte noch etwas anderes
dahinter. Eine seltsame kalte Erregung, die sein ganzes Wesen
erfüllte, als er um sechs Uhr abends in einer dunklen Einfahrt
gegenüber der Werkstatt wartete.
Um halb sieben gingen die beiden
Mechaniker. Er wartete noch fünf Minuten, dann überquerte er
die Fahrbahn und trat vor das Tor in der dunklen Straße. Die
beiden Flügel waren geöffnet, der Citroën stand mit dem
Kühler zum Gehsteig, und hinter dem Wagen führte eine
Zementrampe steil nach unten in den Keller.
Galley arbeitete im Keller an einer Werkbank, die an der
Wand stand. Mikalis rechte Hand glitt in die
Tasche seines Regenmantels und schloß sich um den Griff des
Küchenmessers, das er bei sich trug – und dann sah er,
daß es eine einfachere Möglichkeit gab. Eine
Möglichkeit, der ein beträchtliches Maß von
Gerechtigkeit innewohnte.
Er beugte sich ins Führerhaus
des Citroën, legte mit einer behandschuhten Hand den Leerlauf ein
und lockerte die Handbremse. Der Wagen setzte sich in Bewegung, wurde
immer schneller. Galley, halb betrunken wie gewöhnlich, bemerkte
sein Heranrollen erst im letzten Moment und drehte sich mit einem
Aufschrei um, als der schwere Laster ihn an die Wand quetschte.
Mikali empfand indes keine Genugtuung
nach seiner Tat, denn Katina war von ihm gegangen, für immer,
genau wie der Vater, den er nie gekannt hatte, wie die Mutter, die nur
eine vage Erinnerung war, wie die Großmutter.
Vier Stunden lang irrte er wie
betäubt im Regen herum, bis ihn schließlich kurz vor
Mitternacht am Seinekai eine Prostituierte aufgabelte.
Sie war vierzig und sah älter
aus, weshalb sie in ihrer Wohnung für gedämpfte Beleuchtung
sorgte. Nicht, daß es für John Mikali eine Rolle gespielt
hätte, er wußte ohnehin nicht mehr, was noch wirklich und
was nicht mehr wirklich war. Und außerdem hatte er noch nie mit
einer Frau geschlafen, eine Tatsache, an der seine Ungeschicklichkeit
keinen Zweifel ließ. Mit jener amüsierten Nachsicht, die das
Gewerbe den Neulingen häufig entgegenbringt, weihte die Frau ihn
schnell in alle Geheimnisse ein.
Er lernte rasch, nahm sie einmal, zweimal, in einer
Art beherrschter Raserei, und zum erstenmal seit Jahren empfand auch
sie selber Lust, sie stöhnte unter ihm, flehte um mehr. Danach,
als sie schlief, lag er im Dunkeln und staunte über seine Macht,
eine Frau so handeln zu lassen, wie sie gehandelt hatte; all das zu
tun, was sie getan hatte.
Seltsam, wie wenig diese Sache ihm bedeutete, die doch allgemein für so wichtig gehalten wurde.
Später, als er in den
frühen Morgenstunden durch die Straßen lief, hatte er sich
so einsam gefühlt wie nie zuvor in seinem Leben. Er landete
schließlich bei den Hallen, wo Träger geschäftig
schwere Steigen mit Gemüse von Lastwagen entluden und sich dabei
doch zeitlupenhaft, wie unter Wasser, zu bewegen schienen. Er hatte den
Eindruck, das alles von einem anderen Planeten aus zu beobachten.
In einem Café, das die ganze
Nacht durch geöffnet war, setzte er sich ans Fenster und bestellte
Tee. Sein Blick fiel auf das Titelblatt einer Zeitschrift, die auf dem
Stuhl neben ihm lag. Eine schlanke, drahtige Gestalt in Tarnanzug, mit
einem Gewehr lässig in der Armbeuge und einem sonnenverbrannten
Gesicht, aus dem ihn ausdruckslose Augen anstarrten.
Er nahm die Zeitschrift vom Stuhl und las den Artikel, in dem
die Rolle der Fremdenlegion im Algerienkrieg
untersucht wurde, der damals auf seinem Höhepunkt war.
Männer, die vor kaum zwei Jahren bei ihrer Rückkehr aus
Indochina und den vietnamesischen Gefangenenlagern von den Marseiller
Hafenarbeitern mit Steinen beworfen worden waren, kämpften nun
wieder für Frankreich in einem schmutzigen und sinnlosen Krieg.
Männer ohne Hoffnung, wie der Artikelschreiber sie nannte.
Männer ohne Zuhause. Auf der nächsten Seite war das Foto
eines weiteren Legionärs, der mit einem blutdurchtränkten
Verband um die Brust halb aufgerichtet auf einer Bahre lag. Sein Kopf
war kahlgeschoren, die Wangen eingefallen, das Gesicht schmerzverzerrt,
und die Augen starrten in einen Abgrund von Einsamkeit. Mikali war es,
als starrte er auf sein eigenes Spiegelbild. Er legte die Zeitschrift
wieder sorgfältig auf den Stuhl zurück und atmete tief ein
und aus, bis seine Hände zu zittern aufhörten. In seinem Kopf
klickte etwas. Geräusche drangen wieder an sein Ohr. Er nahm das
Treiben um sich herum wahr. Die Welt war wieder zum Leben erwacht, aber
er gehörte ihr nicht mehr an, er hatte ihr eigentlich nie
angehört.
Mein Gott, wie kalt es war. Er stand
auf, verließ das Café und ging mit tief in den Taschen
vergrabenen Händen schnell durch die Straßen.
Es war sechs Uhr morgens, als er in
seine Wohnung zurückkehrte. Sie wirkte grau und leer, als
wäre alles Leben in ihr erstorben. Der Deckel des Klaviers stand
offen, das Notenheft noch so aufgeschlagen, wie er es
zurückgelassen hatte. Er hatte die Prüfung am Konservatorium
versäumt, aber das war jetzt gleichgültig. Er setzte sich und
begann langsam und mit viel Empfindung die geisterhafte Weise zu
spielen, Le Pastour von
Grovlez, die er auch damals in New York nach dem Begräbnis seiner
Großmutter gespielt hatte, als Dimitri Mikali dort eingetroffen
war.
Als die letzten Töne verklungen
waren, schloß er den Klavierdeckel, stand auf und holte aus dem
Schreibtisch seinen Paß. Er blickte sich noch ein letztesmal in
der Wohnung um, dann verließ er das Haus.
Um sieben Uhr saß er in der
Metro nach Vincennes. Dort stieg er aus und marschierte zügig
durch die Straßen zur alten Festung, der Rekrutierungsstelle
für die Fremdenlegion.
Um Mittag hatte er bereits seinen
Paß zum Beweis seiner Identität und seines Alters abgegeben,
eine gründliche ärztliche Untersuchung hinter sich gebracht
und einen Vertrag unterschrieben, der ihn auf fünf Jahre zum
Dienst in der berühmtesten, aber auch berüchtigtsten Truppe
der Welt verpflichtete.
Um drei Uhr am folgenden Tag
saß er, zusammen mit drei Spaniern, einem Belgier und acht
Deutschen im Zug nach Marseille, zum Fort Saint Nicholas.
Zehn Tage später verließ er mit
hundertfünfzig weiteren Rekruten und einer Anzahl regulärer
französischer Soldaten, die nach Algerien und Marokko abgestellt
waren, Marseille auf einem Truppentransporter in Richtung Oran.
Und am 20. März erreichte er schließlich seinen Jahrhundert, das Standquartier der Legion.
Die Disziplin war absolut, die
Ausbildung brutal in ihrer Zweckmäßigkeit und nur auf ein
Ziel ausgerichtet, nämlich die tüchtigsten Soldaten der Welt
hervorzubringen. Mikali stürzte sich mit so besessenem Eifer in
seine neue Aufgabe, daß er seinen Vorgesetzten von Anfang an
auffiel.
Nach einigen Wochen in Sidi-bel-Abbès wurde er eines Tages zur I-C-Dienststelle beordert. In Gegenwart eines capitaine wurde
ihm ein Brief seines Großvaters ausgehändigt, der von den
jüngsten Entwicklungen erfahren hatte und ihn bat, die getroffene
Entscheidung nochmals zu überdenken.
Mikali versicherte dem capitaine, er
sei mit seinem jetzigen Leben hochzufrieden, woraufhin man ihn
aufforderte, dies seinem Großvater zu schreiben, was er in
Anwesenheit des capitaine auch sogleich tat.
Während der folgenden sechs
Monate machte er vierundzwanzig Fallschirmabsprünge, wurde im
Gebrauch moderner Waffen aller Art ausgebildet und bis zu einem Grad
von körperlicher Leistungsfähigkeit gedrillt, die er nie
für möglich gehalten hatte. Er erwies sich als
vorzüglicher Gewehr und Pistolenschütze und errang im
unbewaffneten Kampf die beste Beurteilung in seiner Gruppe, ein
Umstand, der seine Kameraden veranlaßte, ihn mit
größtem Respekt zu behandeln.
Er trank wenig und besuchte nur
gelegentlich das Bordell in der Stadt, dessen Mädchen um seine
Gunst rivalisierten. Eine Tatsache, die ihn längst nicht mehr
erstaunte und noch immer völlig kalt ließ.
Er war bereits Gefreiter, als er zum erstenmal ins
Gefecht kam. Im Oktober I960 wurde sein Regiment in die Raki-Berge
geschickt, um ein großes Aufgebot schwerbewaffneter Fellachen
anzugreifen, das seit Monaten die ganze Gegend kontrollierte.
Etwa achtzig Rebellen hatten sich auf
einem Hügel verschanzt, der als uneinnehmbar galt. Das Regiment
unternahm einen Frontalangriff, eine nur scheinbar
selbstmörderische Attacke, denn im entscheidenden Augenblick wurde
die dritte Kompanie, der auch Mikali angehörte, durch Hubschrauber
auf der Hügelkuppe abgesetzt.
Der nun folgende Kampf war ein
blutiges Ringen Mann gegen Mann, bei dem Mikali sich besonders
auszeichnete: er machte ein Rebellennest unschädlich, das mehr als
zwei Dutzend Legionäre auf dem Gewissen hatte und eine Zeitlang
das ganze Unternehmen in Frage zu stellen schien.
Danach war, während er auf einem
Felsen saß und eine Fleischwunde an seinem rechten Arm
notdürftig verband, ein Spanier unter irrem Gelächter an ihm
vorbeigetaumelt, der in einer Hand zwei abgeschnittene Köpfe an
den Haaren gepackt hielt.
Ein Schuß knallte, und der
Spanier stürzte mit einem Schrei aufs Gesicht. Mikali hatte sich
schon umgedreht, die Maschinenpistole in der Linken, und feuerte auf
zwei Fellachen, die plötzlich auftauchten. Er tötete beide.
Er blieb am Hügelhang stehen und
wartete, aber niemand rührte sich mehr. Nach einer Weile setzte er
sich wieder, zog den Verband an seinem Arm mit den Zähnen fest und
zündete sich eine Zigarette an.
Während der folgenden zwölf
Monate kämpfte er in den Gassen der Stadt Algier, sprang dreimal
bei Nacht über dem Bergland ab, um Rebellen zu überrumpeln,
und wurde mehrmals in einen Hinterhalt gelockt, doch kam er immer mit
dem Leben davon.
Er erhielt ein Verwundetenabzeichen und die
Militärmedaille, und im März 1962 war er bereits
Obergefreiter. Er war jetzt ein ancien, also
ein Legionär, der einen Monat lang mit vier Stunden Schlaf pro
Nacht auskommen und in voller Marschausrüstung 45 Kilometer pro
Tag zu Fuß schaffen konnte, wenn es nötig war. Er hatte
Männer getötet, er hatte Frauen getötet, sogar Kinder.
Der Tod bedeutete ihm nichts mehr.
Nach der Verleihung der
Auszeichnungen wurde er eine Weile vom aktiven Dienst befreit und zur
Ausbildung im Guerilla-Kampf auf die Schule nach Kefi geschickt, wo er
alles über Sprengstoff lernte.
Am l. Juli war das Training beendet,
und er machte sich in einem Versorgungsfahrzeug auf den Rückweg
zum Regiment. Als sie das Dorf Kasfa passierten, gingen per
Fernzündung etwa fünfzig Kilo Dynamit los und rissen den
Lastwagen auseinander. Mikali flog auf den Dorfplatz, wunderbarerweise
war er am Leben geblieben. Er versuchte, sich aufzurichten, da ratterte
eine Maschinenpistole los, und er bekam zwei Kugeln in die Brust.
Während er auf dem Boden lag,
konnte er den Lastwagenfahrer sehen, der auf der anderen Seite des
brennenden Wracks zur Erde geschleudert worden war und im Todeskampf
zuckte. Vier bis an die Zähne bewaffnete Männer eilten
herbei. Lachend umringten sie den Fahrer. Mikali konnte nicht sehen,
was sie mit ihm anstellten, aber der Mann fing an zu brüllen.
Danach knallte ein Schuß.
Die Bewaffneten kamen auf Mikali zu,
der inzwischen an der Mauer des Dorfbrunnens hockte und eine Hand unter
seine Tarnjacke gesteckt hatte, dorthin, wo das Blut durchsickerte.
«Sieht nicht gut aus,
wie?» sagte der Anführer der kleinen Gruppe in
französischer Sprache. Mikali sah, daß das Messer in der
Hand des Mannes naß war von Blut.
Zum erstenmal seit Katinas Tod lächelte Mikali. «Ach, es könnte schlimmer sein.»
Seine andere Hand, die unter der Jacke hervorkam,
umklammerte eine Smith & Wesson Magnum, eine
Waffe, die er vor einigen Monaten auf dem schwarzen Markt in Algier
erworben hatte. Sein erster Schuß blies die Schädeldecke des
Mannes weg, der zweite traf den Dahinterstehenden zwischen die Augen.
Der dritte Mann versuchte gerade, sein Gewehr in Anschlag zu bringen,
als Mikali ihn zweimal in den Bauch schoß. Der vierte ließ
in Panik seine Waffe fallen und wollte davonlaufen. Mikalis letzte
beiden Schüsse zerschmetterten ihm das Rückgrat und trieben
ihn kopfüber in das brennende Wrack des Lastwagens.
Drüben, hinter der Rauchwolke,
schoben sich ein paar Dorfbewohner ängstlich aus ihren
Häusern. Mikali leerte die Smith & Wesson, fischte mühsam
eine Handvoll Patronen aus der Tasche und lud bedächtig nach. Der
Mann, den er in den Bauch getroffen hatte, stöhnte und versuchte
aufzustehen. Mikali schoß ihn in den Kopf.
Mikali nahm die Mütze ab und
preßte sie auf seine Wunde, um den Blutstrom einzudämmen. Er
blieb ruhig an der Brunnenwand sitzen, den Revolver im Anschlag, und
die Dorfbewohner hüteten sich, ihm nahe zu kommen.
Er saß noch immer dort, bei
vollem Bewußtsein, nur von den Toten umgeben, als eine Patrouille
der Legion ihn eine Stunde später fand.
Das Ganze war wie Ironie des
Schicksals gewesen, denn der nächste Tag, der 2. Juli 1962,
brachte die Unabhängigkeit Algeriens und beendete die
siebenjährigen Kämpfe. Mikali wurde nach Paris geflogen und
ins Militärhospital gebracht, wo ein Spezialist die Kugeln aus
seiner Brust entfernte. Am 2 7. Juli erhielt er als
Tapferkeitsauszeichnung das Croix de la Valeur Militaire. Tags darauf kam sein Großvater zu Besuch.
Dimitri Mikali war jetzt siebzig, sah jedoch noch
immer gesund und rüstig aus. Er saß an Johns Bett und
betrachtete längere Zeit schweigend die Auszeichnung, dann sagte
er leise: «Ich habe im Hauptquartier der Legion vorgesprochen. Da
du noch immer nicht einundzwanzig Jahre alt bist, könnte ich unter
Umständen deine Entlassung durchsetzen.»
«Ja, ich weiß.»
Und dann gebrauchte sein
Großvater die gleichen Worte wie an jenem nun fast drei Jahre
zurückliegenden Sommerabend in Athen; er sagte: «Du hast
also beschlossen, dich wieder zu den Lebenden zu gesellen, wie?»
«Warum nicht?» antwortete
John Mikali. «Allemal noch besser als sterben, soviel weiß
ich jetzt.»
Er nahm ein wunderschönes
Zeugnis der Fremdenlegion in Empfang, worin zu lesen stand, daß
der Obergefreite John Mikali zwei Jahre lang ehrenhaft und treu gedient
habe und aus gesundheitlichen Gründen zwei Jahre vor Ablauf seines
Kontrakts entlassen worden sei.
Die Begründung traf durchaus zu.
Die beiden Kugeln in der Brust hatten den linken Lungenflügel
schwer beschädigt, und John mußte sich in London einer
neuerlichen Operation unterziehen. Anschließend kehrte er nach
Griechenland zurück, aber nicht nach Athen, sondern nach Hydra. Er
zog sich zurück in die Villa hoch über dem Meer, hinter der
die Berge und die Pinienwälder aufragten. Eine wilde, unwirtliche
Gegend, die auf dem Landweg nur zu Fuß oder mit einem Maulesel zu
erreichen war.
Zu seiner Bedienung hatte er ein
altes Bauernehepaar, das unten in der Bucht eine Hütte an der Mole
bewohnte. Der alte Konstantin schaffte mit dem Boot alles Nötige
aus der Stadt Hydra herbei und kümmerte sich um das
Grundstück, die Wasserversorgung, den Generator. Seine Frau
besorgte John den Haushalt und kochte auch für ihn.
Meist war John allein, nur dann und wann kam sein Großvater
auf ein paar Tage herüber. Dann saßen
die beiden Abend für Abend vor dem Kamin, in dem Pinienscheite
loderten, und redeten stundenlang über alles mögliche. Kunst,
Literatur, Musik, sogar Politik, obwohl John Mikali sich für
dieses Thema nicht im geringsten interessierte.
Nur über eines sprachen sie
nicht: über Algerien. Der alte Mann stellte keine Fragen, und der
jüngere fing niemals davon an. Es war, als hätte es diese
Zeit gar nicht gegeben. Kein einziges Mal während dieser beiden
Jahre hatte John eine Klaviertaste angerührt, aber jetzt begann er
wieder zu spielen, spielte immer häufiger in den neun Monaten die
bis zu seiner völligen Genesung vergingen.
An einem ruhigen Juliabend des Jahres 1963 spielte er für seinen Großvater Bachs Präludium und Fuge Es-Dur genau wie damals in Athen an dem Abend, als er beschlossen hatte, nach Paris zu gehen.
Danach herrschte Stille. Durch die
geöffneten Terrassentüren sah man den Himmel orangerot
aufflammen, als die Sonne hinter der Nachbarinsel Dokos versank.
Der Großvater seufzte. «Wenn ich dich recht verstehe, bist du wieder soweit?»
«Ja», sagte John Mikali
und lockerte die Finger. «Jetzt muß es sich herausstellen.
Ein für allemal.»
Mikali wählte London, das Royal
College of Music. Er mietete eine Wohnung in der Nähe der Park
Lane und des Hyde Park, wo er jeden Morgen, bei Regen wie Sonnenschein,
einen Dauerlauf von zehn Kilometern absolvierte und das Letzte aus sich
herausholte. Alte Gewohnheiten sterben schwer. Dreimal pro Woche
trainierte er zudem in einer bekannten Sportschule der Stadt.
Die Legion hatte ihn gezeichnet bis ins Mark,
ließ sich nie mehr ganz abschütteln. Das zeigte sich
deutlich, als er in einer regnerischen Nacht kurz vor zwölf vom
Grosvenor Square in eine Seitenstraße einbog und von zwei
Jugendlichen überfallen wurde.
Der eine sprang ihn von hinten an und
legte ihm den Arm um die Kehle, der andere tauchte aus der Einfahrt
einer Tiefgarage auf.
Mikalis rechter Fuß flog hoch
und trat den zweiten Angreifer kunstgerecht in die Leisten, dann, als
der Junge aufheulend vornüberknickte, fuhr ihm Mikalis Knie ins
Gesicht. Der erste war so verblüfft, daß er seinen Griff
lockerte. Mikali riß sich los und schwang in einem knappen Bogen
den rechten Ellbogen nach hinten. Man konnte den Kieferknochen brechen
hören. Der Angreifer fiel mit einem lauten Schrei auf die Knie,
Mikali trat über seinen Kumpan hinweg und entfernte sich rasch
durch den strömenden Regen.
In drei harten Jahren wuchs sein
Ansehen am College. Er war gut – er war mehr als gut. Die anderen
wußten es, und er wußte es auch. Er schloß keine
Freundschaften. Nicht etwa, weil er unbeliebt gewesen wäre. Im
Gegenteil, alle fanden ihn ungemein anziehend, aber es war etwas
Unnahbares um ihn. Eine Mauer, die unüberwindbar schien.
Frauen gab es die Menge in seinem
Leben, aber keiner gelang es, das geringste persönliche Verlangen
in ihm zu wecken. Von einer latenten Homosexualität konnte nicht
die Rede sein; seine Beziehungen zu Frauen bedeuteten ihm einfach
nichts. Die Wirkung, die er selber auf die Frauen ausübte, war
etwas ganz anderes, und sein Ruf als Liebhaber wuchs alsbald ins
Legendäre.
Am Ende des letzten Studienjahres erhielt er die
goldene Raildon-Medaille. Das genügte aber nicht. Nicht für
den Mann, der er geworden war. Er ging also nach Wien und stud ierte
ein Jahr bei Hofmann, um den letzten Schliff zu bekommen. Im Sommer
1967 war dann seine Ausbildung abgeschlossen.
Ein altes Musiker-Bonmot besagt,
überhaupt auf ein Konzertpodium zu kommen, sei noch schwieriger,
als darauf Erfolg zu haben.
Mikali hätte sich einen guten
Start sozusagen kaufen können. Er hätte einen Agenten
bezahlen und einen Saal in London oder Paris für ein Konzert
mieten können. Doch sein Stolz ließ das nicht zu. Er wollte
sich aus eigener Kraft durchsetzen, die Welt selber zwingen, ihm
zuzuhören. Nur ein Weg führte dorthin.
Nach einem kurzen Urlaub in
Griechenland kehrte er nach England zurück, nach Yorkshire, und
meldete sich zur Teilnahme am Musik-Festival in Leeds an, einem der
bedeutendsten Klavier-Wettbewerbe der Welt. Wer hier einen Preis
gewann, der war mit einem Schlag berühmt und hatte eine
Konzerttournee in der Tasche.
Er errang den dritten Platz und bekam
unverzüglich Angebote von drei großen Agenturen. Er lehnte
sie alle ab, übte in seiner Londoner Wohnung einen Monat lang
täglich vierzehn Stunden und ging im folgenden Januar nach
Salzburg. Dort gewann er unter achtundvierzig Mitbewerbern aus der
ganzen Welt den ersten Preis mit Rachmaninows Viertem Klavierkonzert, einem Werk, das er in den kommenden Jahren zum Paradestück seines Repertoires machen sollte.
Sein Großvater hielt sich
während der ganzen sieben Tage des Festivals in Salzburg auf, und
dann, als alle anderen abgereist waren, kam er mit zwei Gläsern
Champagner hinaus auf den Balkon des Hotels, wo John Mikali stand und
auf die Stadt hinunterblickte.
«Die ganze Welt liegt dir jetzt
zu Füßen. Alle werden dich haben wollen. Was fühlst
du?»
«Nichts», sagte John Mikali. Er trank einen Schluck vom
eisgekühlten Champagner, und plötzlich,
ohne jeden ersichtlichen Grund, sah er die vier Fellachen um den
brennenden Lastwagen herumgehen und lachend näher kommen.
«Ich fühle nichts.»
In den beiden folgenden Jahren starrten die dunklen Augen
auf Plakaten in London, Paris, Rom, New York aus
dem blassen, hübschen Gesicht, und sein Ruhm wuchs. Die Presse
hatte ausführlich über seine zwei Jahre in der Fremdenlegion
berichtet, über seine Tapferkeitsauszeichnungen. In Griechenland
wurde er zu einer Art Volksheld, so daß seine Konzerte in Athen
stets große Ereignisse waren.
Und in Griechenland hatte sich
einiges verändert, seit nach dem Militärputsch vom April 1967
die Obristen an der Macht waren und König Konstantin ins Exil nach
Rom mußte.
Dimitri Mikali war jetzt
sechsundsiebzig, und man sah es ihm auch an. Noch immer hielt er abends
offenes Haus, doch nur wenige Gäste stellten sich ein. Sein
Eintreten für die Demokratische Front hatte ihn bei der Regierung
zunehmend unbeliebt gemacht, und seine Parteizeitung war bereits
mehrmals beschlagnahmt worden.
«Politik!» sagte John
Mikali einmal bei einem seiner Besuche zu ihm. «Alles Unsinn.
Kinderei. Warum machst du dir das Leben damit schwer?»
«Oh, ich hab es im Gegenteil
sehr gut.» Sein Großvater lächelte. «Das
Schicksal verwöhnt mich sozusagen, mit einem Enkel, der eine
internationale Berühmtheit ist …»
«Was soll's!» sagte
Mikali. «Ihr habt eine Militärjunta, und Miniröcke sind
verpönt. Na und? Ich war in Ländern, wo es übler zugeht
als heute in Griechenland, glaub mir das.»
«Politische Gefangene zu
Tausenden. Das Erziehungswesen wird zur Verhe tzung der Kinder
mißbraucht, die Linke ist so gut wie ausgelöscht. Klingt das
nach Heimstätte der Demokratie?» hielt der Alte ihm vor.
Auf John Mikali machte dies alles keinen Eindruck.
Am nächsten Tag flog er nach Paris und gab am gleichen Abend ein
Chopin-Konzert, eine Wohltätigkeitsveranstaltung zugunsten der
internationalen Krebsforschung.
In Paris erwartete ihn ein Brief
seines Londoner Agenten Bruno Fischer mit der Reiseroute für eine
Herbst-Tournee durch England, Wales und Schottland. Mikali saß
nach Schluß des Konzerts noch eine Weile in seiner Garderobe und
studierte den Brief, als an die Tür geklopft wurde und der
Bühnenportier hereinschaute.
«Ein Herr will Sie sprechen, Monsieur Mikali.»
In der Tür erschien ein
großer kräftiger Mann mit gelichtetem Haar und dichtem
schwarzem Schnurrbart. Er trug einen schäbigen Regenmantel
über dem zerknitterten Tweedanzug.
«He, Johnny. Freu mich, dich zu sehen. Claude Jarrot –
Stabsunteroffizier, Dritte Kompanie, Zweites
Fallschirmjägerregiment. Wir sind damals zusammen in der Nacht
über El Kebir abgesprungen.»
«Ich erinnere mich», sagte Mikali. «Du hast dir den Knöchel gebrochen.»
«Und du bist bei mir geblieben,
als die Fellachen unsere Linie durchbrochen haben.» Jarrot
streckte die Hand aus. «Ich habe von dir in der Zeitung gelesen,
und als ich sah, daß du heute hier ein Konzert gibst, hab ich mir
gedacht, ich schau mal vorbei. Nicht wegen der Musik. Sagt mir verdammt
gar nichts.» Er grinste. «Hab mir's einfach nicht
verkneifen können, einen alten Kumpel aus Sidi-bel-Abbès zu
begrüßen.»
Vielleicht wollte er ihn anpumpen,
schäbig genug war er gekleidet; aber sein Kommen hatte die alten
Tage wieder zurückgebracht. Jedenfalls nahm Mikali den Besucher
freundlich auf.
«Freut mich, daß du
gekommen bist. Ich wollte gerade gehen. Wie war's mit einem Drink?
Irgendwo in der Nähe muß ein Lokal sein.»
«Also, ich habe eine Autowerkstatt, nur eine Straße weiter»,
sagte Jarrot. «Darüber liegt meine
kleine Wohnung. Zur Zeit gibt's auch was sehr Ordentliches zu trinken.
Echten Napoleon.»
«Vorwärts, marsch», sagte Mikali.
Die Wände des Wohnzimmers waren
mit Fotos vollgeklebt, die Jarrots Lautbahn in der Legion
dokumentierten, und überall sah man Souvenirs, auch das
weiße Käppi und die GalaEpauletten lagen auf einer Kommode.
Der Cognac Napoleon war echt und Jarrot nach kurzer Zeit betrunken.
«Ich dachte, sie hätten
dich beim Putsch rausgeschmissen», sagte Mikali. «Warst du
nicht bis über beide Ohren in der OAS?»
«Klar war ich das», sagte
Jarrot aufsässig. «Diese ganzen Jahre in Indochina. Ich war
in Dien Bien Phu, hast du das gewußt? Diese kleinen gelben Ratten
hatten mich ein halbes Jahr lang in einem Gefangenenlager eingesperrt.
Sie haben uns behandelt wie Schweine. Dann das Fiasko in Algerien, als
de Gaulle uns aufs Kreuz gelegt hat. Jeder Franzose, der noch Ehre im
Leib hat, hätte bei der OAS sein sollen, nicht bloß arme
Irre wie ich.»
«Hat jetzt wohl nicht mehr viel
Zukunft», sagte Mikali. «Der alte Knabe hat bewiesen,
daß er es ernst meinte, als er BastienThiery umlegen ließ.
Wie oft hat man schon versucht, ihn loszuwerden, aber kein einziger
Anschlag ist gelungen.»
«Ja, da hast du recht»,
sagte Jarrot und leerte noch ein Glas. «Na ja, ich habe mein Teil
getan. Da, sieh mal.»
Er entfernte den Überwurf von einer Holzkiste
in der Ecke, suchte nach dem Schlüssel und schloß sie
schließlich mit einiger Mühe auf. In der Kiste lag ein
ganzes Waffenarsenal. Mehrere Maschinenpistolen, dazu ein Sortiment von
Pistolen und Granaten.
«Das Zeug hab ich seit vier
Jahren hier», sagte Jarrot. «Vier Jahre, aber das Netz ist
aufgeflogen. Aus der Traum.
Heutzutage muß man sich was anderes ausdenken.»
«Die Autowerkstatt?»
Jarrot legte einen Finger an die
Nase. «Komm mit, ich zeig sie dir. Die verdammte Flasche ist
ohnehin leer.»
Er schloß die Hintertür
zur Werkstatt auf, und sie betraten einen Raum, der mit Kartons und
Kisten aller Art vollgestellt war. Jarrot öffnete eine Verpackung
und holte eine neue Flasche Cognac Napoleon hervor.
«Jede Menge, wie gesagt.»
Er ließ den Arm kreisen. «Vorräte aller Art. Jeder
Schnaps, den dein Herz begehrt. Zigaretten, Konserven. Und das Zeug
muß bis zum Wochenende raus sein.»
«Wo kommt denn das alles her?» fragte Mikali.
«Fällt sozusagen aus einem
vorbeifahrenden Lastwagen.» Jarrot lachte besoffen. «Zuviel
fragen schadet der Gesundheit, wie wir in der Legion immer gesagt
haben. Also merk dir, mon ami; was
immer du brauchst und wann immer komm einfach zum alten Claude. Ich
habe Verbindungen. Ich kann dir alles besorgen, Ehrenwort. Nicht nur,
weil du ein alter Kamerad aus Sidi-bel-Abbès bist. Wenn du nicht
gewesen wärst, hätten die Fellachen mir damals vermutlich den
Schwanz abgeschnitten – unter anderem.»
Jarrot war inzwischen stockbetrunken,
und Mikali ging auf sein Gebrabbel ein. Er schlug ihm auf die Schulter.
«Ich werde daran denken.»
Jarrot zog den Korken mit den
Zähnen aus der Flasche. «Auf die Legion», sagte er.
«Den exklusivsten Club der Welt.»
Er nahm einen Zug aus der Flasche und reichte sie Mikali.
Mikali war auf Tournee in Japan, als ihn die
Nachricht vom Tod seines Großvaters erreichte. Der alte Mann
hatte schon seit längerem unter einer arthritischen Hüfte
gelitten und zeitweise nur an Stöcken gehen können. Er war
auf dem gefliesten Balkon ausgeglitten, hatte das Gleichgewicht
verloren und war auf die Straße hinuntergestürzt.
Mikali sagte nach Möglichkeit
seine Konzerte ab und flog nach Hause, doch es verging eine Woche, ehe
er in Athen eintraf. Inzwischen hatte der Staatsanwalt die Bestattung
des Toten angeordnet, eine Feuerbestattung entsprechend Dimitri Mikalis
eigenem Wunsch, der in einem Brief an seinen Anwalt niedergelegt war.
John Mikali floh gleichsam, wie schon
früher, nach Hydra, in die Villa auf dem Kap. Er nahm das
Tragflügelboot von Athen zum Hafen von Hydra, wo Konstantin mit
dem kleinen Motorboot auf ihn wartete. Als er an Bord ging,
überreichte der alte Mann ihm wortlos einen Umschlag, ließ
den Motor an und steuerte das Boot aus dem Hafen.
Mikali erkannte augenblicklich die
Handschrift seines Großvaters. Mit leicht zitternden Fingern
öffnete er den Umschlag. Der darinliegende Brief war kurz.
Wenn Du diese Zeilen liest, bin ich
tot. Das bleibt keinem von uns erspart. Also keine Klagelieder. Und
auch nichts mehr von meiner dummen Politik, die Dich so sehr
langweilte, denn letztlich ist das Ende wohl immer das gleiche. Ich
weiß nur eines mit völliger Gewißheit. Du hast die
letzten Jahre meines Lebens mit Stolz und Freude erfüllt, mich mit
Deiner Liebe beglückt. Meine Liebe und mein Segen sollen bei Dir
bleiben.
Mikalis Augen brannten, er vermochte
kaum zu atmen. Als sie im Haus ankamen, zog er Kletterstiefel und derbe
Kleidung an und machte sich auf in die Berge. Er wanderte stundenlang
umher, bis ihm die Kräfte versagten.
Er nächtigte in einem verlassenen Bauernhaus und fand
keinen Schlaf. Am nächsten Tag kletterte er weiter und verbrachte die zweite Nacht genau so wie die erste.
Am dritten Tag schleppte er sich in
die Villa zurück, wo Konstantin und seine Frau ihn zu Bett
brachten. Die alte Bäuerin flößte ihm einen
Kräuterabsud ein. Er schlief zwanzig Stunden, und als er erwachte,
war er wieder ruhig und gefaßt. Er rief Fischer in London an und
teilte ihm mit, daß er wieder an die Arbeit gehen wolle.
In der Wohnung an der Upper Grosvenor
Street erwartete ihn ein Berg von Briefen. Er blätterte rasch die
Umschläge durch und stutzte. Einer trug griechische Marken und den
Vermerk «Persönlich». Der Agent hatte ihn an Mikalis
Privatadresse weitergeleitet. Mikali legte die übrige Post
beiseite und öffnete das Kuvert. Es enthielt ein einfaches
maschinengeschr iebenes Blatt Papier. Keine Anrede. Keine Unterschrift.
Dimitri Mikalis Tod war kein Unfall – es war
Mord. Die Tatumstände sind wie folgt. Schon seit einiger Zeit
wurde er wegen seiner Tätigkeit für die Demokratische Front
von gewissen Regierungsstellen unter Druck gesetzt. Mehrere
freiheitsliebende Griechen hatten zur Vorlage bei den Vereinten
Nationen eine Akte über politische Gefangene, die ohne
Gerichtsverfahren festgehalten werden, über Greueltaten aller Art,
Folterungen und Morde zusammengestellt. Man nahm an, daß Dimitri
Mikali über diese Akte Bescheid wußte. Am Abend des 16. Juni
suchten ihn der Chef der politischen Abteilung des Militärischen
Nachrichtendienstes, Oberst Georgios Vassilikos, und dessen
Leibwächter, Sergeant Andreas Aleko und Sergeant Nikos Petrakis,
in seiner Wohnung auf. Sie schlugen brutal auf Dimitri Mikali ein, um
Informationen über diese Akte aus ihm herauszupressen, und
verbrannten dann mittels eines Feuerzeugs das Gesicht und die
Geschlechtsteile ihres Opfers. Als Mikali schließlich an den
erlittenen Mißhandlungen starb, befahl Vassilikos seinen
Schergen, die Leiche vom Balkon zu werfen, damit der Tod wie ein Unfall
aussehe. Das Gericht erhielt Anweisung, ein entsprechendes Verdikt
auszufertigen, ohne den Toten gesehen zu haben, der sofort kremiert
wurde, so daß niemand die Spuren von Mißhandlung und Folter
zu Gesicht bekam. Die beiden Sergeanten Aleko und Petrakis haben sich
in betrunkenem Zustand öffentlich ihrer Schandtat gerühmt,
wie mehrere unserer Sache nahestehende Personen bezeugen können.
In John Mikali raste der Zorn wie ein
wildes Tier. Der Schmerz, der seinen ganzen Körper erfaßte,
übertraf jede bisher erfahrene Qual. Er wand sich in
Krämpfen, fiel auf die Erde und rollte sich dann wie ein
Fötus zusammen.
Er hatte keine Ahnung, wie lange er
in dieser Stellung verharrt war, wußte mit Sicherheit nur,
daß er bei einbrechender Nacht durch die Straßen irrte,
ohne Orientierung, ohne Ziel. Schließlich ging er in eine kleine
billige Imbißstube, bestellte eine Tasse Kaffee und setzte sich
an einen der schmutzigen Tische. Es war wie eine Wiederholung der Szene
von damals, in dem kleinen Pariser Café am Markt: Jemand hatte
ein Exemplar der Londoner Times liegenlassen.
Er nahm die Zeitung zur Hand und ließ mechanisch die Augen
darüber schweifen. Plötzlich erstarrte er, als er in der
Mitte der zweiten Seite eine kurze Überschrift las:
GRIECHISCHE ARMEE-DELEGATION ZU
NATOGESPRÄCHEN NACH PARIS.
Noch ehe er die Meldung im einzelnen gelesen hatte, wußte er, wessen Name darin erscheinen würde.
Danach lief alles ab wie nach einem unfehlbaren
Plan, als hätte Gott selber das Zeichen zum Einsatz gegeben. Am
nächsten Morgen klingelte das Telefon, es war Bruno Fischer.
«John? Gut, daß Sie da
sind. Wenn Sie Lust haben, kann ich sofort zwei Konzerte für Sie
arrangieren, Mittwoch und Freitag. Hoffer sollte Schumanns Konzert für Klavier und Orchester aMoll spielen, mit dem London Symphony Orchestra. Er hat sich das Handgelenk verstaucht.»
«Mittwoch?» sagte Mikali automatisch. «Das ist schon in drei Tagen.»
«Sie haben doch das Stück
schon zweimal auf Platte eingespielt. Eine Probe müßte
genügen. Sie und Goossens als Dirigent, das könnte eine
Sensation werden.»
«Wo?» fragte Mikali. «In London?»
«Lieber Gott, nein. In Paris,
Johnny. Ich weiß, Sie müßten schon wieder ins Flugzeug
steigen, aber stört Sie das?»
«Nein», sagte John Mikali ruhig. «Paris paßt mir ausgezeichnet.»
Der Handstreich, mit dem das
Militär in den frühen Morgenstunden des 27. April 1967 die
Macht in Griechenland übernahm, war von nur einer Handvoll
Obristen fachmännisch und unter strengster Geheimhaltung geplant
worden, woraus sich größtenteils sein Gelingen erklärt.
Die Weltpresse hatte in den folgenden Tagen ausführlich
darüber berichtet. Mikali verbrachte die Stunden vor seinem
abendlichen Abflug nach Paris im British Museum, wo er sich alle
illustrierten Zeitschriften vornahm, die in den Wochen nach dem Putsch
erschienen waren.
Es war nicht ganz so mühsam, wie
man hätte glauben können, vor allem, weil er nur nach Fotos
suchte. Er fand zwei. Das eine, in der Times, zeigte Oberst Georgios Vassilikos, einen großen gutaussehenden Mann von fünfundvierzig
Jahren mit dichtem schwarzen Schnurrbart zusammen
mit Oberst Papadopulos, dem Mann, der jetzt praktisch als Diktator in
Griechenland regierte.
Das zweite Foto fand sich in einer
von Londoner Exilgriechen herausgegebenen Zeitschrift. Es zeigte
Vassilikos zwischen zwei Sergeanten. Die Bildunterschrift lautete: Der Schlächter und seine Büttel. Mikali trennte behutsam die Seite heraus und ging.
In Paris sprach er am folgenden
Morgen sogleich in der griechischen Botschaft vor. Der
Kulturattaché Dr. Melos empfing ihn enthusiastisch.
«Mein lieber Mikali, was
für eine freudige Überraschung. Ich hatte keine Ahnung,
daß Sie in Paris auftreten.»
Mikali erklärte, wie es dazu
gekommen war. «Natürlich wird in den Pariser Zeitungen noch
rasch eine Notiz erscheinen, damit die Fans wissen, daß ich
spiele und nicht Hoffer, aber ich wollte sichergehen, daß es die
Botschaft auf jeden Fall erfährt.»
«Ich bin Ihnen sehr verbunden.
Der Botschafter wäre höchst aufgebracht gewesen, wenn er das
Konzert versäumt hätte. Nehmen Sie einen Drink.»
«Ich werde gern ein paar Karten
reservieren lassen», sagte Mikali. «Für den
Botschafter und wen immer er mitbringen möchte. Habe ich nicht
irgendwo gelesen, daß Sie einen hohen Militär aus Athen hier
haben?»
Melos schnitt ein Gesicht,
während er Mikali ein Glas Sherry reichte. «Der Mann ist
nicht ausgesprochen kulturell orientiert. Oberst Vassilikos,
Nachrichtendienst, um es höflich auszudrücken.»
«Ich kann mir's denken», sagte Mikali.
Melos blickte auf seine Uhr. «Kommen Sie.»
Er trat ans Fenster. Im Hof stand ein schwarzer
Mercedes, daneben der Chauffeur. Im nächsten Augenblick schritt
Oberst Vassilikos die Stufen des Haupteinga ngs hinunter, flankiert von
den Sergeanten Aleko und Petrakis. Aleko setzte sich neben den
Chauffeur, Petrakis und der Oberst nahmen im Fond Platz. Als der
Mercedes abfuhr, merkte Mikali sich die Nummer, obgleich der Wagen mit
seinem griechischen Stander unschwer wiederzuerkennen war.
«Schlag zehn Uhr», sagte
Melos. «Genau wie bei seinem Besuch im letzten Monat. Wenn seine
Verdauung ebenso pünktlich ist, muß er ein gesunder Mann
sein. Fährt jetzt zur Kadettenschule von Saint-Cyr, durch den Bois
de Meudon und Versailles. Diese Landschaft gefällt ihm besonders,
wie der Chauffeur mir berichtete.»
«Keine Zeit fürs Vergnügen?» sagte Mikali. «Ein ziemlicher Stockfisch, wie?»
«Angeblich bevorzugt er Knaben,
aber das kann ein Gerücht sein. Eines jedenfalls ist sicher. Die
Musik rangiert sehr weit unten auf seiner Prioritätenliste.»
Mikali lächelte. «Nun ja,
man kann nicht überall Anklang finden. Aber vielleicht kommen Sie
und der Botschafter?»
Melos begleitete ihn hinunter.
«Ich war tief bestürzt über den jähen Tod Ihres
Großvaters. Es muß ein furchtbarer Schock für Sie
gewesen sein. Und daß Sie so kurz danach wieder aufs Podium
zurückkehren … Ich kann nur sagen, Ihre Haltung
erfüllt mich mit Bewunderung.»
«Er war der großartigste Mensch, den ich je gekannt habe», sagte Mikali kurz.
«Und ungeheuer stolz auf Sie?»
«Natürlich. Wenn ich jetzt
pausieren würde, und sei es nur aus Pietät, so wäre das
der schwärzeste Verrat. Sagen wir, dieses Konzert in Paris ist
meine Fasson, seinem Andenken eine Kerze anzuzünden.»
Er verabschiedete sich darauf, ging die Stufen hinunter und stieg in seinen Mietwagen.
Am Nachmittag probte er mit dem London Symphony
Orchestra. Der Dirigent war in Hochform, und er
und Mikali fanden augenblicklich zusammen. Dennoch wünschte
Goossens dringend eine zweite Probe, die am nächsten Nachmittag
von zwei bis vier Uhr stattfinden sollte, da das Konzert um halb acht
Uhr abends begann. Mikali war einverstanden.
Am gleichen Abend um halb sechs
wartete er in einem alten Citroën auf dem Parkstreifen an der
Straße nach Versailles, nicht weit vom Schloß entfernt.
Jarrot saß am Steuer.
«Wenn du mir bloß endlich sagen wolltest, was das alles soll!» murrte er.
«Später.» Mikali bot
ihm eine Zigarette an. «Hast du nicht gesagt, ich soll zu dir
kommen, wann immer ich irgend etwas brauche, egal was?»
«Ja, aber …»
In diesem Augenblick glitt ein
schwarzer Mercedes mit griechischem Stander vorüber, und Mikali
gebot: «Fahr diesem Wagen nach. Kein Grund zur Eile. Er
fährt nicht mehr als vierzig.»
«Das ist doch sinnlos»,
erwiderte Jarrot, startete aber sofort. «Jetzt, in der
Stoßzeit.»
«Nein, es ist sogar ganz einfach», sagte Mikali. «Der Oberst liebt die Natur.»
«Der Oberst?»
«Halt den Mund und tu, was ich dir sage.»
Der Mercedes bog in die Straße
ein, die durch den abendlich stillen und verlassenen Bois de Meudon
führte. Er gewann Vorsprung. In diesem Augenblick raste ein
Motorrad mit Höchstgeschwindigkeit und blinkenden Signallichtern
vorüber, der Fahrer, eine drohende Gestalt mit Sturzhelm,
Motorradbrille und schwarzer Lederkluft, trug ein automatisches Gewehr
auf dem Rücken.
Er überholte den Mercedes und war verschwunden.
«Scheißkerl!» Jarrot spuckte
aus dem Fenster. «Diese CRSSchweine donnern seit neuestem dauernd
auf solchen BlaulichtMaschinen herum. Ich hab immer gedacht, sie kommen
nur als Anti- Terror-Truppe zum Einsatz.»
Mikali lächelte leise und
zündete sich eine frische Zigarette an. «Du kannst das Gas
wegnehmen. Ich weiß jetzt, wie ich es machen muß.»
«Wie du was machen mußt, Herrgottnochmal?»
Also sagte es ihm Mikali. Der
Citroën schlingerte heftig, als Jarrot hart auf die Bremse trat
und am Straßenrand hielt.
«Du mußt verrückt sein. Keine Frage. Damit kommst du nie und nimmer durch.»
«O doch, und zwar mit deiner Hilfe. Du kannst mir alles Nötige beschaffen.»
«Ich werd den Teufel tun. Hör zu, du Vollidiot, ein Anruf bei der Polizei, und du bist geliefert.»
«Was bist du doch für ein
Dummkopf», sagte Mikali gelassen. «Ich bin John Mikali. Ich
spiele in Rom, London, Paris, New York. Kein Mensch auf der Welt
würde dem Anrufer abnehmen, daß ich wirklich eine solche
Wahnsinnstat plane. Warum sollte ich wohl? Mein Großvater ist von
seinem Balkon gestürzt. Ein Unfall. Gerichtlich bescheinigt.
»
«Nein!» rief Jarrot störrisch.
«Du hingegen, alter Sack, bist
nicht nur ein schäbige r Ganove, wie mir schmerzlich klar wurde,
als du mir neulich nachts in der Werkstatt diesen ganzen Fang gezeigt
hast. Außerdem warst du dick in der OAS …»
«Das kann niemand beweisen», sagte Jarrot trotzig.
«O doch, und ob man dir das beweisen kann.
Nur dein Name und der leiseste Hinweis auf eine Verbindung zur OAS, und
die Abteilung Fünf rückt dir auf den Pelz, so nennen sie doch
ihre Parallelpolizei – ihre barbouzes? Die
Hälfte davon alte Algerien kämpf er genau wie du, also
weißt du, was dich erwartet. Sie schnallen dich auf den Tisch, du
kriegst einen Draht um die Eier, dann schalten sie den Strom ein. In
der nächsten halben Stunde erzählst du ihnen bis ins kleinste
alles, was sie wissen wollen, nur daß sie dir nicht glauben. Sie
machen weiter, bloß um zu sehen, ob sie alles rausgequetscht
haben. Danach bist du entweder tot oder hoffnungslos
verblödet.»
«Das reicht», ächzte Jarrot. «Hör auf damit. Ich tu's.»
«Versteht sich. Siehst du, Claude, man muß nur vernünftig sein. Und jetzt raus hier.»
Er kurbelte das Fenster hinunter und
ließ sich die kühle Abendluft ins Gesicht wehen. Seit Jahren
hatte er sich nicht mehr so von Grund auf lebendig gefühlt, jeder
Nerv in ihm war gespannt wie eine Klaviersaite. Es war wie der
allerletzte Moment vor einem Konzert, ehe man hinaustritt ins
Rampenlicht, auf den Flügel zu, und der Applaus einsetzt,
anschwillt gleich einer Woge …
Es war kurz nach sechs Uhr am
nächsten Abend, als Paros, der Botschaftschauffeur am Steuer des
Mercedes, Versailles links liegenließ und in den Bo is de Meudon
einbog. Sergeant Aleko saß neben ihm und Petrakis auf dem
Klappsitz, das Gesicht Oberst Vassilikos zugewandt, der in eine Akte
vertieft war. Die Trennscheibe war geschlossen.
Es hatte den ganzen Nachmittag in
Strömen geregnet, und der Park lag verlassen. Paros fuhr wie immer
ziemlich langsam, als er in der rasch einfallenden Dämmerung dicht
hinter dem Mercedes einen Scheinwerfer auftauchen sah. Ein CRS-Mann in
dunkler Lederjacke und Sturzhelm zog längsseits und winkte Halt.
Er hatte zum Schutz vor dem Regen den Kragen hochgeschlagen und trug
eine dunkle Fahrbrille, so daß Paros überhaupt nichts von
seinem Gesicht sehen konnte.
«CRS», sagte Aleko.
Die Trennscheibe glitt zur Seite. Oberst Vassilikos sagte: «Fragen Sie ihn, was er will.»
Als der Mercedes anhielt, fuhr der
CRS-Mann vor den Kühler, stieg von seiner schweren BMW und hievte
die Maschine auf den Ständer. Dann ging er auf den Wagen zu. Seine
Jacke war triefend naß, und quer vor der Brust hing eine MAT 49.
Aleko öffnete den Schlag und
stie g aus. «Was ist denn los?» fragte er in schlechtem
Französisch.
Die Hand des CRS-Manns kam mit einem
45er Colt aus seiner Tasche, einer Waffe, mit der im Zweiten Weltkrieg
die Amerikaner ausgestattet waren.
Er schoß Aleko zweimal ins
Herz. Die Wucht der Schüsse schleuderte den Sergeant
rücklings gegen den Aufbau des Mercedes, er prallte ab und fiel
mit dem Gesicht in den Straßengraben.
Petrakis, der auf seinem Klappsitz
der Trennscheibe den Rücken wandte, bekam die dritte Kugel in den
Hinterkopf. Er war sofort tot, kippte vornüber auf den Platz neben
dem Oberst, dessen Uniform über und über mit Blut bespritzt
wurde. Starr vor Entsetzen drückte Vassilikos sich in die Polster.
Paros umklammerte krampfhaft das
Lenkrad, er zitterte am ganzen Körper, als der Lauf des Colt zu
ihm herumschwang. «Nicht – bitte nicht!»
Mikali hatte im Lauf der Jahre
gelernt, ein Griechisch zu sprechen, das selbst den strengsten
Anforderungen der Athener High-Society gerecht wurde, jetzt aber kehrte
er zum Dialekt der kretischen Bauern zurück, den Katina ihn vor so
langer Zeit gelehrt hatte.
Er zog Paros hinter dem Lenkrad
hervor. «Wer sind Sie?» fragte er, ohne Vassilikos aus den
Augen zu lassen.
«Paros – Dimitri Paros. Ich bin nur Chauffeur an der
Botschaft. Ich habe Frau und Kinder.»
«Sie sollten sich eine achtbare
Arbeit suchen, anstatt für Faschistenschweine wie die da den
Lakaien zu spielen», sagte Mikali. «Los, ab durch den
Park.»
Paros stolperte davon, so schnell die
Beine ihn tragen wollten, und Vassilikos krächzte: «Um
Gottes willen.»
«Was hat ER damit zu
schaffen?» Mikali ließ den kretischen Akzent fallen und
schob die Schutzbrille hoch. Ein Ausdruck ungläubigen Staunens
erschien auf dem Gesicht des Obersten. «Sie? Aber das ist doch
unmöglich.»
«Für meinen
Großvater», sagte Mikali. «Ich würde es gern
bedeutend langsamer machen, aber ich habe keine Zeit. Wenigstens wissen
Sie jetzt, wer Sie zur Hölle schickt.»
Als Vassilikos den Mund aufmachte, um
aufs neue zu sprechen, beugte Mikali sich ins Fenster und schoß
ihn zwischen die Augen. Das schwere Kaliber tötete ihn auf der
Stelle.
In der nächsten Sekunde kippte
Mikali die BMW vom Ständer und brauste davon. Ein Wagen fuhr in
der Gegenrichtung an ihm vorbei. Im Rückspiegel sah er, wie der
Wagen verlangsamte und neben dem Mercedes anhielt. Es kümmerte ihn
nicht. Er bog von der Straße in einen der Fußwege ein und
verschwand unter den Bäumen.
In einer abgelegenen und um diese
Abendstunde leeren Parkbucht auf der anderen Seite des Bois de Meudon
wartete Jarrot ängstlich neben dem alten Citroën-Laster. Die
Rückwand war heruntergeklappt und bildete eine Laderampe, und
Jarrot tat, als repariere er irgend etwas am Hinterrad.
Er hörte die BMW unter den Bäumen
näher kommen. Mikali tauchte auf und fuhr die Maschine die Rampe
hinauf und in den Laderaum des Lastwagens. Jarrot klappte blitzschnell
die Rückwand hoch, hastete dann nach vorn und kletterte hinter das
Steuer. Als sie abfuhren, hörten sie das weit entfernte Heulen von
Polizeisirenen.
Mikali stand in der Werkstatt vor dem
Ofen und warf Stück für Stück die CRS-Uniform in die
Flammen, sogar den Plastikhelm. Die BMW stand in der Ecke neben dem
Citroën, jetzt ohne die falschen Polizeiinsignien und
Nummernschilder, die, da sie hauptsächlich aus Plastikmaterial
bestanden, gleichfalls im Feuer verbrannten.
Als Mikali in die Wohnung hinaufging,
fand er Jarrot am Tisch sitzen. Vor ihm standen eine Flasche Cognac
Napoleon und ein Glas.
«Alle drei», sagte er. «Mein Gott, was bist du für ein Mensch!»
Mikali ließ einen Umschlag auf
den Tisch fallen. «Fünfzehntausend Francs, wie
abgemacht.» Er nahm den Colt aus der Tasche. «Den nehme ich
wieder mit. Ich will ihn lieber selbst beiseite schaffen.»
Er wandte sich zur Tür. Jarrot fragte: «Wo gehst du hin?»
«Ich habe ein Konzert»,
erwiderte Mikali. «Hast du das vielleicht vergessen?» Er
sah auf die Uhr. «In genau dreißig Minuten, ich muß
mich also auf den Weg machen.»
«Allmächtiger»,
flüsterte Jarrot und fügte dann erregt hinzu: «Und wenn
etwas schiefgeht? Wenn sie dir auf die Spur kommen, was dann?»
«Drück die Daumen,
daß sie mich nicht erwischen, in deinem und in meinem Interesse.
Nach dem Konzert komme ich nochmals vorbei. So gegen elf Uhr.
Okay?»
«Klar», sagte Jarrot müde. «Ich wüßte nicht, wohin ich gehen sollte.»
Mikali stieg in seinen Mietwagen und fuhr ab. Er
fühlte sich ruhig und entspannt, frei von aller Besorgnis, obwohl
er sich über die Zuverlässigkeit seines Komplizen keine
Illusionen machte. Hinzu kam, daß Jarrots Verhalten eine Menge zu
wünschen übrigließ. Er war zweifellos nicht mehr der
Mann, den Mikali in Algerien gekannt hatte. Bedauerlich, aber er
würde sich nochmals mit Jarrot befassen müssen. Zunächst
jedoch kam das Konzert.
Er traf knappe fünfzehn Minuten
vor Beginn in der Oper ein und hatte kaum noch Zeit zum Umkleiden. Aber
er schaffte es und stand wartend in den Kulissen, als der Dirigent das
Podium betrat.
Er folgte ihm, und ein Beifallssturm
brach los. Das Haus war ausverkauft, und er sah, daß Melos und
der griechische Botschafter nebst Gattin in der dritten Reihe Platz
gefunden hatten; Melos saß ganz am Rand.
Schumann hatte sein Klavierkonzert a-Moll ursprünglich
als Phantasiestück für Klavier und Orchester in einem Satz
komponiert und seiner Frau Clara gewidmet, die einen großen Ruf
als Pianistin genoß. Später arbeitete er das Stück zu
einem Konzert in drei Sätzen aus, das der Musikkritiker der
Londoner Times seinerzeit als
schwerfällig und verstiegen bezeichnete und Madame Schumanns
Versuche würdigte, die kompositorischen Wallungen ihres Gatten als
Musik zu interpretieren.
An diesem Abend erwachte das
Stück unter Mikalis Händen zu sprühendem Leben und
elektrisierte das gebannt lauschende Publikum. Daher war das Erstaunen
– um es gelinde auszudrücken – beträchtlich, als
der griechische Botschafter, seine Frau und der Kulturattache
plötzlich aufstanden und hinausgingen, nachdem ein
Logenschließer ein Briefchen in die dritte Reihe gebracht hatte.
Jarrot schaute sich die Nachrichten im Fernsehen
an. Die Morde seien eindeutig politisch motiviert, sagte der Sprecher,
denn der Attentäter habe den Chauffeur verschont und diesem
gegenüber die Opfer als Faschisten bezeichnet. Vermutlich
gehöre er einer der zahlreichen griechischen Dissidentengruppen in
Paris an, die dort im Exil lebten. In diesem Fall hätte die
Polizei ausgezeichnete Chancen, den Täter schnell zu fassen. Der
Gesuchte sei Kreter – ein kretischer Bauer. Dessen sei der
Chauffeur sich absolut sicher. Er hatte den Akzent erkannt.
Die Bilder der Leichen, besonders der
beiden im Fond, waren, milde gesagt, sehr anschaulich und erinnerten
Jarrot an frühere Proben von Mikalis Härte. Und er hatte
gesagt, er werde nach dem Konzert nochmals herkommen?
Warum? Es konnte nur einen einzigen Grund geben.
Er mußte weg, solange ihm noch
Zeit dazu blieb, aber bei wem sollte er Hilfe suchen? Gewiß nicht
bei der Polizei und auch nicht bei einem seiner Spießgesellen.
Plötzlich fiel ihm, trotz seines halbbetrunkenen Zustands, die
nächstliegende Person ein: Maître Deville, sein Anwalt. Der
beste Strafverteidiger der ganzen Zunft, wie jedermann wußte.
Deville hatte ihn bereits zweimal vor dem Gefängnis bewahrt.
Deville würde wissen, was zu tun war.
Er würde jetzt natürlich
nicht in seiner Kanzlei sein, sondern in dem Privathaus, wo er allein
wohnte, seit seine Frau vor drei Jahren an Krebs gestorben war. In
einer Seitenstraße der Avenue Victor Hugo. Jarrot fand die
Telefonnummer und wählte hastig.
Kurze Pause, dann sagte eine Stimme: «Hier Deville.»
«Maître? Ich bin's, Jarrot. Ich muß Sie sprechen.»
«Ah, wieder mal in der Klemme,
Claude?» Deville lachte gutgelaunt. «Gleich morgen
früh in der Kanzlei. Sagen wir, um neun.»
«Die Sache kann nicht warten, maître.»
«Mein Lieber, sie wird warten
müssen. Ich bin zum Dinner eingeladen und sollte um diese Zeit
eigentlich gar nicht mehr zu Hause sein.»
«Maître, haben Sie die Abendnachrichten verfolgt? Wissen Sie, was im Bois de Meudon passiert ist?»
«Die Morde?» Devilles Stimme hatte jetzt einen anderen Klang. «Ja.»
«Wegen dieser Sache muß ich Sie sprechen.»
«Sind Sie jetzt in der Werkstatt?»
«Ja.»
«Dann erwarte ich Sie hier in einer Viertelstunde.»
Jean Paul Deville war
fünfundfünfzig Jahre alt und einer der erfolgreichsten
Verteidiger an der Strafkammer von Paris. Dennoch stand er mit der
Polizei auf gutem Fuß. Obwohl er zum Besten seiner Klienten alle
Tricks und Kniffe spielen ließ, war er fair und gerecht und
peinlich korrekt in seiner Handlungsweise. Ein Gentleman im
altmodischen Sinn des Wortes, der bei mehr als einer Gelegenheit der
Geheimpolizei gute Dienste geleistet hatte und daher dort sehr gut
angeschrieben war.
Seine Eltern und Geschwister waren in
Calais bei dem großen Stuka-Angriff 1940 ums Leben gekommen.
Deville hatte seiner schlechten Augen wegen den Krieg nicht als Soldat
mitgemacht. Er arbeitete damals als Schreiber in einer Anwaltskanzlei
und war zusammen mit Tausenden seiner jungen Landsleute als
Zwangsarbeiter nach Ostdeutschland und Polen geschickt worden.
Wie viele Franzosen, die sich bei
Kriegsende jenseits des Eisernen Vorhangs befanden, hatte er Frankreich
erst 1947 wiedergesehen. Da alle seine Angehörigen in Calais tot
waren, ließ er sich in Paris nieder, wo er als
Kriegsgeschädigter ein Stipendium erhielt und an der Sorbonne das
juristische Staatsexamen ablegte.
Mit den Jahren wuchs sein Ruf als Anwalt. 1955
hatte er seine Sekretärin geheiratet, doch die Ehe blieb
kinderlos. Madame Deville war schon immer von zarter Gesundheit gewesen
und
starb nach zwei Jahren qualvollen Siechtums an Magenkrebs.
Devilles Tüchtigkeit und sein schweres Schicksal hatten ihm
allerseits Sympathie eingetragen, nicht nur bei
der Polizei und seinen eigenen Standesgenossen, sondern auch in den
Kreisen der Unterwelt – was man nur als Ironie empfinden konnte,
wenn man wußte, daß dieser biedere und angesehene Franzose
in Wahrheit Oberst Nikolai Ashimow war, ein Ukrainer, der seine Heimat
vor etwa fünfundzwanzig Jahren zum letztenmal gesehen hatte.
Vermutlich war er sogar der wichtigste Einzelagent des russischen
Geheimdienstes in Westeuropa. Kein Agent des KGB, sondern der
rivalisierenden Nachrichtenabteilung der Roten Armee, bekannt als GRU.
Die Russen hatten schon vor
Kriegsende an verschiedenen Orten der Sowjetunion Agentenschulen, jede
ausgerichtet auf ein bestimmtes Einsatzgebiet wie zum Beispiel die
Schule in Glacyna, wo Spione, die später in englischsprechenden
Ländern arbeit en sollten, in der getreuen Nachbildung einer
englischen Stadt wohnten und dort genau so lebten wie dann später
im Westen.
Ashimow verbrachte zwei lange
Ausbildungsjahre an einer ähnlichen Schule in Grosnia, wo alles
auf einen Einsatz in Frankreich ausgerichtet war, Umgebung, Kultur,
Küche und Kleidung, alles getreu nach französischem Muster.
Er war von Anfang an im Vorteil
gewesen, weil er eine französische Mutter hatte. Er machte rapide
Fortschritte und wurde alsbald in eine Gruppe französischer
Zwangsarbeiter in Polen eingeschleust und teilte deren Sklavendasein
unter dem Namen Jean Paul Deville, eines Mannes, der 1945 in einem
sibirischen Kohlenbergwerk an Lungenentzündung gestorben war. Und
dann, im Jahr 1947, war er heimgeschickt worden – heim nach
Frankreich.
Deville füllte Jarrots Cognacglas aufs neue. «Los, trinken Sie
aus, ich sehe Ihnen an, daß Sie's nötig haben. Eine phantastische Geschichte.»
«Ich kann mich doch auf Sie verlassen, maître, nicht wahr?» drängte Jarrot. «Ich meine, daß die Polizei nicht davon Wind bekommt.»
«Mein lieber Mann», sagte
Deville beschwichtigend. «Wie oft habe ich Ihnen das schon
gesagt? Ein Anwalt und sein Klient, das ist wie ein Priester und sein
Beichtkind. Schließlich, wenn ich dem SDECE, unserm
französischen Geheimdienst, mitgeteilt hätte, was ich
über Ihre Verbindung zur OAS weiß …»
«Und was soll ich jetzt
tun?» fragte Jarrot. «Wenn Sie die Fernsehnachrichten
gesehen haben, dann wissen Sie, wozu er fähig ist.»
«Nicht zu fassen!» sagte
Deville. «Ich habe ihn natürlich schon mehrmals spielen
hören. Er ist ein brillanter Pianist, und ich erinnere mich vage,
in irgendeiner Zeitschrift gelesen zu haben, er sei als junger Mann ein
paar Jahre in der Fremdenlegion gewesen.»
Jarrot sagte: «Der war nie
jung. Wenn ich Ihnen erzä hlen wollte, was er sich damals in
Algerien alles geleistet hat. In Kasfa hat er zum Beispiel zwei Kugeln
in die Lunge gekriegt und es trotzdem fertiggebracht, vier Fellachen
mit der Pistole abzuknallen. Mit einer Pistole, verdammt
nochmal.»
Deville goß ihm noch einen Cognac ein. «Erzählen Sie weiter.»
Das tat Jarrot. Am Ende seines Berichts war er stockbetrunken. «Also, was soll ich tun?»
«Um elf Uhr, glaube ich, wollte er Sie
nochmals aufsuchen.» Deville sah auf die Uhr. «Jetzt ist es
zehn. Ich hole meinen Mantel, dann fahren wir zusammen zur Werkstatt.
Das Steuer übernehme besser ich. Sie kämen vermutlich nicht
heil bis zur nächsten Ecke.»
«Zur Werkstatt?» stammelte Jarrot mit schwerer Zunge. «Warum zur Werkstatt?»
«Weil ich mit ihm sprechen
möchte. Ihretwegen.» Er versetzte Jarrot einen kumpelhaften
Schlag auf die Schulter. «Vertrauen Sie mir, ich will Ihnen
helfen. Schließlich sind Sie doch deswegen zu mir gekommen, oder
nicht?»
Er ging ins Schlafzimmer, zog einen
dunklen Mantel an und nahm den schwarzen Homburg, den er immer trug.
Dann zog er die Schublade seines Nachttischs auf und nahm eine
automatische Pistole heraus. Schließlich sollte er einem Mann
gegenübertreten, der, nach allem, was er heute abend erfahren
hatte, ein psychopathischer Mörder ersten Ranges sein mußte.
Er wog die Waffe in der Hand, dann
faßte er, einzig seinem Instinkt und einer Ahnung folgend, einen
tollkühnen Entschluß und legte sie wieder in die Schublade.
Er kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo Jarrot immer noch Cognac
trank.
«So, Claude», sagte er munter. «Gehen wir.»
Das Konzert war ein voller Erfolg.
Mikali wurde immer wieder herausgerufen, ein Teil des Publikums
verlangte stürmisch eine Zugabe. Endlich ließ er sich dazu
bewegen. Erregtes Flüstern im Saal, darauf Totenstille, als er
sich an den Flügel setzte. Eine Pause, und dann erklang Le Pastour von Gabriel Grovlez.
Er ließ den Mietwagen ein Stück von der
Werkstatt entfernt stehen, ging den Rest des Weges zu Fuß durch
den strömenden Regen und trat lautlos durch die kleine Tür im
Haupttor ein. In der rechten Tasche seines Regenmantels steckte noch
immer der Colt. Er tastete nach dem Kolben, während er im Dunkeln
stand und auf die Musik lauschte, die man schwach aus der über der
Werkstatt liegenden Wohnung hören konnte.
Er ging leise die Treppe hinauf und
öffnete die Tür. Der Wohnraum lag im Halbdunkel, eine einzige
Lampe brannte auf dem Tisch, an dem Jarrot sanft in betrunkenem Schlaf
schnarchte.
Neben der Lampe stand eine leere
Flasche Napoleon, aus einer zweiten fehlte bereits ein Viertel. Ein
Transistorradio spielte leise Musik, dann schaltete sich die Stimme des
Nachrichtensprechers ein und brachte weitere Einzelheiten über die
Parforcejagd der Polizei nach dem Mörder Vassilikos' und seiner
Begleiter.
Er streckte die Hand aus, schaltete
das Radio ab und nahm dann den Colt aus der Tasche. Eine leise Stimme
sagte in tadellosem Englisch mit leichtem französischem Akzent:
«Wenn das die bewußte
Waffe ist, dann halte ich es für einen gravierenden Fehler, ihn
damit zu erschießen.»
Deville trat aus dem Schatten im
Hintergrund. Er trug noch immer den dunklen Mantel und hielt in der
einen Hand einen Spazierstock, in der anderen den Homburg.
«Man würde die Kugel aus
der Leiche entfernen, und die gerichtsmedizinische Untersuchung
müßte ergeben, daß sie aus der gleichen Waffe stammt,
mit der Vassilikos und seine Leute getötet wurden. Das stimmt
doch, oder?» Er zuckte die Achseln. «Was allerdings noch
nicht heißen will, daß die Spur zu Ihnen führen
würde, aber es wäre töricht, einen so brillanten Coup
auch nur durch die kleinste Unbesonnenheit um seine Perfektion zu
bringen.»
Mikali hielt den Colt gegen die Hüfte gepreßt und wartete. «Wer sind Sie?»
«Jean Paul Deville. Von Beruf
Strafverteidiger. Dieser Strolch hier ist mein Klient. Er ist heute
abend in heller Aufregung zu mir gekommen und hat mir alles
erzählt. Wissen Sie, zwischen uns besteht eine Verbindung
besonderer Art. Ich bin sozusagen sein Beichtvater. Er hat sich vor ein
paar Jahren als Angehöriger der OAS schlimm in die Nesseln
gesetzt. Ich habe ihn herausgepaukt.»
Er griff in die Manteltasche, und
sofort fuhr der Colt hoch. «Keine Angst, nur eine
Zigarette.» Deville zog ein silbernes Etui hervor. «Ich
habe seit Jahren keine Waffe abgefeuert. Habe keinen stumpfen
Gegenstand bei mir. Auch nichts im Ärmel. Das hier ist
ausschließlich eine Sache zwischen Ihnen, mir und diesem armen
betrunkenen Schwein. Er hat sonst zu keinem Menschen ein Wort
gesagt.»
«Und Sie glauben ihm?»
«Zu wem hätte er sich
flüchten können? Er ist wie ein aufgescheuchtes Kaninchen zum
einzig sicheren Unterschlupf gerannt, den er kennt.»
«Um Ihnen alles zu erzählen?»
«Er hatte Angst, Sie wollten
ihn töten. Eine Heidenangst. Er hat mir alles über Sie
erzählt. Algerien, die Legion. Kasfa unter anderem. Was Sie dort
getan haben, machte einen tiefen Eindruck auf ihn. Er nannte mir auch
den Grund für Ihre heutige Tat. Daß Vassilikos Ihren
Großvater gefoltert und ermordet habe.»
«Und?» Mikali wartete geduldig.
«Ich hätte das Ganze in
einem Brief niederschreiben können, ehe ich heute abend meine
Wohnung verließ, den Brief dann zusammen mit einem
Begleitschreiben an meine Sekretärin schicken können mit dem
Auftrag, ihn an die richtigen Leute beim SDECE weiterzuleiten.»
«Aber das taten Sie nicht.»
«Nein.»
«Warum nicht?»
Deville ging zum Fenster und
öffnete es. Noch immer regnete es. Die nächtlichen
Verkehrsgeräusche drangen herein.
«Sagen Sie mir eins – sprechen Sie immer Griechisch mit
kretischem Akzent, wie heute abend im Park?»
«Nein.»
«Das dachte ich mir. Ein glänzender Einfall, auch daß Sie
dem Fahrer gegenüber Vassilikos und seine
Begleiter als Faschisten bezeichneten. Was natürlich bedeutet,
daß man heute nacht in ganz Griechenland Razzien veranstalten
wird und jeden Kommunisten, jeden Agitator, jedes Mitglied der
Demokratischen Front, dessen man habhaft werden kann, hinter
Schloß und Riegel bringt.»
«Dann haben sie eben Pech
gehabt», sagte Mikali. «Politik langweilt mich. Würden
Sie freundlichst zur Sache kommen.»
«Die Sache ist höchst
einfach, Mister Mikali. Chaos – das Chaos ist mein Geschäft.
Ich habe, genau wie meine Auftraggeber, begründetes Interesse
daran, so viel Chaos wie möglich in der westlichen Welt zu
schaffen. Chaos und Unordnung und Furcht und Unsicherheit, genau wie
Sie das gemacht haben, denn was heute nacht in Athen passiert, das
geschieht auch in Paris. Es gibt in der ganzen Stadt keinen einzigen
linken Agitator, der morgen früh nicht entweder untergetaucht oder
in den Fängen der Polizei sein wird. Nicht nur Kommunisten,
sondern auch Sozialisten. Das wird der Sozialistischen Partei nicht
gefallen, und bald wird es auch den Arbeitern nicht gefallen, was die
Regierung angesichts des bevorstehenden Wahltermins in ziemliche
Verlegenheit bringt.»
Mikali sagte leise: «Wer sind Sie?»
«Wie Sie – nicht das, was ich zu sein scheine.»
«Sind Sie vom Osten geschickt? Vielleicht sogar von Moskau?»
«Spielt das eine Rolle?»
«Wie ich schon sagte, interessiere ich mich nicht für Politik.»
«Eine ideale Voraussetzung für die Art von Verbindung, die ich suche.»
«Also, was wollen Sie?»
«Daß Sie, mein Freund,
Ihr Kunststück vom Bois de Meudon wiederholen, sobald ich es
verlange. Nur allerhöchste Herrschaften. Ein einzigartiges und
völlig privates Abkommen zwischen uns beiden.»
Mikali sagte leise: «Erpressung, daraufläuft es hinaus.»
«Unsinn! Sie könnten mich
und Jarrot jetzt ohne weiteres töten. Einfach weggehen und
ziemlich sicher sein, daß niemand je dahinterkommt. Wer
würde auf die Idee verfallen, Sie zu verdächtigen? Mein Gott,
Sie haben im vergangenen Jahr sogar im Buckingham Palast bei einem
Prominentenempfang vor Königin Elisabeth gespielt, nicht wahr?
Wenn Sie am Londoner Flugplatz Heathrow landen, was passiert
dann?»
«Ich werde in den VIP-Salon gebeten.»
«Genau. Können Sie sich
erinnern, wann irgendwo auf der Welt Ihr Gepäck zum letztenmal vom
Zoll kontrolliert wurde?»
Devilles Vermutung stimmte genau, und
Mikali legte den Colt aufs Fensterbrett und griff nach einer Zigarette.
Deville gab ihm Feuer. «Ich möchte eines klarstellen. Genau
wie Sie interessiere ich mich überhaupt nic ht für
Politik.»
«Warum üben Sie dann eine solche Tätigkeit aus?»
Deville zuckte die Achseln. «Es
ist ein Spiel. Mein einziges. Und ich darf mich glücklich
schätzen. Die meisten Menschen haben überhaupt keines.»
«Und ich?» sagte Mikali.
Deville wandte sich ihm zu. Wie die
beiden Männer jetzt so am Fenster in der regenfeuchten Nachtluft
standen, herrschte eine seltsame spannungsgeladene Vertrautheit
zwischen ihnen.
«Meinen Sie Ihre Musik? Ich glaube nicht. Mir
tun schöpferische Künstler fast leid. Musiker, Maler,
Schriftsteller. Es ist eine so flüchtige Befriedigung, besonders
für Schauspieler und Musiker; der denkbar kürzeste
Höhepunkt. Danach die Erschlaffung. Wie in der Liebe. Ovid hat das
vor mehr als zweitausend Jahren schon vortrefflich formuliert, und
seither hat sich nichts geändert. Nach dem Koitus ist jedes
Lebewesen traurig.»
Er hatte leise und überaus klug
gesprochen. Mit ruhiger, gebildeter Stimme. Einen Augenblick lang
fühlte Mikali sich in die Villa auf Hydra versetzt, vor den Kamin
mit den Pinienscheiten, wo er so oft seinem Großvater gelauscht
hatte.
«Aber heute abend – da
war es anders. Jeder einzelne gefährliche Moment war ein
Hochgenuß für Sie. Ich wage eine Prophezeiung. Morgen werden
die Musikkritiker schreiben, daß Sie eines Ihrer
großartigsten Konzerte gegeben hätten.»
«Ja», sagte Mikali
schlicht. «Ich war gut. Die Direktion ließ mir ausrichten,
das Konzert vom Freitag sei schon jetzt bis auf den letzten Platz
ausverkauft.»
«Damals in Algerien
töteten Sie wahllos, nicht wahr? Ganze Dörfer – Frauen,
Kinder – es war üblich in diesem Krieg. Heute nachmittag
haben Sie ein paar Schweine getötet.»
Mikali starrte durchs Fenster in die
Nacht hinaus und sah in seiner Phantasie die Fellachen in Kasfa sich
von dem brennenden Lastwagen abwenden und im Zeitlupentempo näher
kommen, während er wartete, eine Hand auf seine Wunden
preßte und sich verbissen weigerte, zu sterben.
Damals hatte er den Tod viermal mit
dessen eigenen Waffen besiegt. Wiederum empfand er die gleiche atemlose
Erregung. Die Sache im Bois de Meudon war nicht anders gewesen, das
wußte er jetzt. Vergeltung für den Tod seines
Großvaters, gewiß, aber danach …
Er hob beide Hände. «Geben
Sie mir eine Partitur, wählen Sie ein beliebiges Konzert, und ich
lasse Sie mit diesen Händen das Wunder der Perfektion
erleben.»
«Und mehr», sagte Deville leise. «Viel mehr. Ich glaube, Sie wissen das ganz genau.»
Mikalis Atem entwich in einem langgezogenen Seufzer. «Und an wen genau denken Sie?»
«Spielt das eine Rolle?»
Mikali lächelte ein wenig. «Eigentlich nicht.»
«Gut – aber als erstes will ich Ihnen etwas geben, was meine jüdischen Freunde Mizwa nennen
würden. Eine gottgefällige Tat, für die ich keine
Gegenleistung erwarte. Eigens für Sie. Ihr Terminplan. Besteht die
Möglichkeit, daß eine Ihrer Tourneen Sie in der ersten
Novemberwoche nach Berlin führt?»
«Ich kann mein Auftreten in Berlin selber bestimmen. Ich habe eine ständige Einladung dorthin.»
«Sehr gut, General Stephanakis
wird am ersten November zu einem dreitägigen Aufenthalt in der
Stadt eintreffen.
Falls es Sie interessiert: er war
Vassilikos' direkter Vorgesetzter. Ich könnte mir vorstellen,
daß dieser Mann Ihnen nicht völlig gleichgültig ist.
Aber im Augenblick sollten wir uns wohl um unseren Freund Jarrot
kümmern.»
«Was schlagen Sie vor?»
«Zunächst noch ein
bißchen mehr von diesem Napoleon in ihn hineinschütten.
Schade um den guten Cognac, aber er steht so schön
griffbereit.» Deville zog dem fast bewußtlosen Jarrot den
Kopf am Haar in den Nacken und zwängte ihm den Flaschenhals
zwischen die Zähne. Er warf einen Blick über die Schulter.
«Ich hoffe sehr, daß Sie für das Konzert am Freitag
doch noch eine Karte für mich besorgen können. Ich
möchte es um keinen Preis versäumen.»
Um halb sechs Uhr am nächsten
Morgen goß es noch immer in Strömen, als der
Streifenpolizist des Reviers im ersten Frühlicht an der Helling
stehenblieb, die gegenüber der Rue de Beaune in die Seine
führt.
Seine Pelerine war völlig durchnäßt, und er fühlte sich so
elend, daß er unter einer Kastanie Schutz
suchte, um sich eine Zigarette anzuzünden. Als der Nebel über
dem Fluß sich ein wenig hob, sah er etwas drunten im Wasser, am
Ende der Helling.
Er trat näher heran und sah die
Rückwand eines Citroën Lasters, dessen Vorderteil unter
Wasser lag. Er watete in den eiskalten Fluß, holte tief Atem,
packte den Türgriff und zog daran. Als er wieder an Land stapfte,
hielt er Claude Jarrot in den Armen.
Der gerichtsmedizinische Befund, der bei dem eine Woche
später stattfindenden Verfahren vorlag,
nannte einen Alkoholspiegel im Blut des Toten, der den für
Kraftfahrer zulässigen Promille-Gehalt um das Fünffache
überstieg. Das Gerichtsurteil war einfach: Tod durch Unfall.
Das Konzert am Freitag erfüllte
alle Erwartungen, und beim anschließenden Empfang konnte man den
Innenminister persönlich mit dem griechischen Botschafter in einer
Ecke plaudern sehen. Als der Andrang der Gratulanten rings um Mikali
ein wenig nachließ, trat Deville zu ihm.
«Freut mich, daß Sie kommen konnten», sagte Mikali, als sie einen Händedruck tauschten.
«Mein lieber Junge, ich
hätte es um nichts auf der Welt versäumen wollen. Sie waren
fabelhaft – wirklich fabelhaft.»
Mikali sah sich in dem überfüllten Raum um, in dem das tout Paris sich ein Stelldichein zu geben schien.
«Seltsam, ich fühle mich plötzlich unendlich weit von alledem entfernt.»
«Einsam in der Menge?»
«So ungefähr.»
«Ich fühle mich schon seit
fünfundzwanzig Jahren so. Das große Spiel. Die Gratwanderung
auf Messers Schneide. Nie wissen, wie lange man noch damit durchkommt.
Warten auf das Ende. Das Klopfen an der Tür.» Deville
lächelte. «Eine Erregung besonderer Art.»
«Als wäre man ständig
high?» sagte Mikali. «Glauben Sie, daß es eines Tages
kommen wird, Ihr Ende?»
«Vermutlich dann, wenn ich es
am wenigsten erwarte, und aus einem denkbar albernen und triviale n
Grund.»
Mikali sagte: «Gehen Sie noch
nicht. Ich muß nur kurz mit dem Innenminister sprechen. Bis
später.»
«Natürlich.»
Der Minister sagte gerade zum
griechischen Botschafter: «Selbstverständlich tun wir alles,
was in unserer Macht steht, um diesen – diesen Makel auf dem
Ehrenschild Frankreichs zu tilgen; aber, unter uns gesagt, Herr
Botschafter, Ihr Mann aus Kreta scheint wie vom Erdboden verschwunden.
Doch nur für den Augenblick. Früher oder später werden
wir ihn zu fassen kriegen, das verspreche ich Ihnen.»
Mikali hörte das alles, als er
auf die beiden Herren zuschritt. Er lächelte. «Exzellenzen,
es ist mir eine Ehre, daß Sie heute abend zugegen sein
konnten.»
«Ganz unsererseits, Monsieur
Mikali.» Der Minister winkte einen Kellner herbei, der auf einem
Tablett Champagnergläser herumtrug. Jeder der drei Herren nahm ein
Glas. «Eine bewundernswerte Leistung.»
Der griechische Botschafter hob den
Champagnerkelch. «Auf Ihr Wohl, mein lieber Mikali, und auf Ihr
Genie. Griechenland ist stolz auf Sie!»
Als Mikali gleichfalls sein Glas hob, trank ihm Jean Paul Deville im Spiegel zu.
General Georgios Stephanakis trug sich am
Nachmittag des 2. November im Westberliner Hilton-Hotel ein. Er bekam
eine Suite auf der vierten Etage, mit angrenzenden Zimmern für
seine Begleitung. Außerdem hatte die Direktion, als eine Geste
der Höflichkeit, dafür gesorgt, daß sowohl der
Zimmerkellner wie das Zimmermädchen Griechen waren.
Das Mädchen hieß Zia
Boudakis, war neunzehn, klein, dunkelhaarig und hatte einen
olivfarbenen Teint. In ein paar Jahren würde sie zur Fülle
neigen, aber noch war sie schlank und zierlich, und als sie an jenem
Abend mit Hilfe ihres Hauptschlüssels die Suite betrat, sah sie
ausgesprochen reizend aus mit ihren schwarzen Strümpfen und dem
kurzen schwarzen Zofenkleidchen.
Der General würde um acht Uhr
zurückkommen, hatte man ihr gesagt, also beeilte sie sich, die
Betten aufzuschlagen und die Suite in Ordnung zu bringen. Sie faltete
die Überwürfe zusammen und wandte sich zum Einbauschrank, um
sie dort zu verstauen. Sie zog die Schiebetür zur Seite.
Der Mann, der im Schrank stand, trug
schwarze Hosen und einen schwarzen Pullover, über Kopf und Gesicht
hatte er eine Mütze gezogen, die nur Augen, Nase und Lippen
freiließ. Das Mädchen bemerkte, daß er ein Seil um die
Taille geschlungen hatte und daß die Hand, die ihre Kehle
umklammerte, um ihren Schrei zu ersticken, einen Handschuh trug. Und
dann war sie zusammen mit ihm in dem dunklen Schrank, die Tür
glitt so weit zu, daß nur ein ganz schmaler Spalt offen blieb,
durch den man ins Zimmer sehen konnte.
Er lockerte seinen Griff, und in
ihrem Schock sprach sie instinktiv griechisch. «Bitte, töten
Sie mich nicht!»
«He, ein
Griechenmädel», sagte er zu ihrem größten
Erstaunen in ihrer Muttersprache. Sie erkannte den besonderen Akzent
sofort.
«Oh, mein Gott, Sie sind der Mann aus Kreta.»
«Ganz richtig, mein Herz.» Er drehte
sie herum, ließ die Hand leicht auf ihrer Kehle ruhen. «Es
wird dir nichts geschehen, wenn du vernünftig bist. Wenn nicht,
wenn du versuchen solltest, ihn auf irgendeine Art zu warnen, dann
töte ich dich.»
«Ja», jammerte sie.
«Gut. Wann kommt er?»
«Um acht Uhr.»
Er blickte auf seine Armbanduhr.
«Dann müssen wir noch zwanzig Minuten warten. Wir
können es uns getrost bequem machen, nicht wahr?»
Er lehnte sich an die Wand und hielt
sie fest an sich gepreßt. Sie fürchtete sich jetzt nicht
mehr, zumindest nicht mehr so sehr wie anfangs, vielmehr empfand sie
eine seltsame Erregung, als er so nah bei ihr stand und mit einem Arm
ihre Taille umschlang. Sie schmiegte sich noch ein wenig mehr an ihn,
zögernd zuerst, dann unverhohlen, als er lachte und ihren Nacken
küßte.
Noch nie war sie so erregt gewesen
wie jetzt hier im Dunkeln; sie wandte sich ihm zu, als er sie an die
Wand drängte und das dunkle Kleidchen hochschob.
Danach band er ihr sehr behutsam die Handgelenke hinter dem Rücken zusammen und hauchte ihr ins Ohr:
«So, du hast gehabt, was du wolltest, und jetzt sei ein braves Mädchen und sei still.»
Er band ihr, wiederum mit
erstaunlicher Behutsamkeit, ein Taschentuc h als Knebel vor den Mund,
dann wartete er. Man hörte, wie ein Schlüssel im Schloß
gedreht wurde, die Tür ging auf, und General Stephanakis wurde von
zwei Männern seines Gefolges ins Zimmer geleitet.
Alle trugen Uniform. Der General
wandte sich um und sagte: «Ich werde duschen und mich umkleiden.
Kommen Sie in fünfundvierzig Minuten wieder. Wir essen
hier.»
Die Männer salutierten, gingen hinaus, und der
General schloß die Tür. Er warf die Mütze aufs Bett und
fing an, den Waffenrock aufzuknöpfen. Hinter ihm glitt die
Tür des Wandschranks zur Seite und Mikali trat heraus. In der
Rechten hielt er eine Pistole mit Schalldämpfer. Stephanakis
starrte ihn entgeistert an, und Mikali zog den Gesichtsschutz hoch.
«Oh, mein Gott», sagte der General. «Sie – Sie sind der Mann aus Kreta!»
«Willkommen in Berlin», sagte Mikali und erschoß ihn.
Er knipste alle Lampen aus, zog den
Gesichtsschutz wieder über, öffnete dann das Fenster und
entrollte das Seil, das er um die Taille geschlungen hatte. Sekunden
später schwebte er im Dunkeln hinunter auf das vier Stockwerke
tiefer liegende Garagendach. Es war kein besonderes Kunststück.
Beim Training in Gasfa an der marokkanischen Küste mußte
jeder Fallschirmjäger der Legion sich über eine dreißig
Meter hohe Klippe abseilen können, wenn er die Ausbildung bestehen
wollte.
Sobald er sicher auf dem Dach
gelandet war, zog er das Seil nach, rollte es sich rasch wieder um den
Leib und sprang dann vom Rand des Garagendachs auf den Boden.
Bei den Mülltonnen in der
Hintergasse blieb er stehen und nahm den Kopfschutz ab, den er
säuberlich faltete und in die Tasche steckte. Dann holte er hinter
den Mülltonnen eine gewöhnliche Tragtüte aus Papier
hervor, entnahm ihr einen billigen dunklen Regenmantel und zog ihn an.
Wenig später ging er schnellen
Schritts durch die belebten Straßen zurück in sein Hotel. Um
halb zehn Uhr abends traf er in der Berliner Universität ein, wo
er vor überfülltem Auditorium Bach und Beethoven spielte.
Am nächsten Morgen erhielt Jean Paul Deville ein Telegramm aus Berlin. Es lautete kurz und bündig: Dank für Mizwa. Zu Gegenleistung gern bereit.
Das Telegramm trug keine Unterschrift.
2
Der britische Geheimdienst, genauer
als MI 5 bekannt, existiert offiziell überhaupt nicht, ist nicht
einmal gesetzlich verankert und residiert dennoch in einem
weißroten Ziegelbau im Londoner West End, unweit des Hilton
Hotel.
Die Männer, die dort arbeiten, haben keine Gesichter, keine
Namen und widmen ihre Zeit und ihre
Fähigkeiten der pausenlosen Beobachtung ausländischer
Agententätigkeit in Großbritannien und neuerdings einem
Problem, das besorgniserregende Ausmaße angenommen hat: der
europäischen Terroristenszene.
Doch MI 5 muß sich darauf
beschränken, Nachforschungen anzustellen. Die Organisation hat
keine Befugnis, jemanden festzunehmen. Wie weit sie überhaupt
tätig werden kann, hängt letztlich von der Mitwirkung der
Spezialabteilung der Londoner Polizei in Scotland Yard ab. Sie nimmt
die Verhaftungen vor, so daß die namenlosen Männer von MI 5
niemals vor Gericht in Erscheinung treten müssen.
Daraus erklärt sich, warum am
Abend des Attentats auf Maxwell Cohen der Superintendent Harry Baker
kurz nach neun Uhr vor dem Leichenschauhaus an der Cromwell Road aus
dem Polizei-Jaguar stieg und die Stufen hinaufeilte.
Baker stammte aus Yorkshire, und er war seit
nunmehr fünfundzwanzig Jahren Polizist. Eine lange Zeit für
eine unpopuläre Tätigkeit und eine Arbeit im
Drei-Schichten-Dienst, bei der einem nur jedes siebente Wochenende
für Heim und Familie zur freien Verfügung stand. Ein
Mißstand, über den seine Frau längst kein Wort mehr
verlor; aus dem einfachen Grund, weil sie schon vor fünf Jahren
ihre Koffer gepackt und die gemeinsame Wohnung verlassen hatte.
Baker hatte graues Haar und eine
häßlich gebrochene Nase, ein Andenken an seine Rugby-Zeit.
Er sah aus wie ein gutmütiger Boxer, doch sein Äußeres
täuschte, denn dahinter verbarg sich eines der fähigsten
Gehirne der Spezialabteilung.
Sein Assistent, Inspektor George
Stewart, wartete rauchend in der Vorhalle. Als er dann Baker sah,
ließ er die Zigarette zu Boden fallen, trat sie aus und ging auf
den Superintendent zu.
Baker sagte: «All right – berichten Sie.»
«Mädchen, vierzehn Jahre
alt – Megan Helen Morgan.» Er hatte inzwischen sein
Notizbuch aufgeschlagen. «Mutter: Mrs. Helen Wood. Verheiratet
mit Reverend Francis Wood, Pfarrer von Steeple Durham in Essex. Ich
rief ihn vor einer halben Stunde an. Sie sind schon unterwegs
hierher.»
«Moment mal», sagte Baker, «sonst verlier ich den Faden.»
«Die Zimmerwirtin des Mädchens ist dort drinnen, Sir. Eine Mrs. Carter.»
Er öffnete eine Tür mit der Aufschrift Warteraum, und
Baker ging hinein. Die Frau, die drinnen am Fenster saß, war
gedrungen, in mittleren Jahren und trug einen Regenmantel. Ihr Gesicht
war fleckig und verschwollen vom Weinen.
«Das ist Superintendent Baker.
Er bearbeitet den Fall, Mrs. Carter», sagte Stewart.
«Würden Sie ihm bitte nochmals sagen, was Sie mir bereits
mitgeteilt haben?»
Die Frau sagte leise: «Megan wohnte bei mir. Ihre Mutter lebt nämlich in Essex.»
«Ja, das wissen wir.»
«Sie besuchte die
Italia-Conte-Schule. Kennen Sie die? Gesang, Tanz, Schauspiel und
dergleichen. Sie wollte zur Bühne. Deshalb war sie hier in London
und hat bei mir gewohnt», erklärte sie geduldig zum
zweitenmal.
«Und heute abend?»
«Den ganzen Nachmittag haben sie für ein Musical geprobt,
das sie aufführen wollen. Ich hab ihr
gesagt, sie soll vorsichtig sein.» Die Frau wandte sich ab und
starrte mit leerem Blick aus dem Fenster. «Ich war nie ruhig,
wenn sie bei Dunkelheit noch mit dem Fahrrad unterwegs war.»
Dann schwieg sie. Baker legte ihr die Hand auf die Schulter, dann nickte er Stewart zu, und sie gingen hinaus.
«Ist Doktor Evans schon da?»
«Unterwegs, Sir. Möchten Sie die Tote sehen?»
«Nein, diesen Anblick spare ich
mir für später auf. Ich habe selber zwei Mädels, wie Sie
wissen. Ohnehin kann Evans mit der Autopsie erst anfangen, nachdem die
Mutter das Mädchen einwandfrei identifiziert hat.»
«Gibt es was Neues über Mr. Cohen, Sir?»
«Lebt noch, aber mit einer
Kugel im Gehirn; mehr läßt sich nicht sagen. Die Operation
ist noch im Gange.»
«Werden Sie hier auf Mrs. Wood warten?»
«Ja, das habe ich vor. Im Amt
weiß man, wo ich bin. Sehen Sie zu, ob Sie Tee für uns
auftreiben können.»
Stewart ging. Baker zündete sich
eine Zigarette an und blickte durch die Glastüren nach
draußen. Er fühlte sich so niedergeschlagen wie seit Jahren
nicht. Unter anderem fiel der Spezialabteilung stets die Aufgabe zu,
für den Schutz von Staatsbesuchen und ähnlichen VIPs zu
sorgen. Die Abteilung war mit Recht stolz darauf, daß sie dabei
niemals eine Schlappe hatte einstecken müssen.
Aber diese Sache mit Max Cohen heute
abend – das war etwas völlig anderes. Internationaler
Terrorismus der übelsten Sorte, hier, in London.
Stewart erschien mit zwei Pappbechern voll Tee. «Kopf hoch, Sir, wir kriegen den Kerl.»
«Nicht, wenn's der ist, den ich in Verdacht habe», erwiderte Harry Baker.
Im gleichen Augenblick schritt John
Mikali abermals aufs Podium, um eine weitere stehende Ovation des
Publikums entgegenzunehmen. Dann ging er durch den Korridor ab, den die
Künstler als den «Laufgang» bezeichneten. Der
Inspizient wartete bereits und reichte ihm ein Handtuch. Mikali wischte
sich den Schweiß von der Stirn.
«So, das reicht», sagte
er. «Wer jetzt noch nicht genug hat, muß sich eine Karte
für Dienstag kaufen.»
Seine Stimme klang gewinnend, sie
besaß den aparten Tonfall, den manche Leute als gutes Bostoner
Amerikanisch bezeichnen würden, und paßte zu dem
lässigen Charme, den er beliebig im Handumdrehen entfalten konnte.
«Das haben die meisten bereits
getan, Mister Mikali.» Der Inspizient lächelte. «Der
Champagner steht in Ihrer Garderobe bereit. Lassen Sie Besucher
zu?»
«Niemand unter einundzwanzig,
George.» Mikali lächelte. «Ich habe eine sehr junge
Woche hinter mir.»
Im Grünen Zimmer legte er Frack
und Hemd ab und schlüpfte in einen Hausmantel. Dann schaltete er
das Transistorradio auf dem Toilettentisch ein und griff nach der
Champagnerflasche. Er gab ein wenig zerstoßenes Eis ins Glas und
füllte es.
Als er den ersten erlesenen eiskalten
Schluck kostete, wurde die Radiomusik durch eine Meldung unterbrochen.
Mister Max Cohen, hieß es, der am frühen Abend von einem
unbekannten Attentäter angeschossen wurde, sei erfolgreich
operiert worden. Er befinde sich jetzt unter schwerer Polizeibewachung
auf der Intensivstation. Es bestehe gute Aussicht auf eine völlige
Genesung.
Eine ausländische Nachrichtenagentur meldete,
zu dem Überfall habe sich die Gruppe Schwarzer September der
AlFatah-Bewegung bekannt, die 1971 zur Ausrottung aller Feinde der
Palästinensischen Revolution gegründet worden war. Als Motiv
habe die Gruppe Maxwell Cohens massive Unterstützung des Zionismus
angegeben.
Mikali schloß sekundenlang die
Augen, sah hinter den geschlossenen Lidern den brennenden Lastwagen,
die vier Fellachen von dort auf sich zuhalten, sah das Grinsen auf dem
Gesicht des Anführers, des Mannes mit dem Messer in der Hand. Und
dann wechselte das Bild: die Dunkelheit im Tunnel, aus der das
weiße, entsetzte Gesicht des Mädchens aufblitzte.
Er öffnete die Augen, stellte
das Radio ab und trank seinem Spiegelbild zu. «Weniger als
Perfektion, alter Freund. Weniger als Perfektion, und das reicht ganz
und gar nicht.»
Es klopfte. Als er die Tür
öffnete, sah er, daß sich im Korridor eine Menge junger
Frauen drängten, zumeist Studentinnen, wie die
Universitäts-Halstücher zeigten.
«Dürfen wir hereinkommen, Mister Mikali?»
«Warum nicht.» John
Mikali lächelte, der saloppe Charme schien unerschütterlich.
«Das Leben ist am schönsten beim großen Mikali.
Hereinspaziert in die Höhle des Löwen!»
Baker stand in der Vorhalle des
Leichenschauhauses und begrüßte Francis Wood. Er sah
eigentlich nicht aus wie ein Geistlicher. Baker schätzte ihn auf
etwa sechzig Jahre; ein großer freundlicher Mann mit ergrauendem
Bart, der das Stutzen bitter nötig hatte. Er trug einen dunklen
Mantel und einen hochgeschlossenen blauen Pullover.
«Ihre Frau, Sir?» Baker
nickte hinüber zur Tür, wo Helen Wood mit Mrs. Carter sprach.
«Sie trägt es bemerkenswert gefaßt.»
«Eine äußerst
charakterfeste Frau, Superintendent. Sie malt, wissen Sie.
Hauptsächlich Aquarelle. Unter ihrem früheren Namen war sie
recht bekannt.»
«Morgan, Sir? Ja, ich habe mich schon gefragt … Mrs. Wood
war wohl verwitwet?»
«Nein, Superintendent –
geschieden.» Francis Wood lächelte ein wenig. «Das
dürfte Sie überraschen, wenn Sie die Einstellung der Kirche
von England kennen. Die Erklärung ist aber ganz einfach. Um eine
altmodische Redewendung zu gebrauchen, ich verfüge über
eigene Mittel. Ich kann es mir leisten, aus der Reihe zu tanzen. Gleich
nachdem wir heirateten, hatte ich ein paar Jahre lang keine Anstellung,
dann schrieb mir mein jetziger Bischof wegen Steeple Durham. Nicht
gerade der Nabel der Welt, aber die Leute dort waren schon seit sechs
Jahren ohne Pfarrer und wollten mit mir vorliebnehmen. Und mein Bischof
ist, wenn ich das noch bemerken darf, ein Mann, der für seine
liberalen Ansichten bekannt ist.»
«Und der Vater des
Mädchens? Wo ist er zu erreichen? Wir müssen ihn so schnell
wie möglich benachrichtigen.»
Ehe Francis Wood antworten konnte, hatte Mrs. Carter sich
verabschiedet, und seine Frau kam auf die beiden
Männer zu. Sie war, wie Baker von Stewart erfahren hatte,
siebenunddreißig, sah jedoch zehn Jahre jünger aus. Das im
Nacken zusammengebundene aschblonde Haar war straff aus einem
ungewöhnlich schönen Gesicht gebürstet, und noch nie
hatte Baker so völlig ruhige Augen gesehen. Mrs. Wood trug einen
Militär-Trenchcoat, auf dessen Schulterklappen einst die drei
Sterne eines Captain gesteckt haben mußten, wie das scharfe
Polizistenauge noch an den Einstichlöchern erkennen konnte.
«Ich bedauere sehr, Ihnen das
zumuten zu müssen, Mrs. Wood, aber es ist Zeit, die
Identifizierung vorzunehmen.»
«Würden Sie bitte vorausgehen, Superintendent», sagte sie mit leiser, süßer Stimme.
Doktor Evans, der Gerichtsmediziner, wartete im
Leichensaal; die beiden Gehilfen trugen bereits weiße Overalls
und Stiefel und lange hellgrüne Gummihandschuhe.
Der Saal wurde durch Neonlampen so
hell erleuchtet, daß die Augen schmerzten. Die Einrichtung
bestand aus einem halben Dutzend Obduktionstischen aus rostfreiem
Stahl.
Das Mädchen lag auf dem
Rücken auf dem ersten Tisch unter einem Laken, der Kopf ruhte auf
einer hölzernen Stütze. Helen Wood und ihr Mann traten an den
Tisch, Baker und Stewart folgten ihnen.
Baker sagte: «Eine schlimme Sache für Sie, Mrs. Wood, aber es muß sein.»
«Bitte», sagte sie.
Er nickte Evans zu, und der Arzt zog
das Laken ein wenig zurück, so daß nur der Kopf sichtbar
wurde. Die Augen des Mädchens waren geschlossen, das Gesicht
unversehrt, doch der Kopf wurde von einer weißen Gummikapuze
umschlossen.
«Ja», flüsterte
Helen Wood. «Das ist Megan.» Sie sagte es ruhig, ohne
merkbare Erregung.
Evans deckte das Gesicht wieder zu, und Baker sagte: «So, dann können wir gehen.»
«Was passiert jetzt?» flüsterte Helen Wood. «Mit Megan?»
Die Antwort kam von Francis Wood.
«Man muß eine Autopsie vornehmen, Liebes. Das Gesetz
verlangt es. Damit bei der gerichtlichen Leichenschau die Todesursache
amtlich bestätigt werden kann.»
«Ich möchte bleiben», sagte sie.
Baker reagierte instinktiv genau
richtig. «Gut, bleiben Sie hier, wenn Sie unbedingt wollen, aber
schon nach fünf Minuten werden Sie sich vorkommen wie in einem
Metzgerladen. Ich glaube nicht, daß Sie Ihre Tochter so in
Erinnerung behalten möchten.»
Es war brutal, es war direkt, und es tat seine
Wirkung. Sie brach jäh zusammen, fiel halb ohnmächtig gegen
Wood, und Stewart eilte hin, um sie zu stützen. Gemeinsam
führten die beiden Männer sie hinaus.
Baker wandte sich Evans zu und sah
nur Mitleid auf dessen Gesicht. «Ja, ich weiß. Doc. Ein
Scheißberuf.»
Er ging. Evans drehte sich um und
nickte. Einer der Gehilfen stellte ein Bandgerät an, der andere
entfernte das Laken vom Körper des toten Mädchens.
Evans begann mit monotoner ungerührter Stimme zu
sprechen. «Zeit, dreiundzwanzig Uhr
fünfzehn. Einundzwanzigster Juli neunzehnhundertzweiundsiebzig.
Pathologe vom Dienst, Mervyn Evans, Dozent für Gerichtsmedizin an
der Medizinischen Fakultät der Universität London. Leiche
weiblich, Alter vierzehn Jahre einen Monat. Megan Helen Morgan.
Eintritt des Todes etwa neunzehn Uhr fünfzehn heutigen Datums, als
Folge eines Verkehrsunfalls mit Fahrerflucht.»
Wieder nickte er, und einer der
Gehilfen zog die Gummikappe vom Kopf der Toten, worauf die Spuren einer
mehrfachen Schädelfraktur deutlich sic htbar wurden.
Doktor Evans griff nach einem
Skalpell, und während er mit unverändert präziser Stimme
jede einzelne seiner Bewegungen zu Protokoll gab, führte er die
Klinge rings um den Schädel.
Francis Wood kam durch die Pendeltüren wieder in die Vorhalle, wo Baker und Stewart auf ihn warteten.
«Es wird ihr bald bessergehen. Sie ist jetzt im Auto.»
«Was werden Sie tun, Sir? In einem Hotel übernachten?»
«Nein, sie möchte nach Hause.»
«Schwierige Fahrt um diese Nachtzeit, auf den Landstraßen von Essex.»
«Ich war anno fünfzig Feldgeistlicher
bei der Royal Artillery in Korea, als im Winter eine Million Chinesen
aus der Mandschurei einstürmten und uns wieder nach Süden
trieben. Ich fuhr einen Bedford-Laster durch tiefen Schnee, vierhundert
Meilen weit, und unsere Verfolger waren nie sehr weit hinter uns.
Wissen Sie, wir hatten damals nicht genügend Fahrer.»
«Ein harter Weg zum LKW-Führerschein», kommentierte Baker.
«Es gibt Erfahrungen,
Superintendent – und dies ist einer der interessanten Aspekte des
Lebens –, d ie so schrecklich sind, daß alles, was danach
kommt, einen nicht mehr erschüttern kann.»
Sie redeten jetzt nur, um
überhaupt etwas zu sagen, und sie wußten es beide. Bis Baker
wieder zur Sache kam. «Eine Bitte noch, Sir. Meine vorgesetzte
Dienststelle hat mich angerufen. Offenbar soll aus
Sicherheitsgründen nichts über eine direkte Verbindung
zwischen dem Tod Ihrer Tochter und dem Anschlag auf Cohen an die
Öffentlichkeit dringen. Ich hoffe, daß Sie und Mrs. Wood
für diese Maßnahme Verständnis aufbringen
können.»
«Ehrlich gesagt,
Superintendent, nach meiner Überzeugung wünscht meine Frau
sich nichts sehnlicher, als daß diese entsetzliche Sache so
diskret wie irgend möglich gehandhabt wird.»
Er wandte sich zur Tür, dann
machte er nochmals halt. «Aber wir haben noch etwas vergessen.
Sie fragten mich, wer Megans Vater sei.»
«Stimmt, Sir. Wo können wir ihn erreichen?» Baker nickte, und Stewart zückte sein Notizbuch.
«Dürfte ziemlich schwierig sein. Er ist zur Zeit nicht im Lande.»
«Im Ausland, Sir?»
«Das kommt ganz auf Ihren Standpunkt an,
Superintendent. Er hält sich im Moment in Belfast auf. Colonel Asa
Morgan, Fallschirmjäger-Regiment. Die zuständige Abteilung im
Verteidigungsministerium kann Ihnen vermutlich helfen, Verbindung mit
ihm aufzunehmen, aber das alles wissen Sie ja weit besser als
ich.»
«Ja, Sir, überlassen Sie das uns.»
«Dann also, gute Nacht.»
Die Tür schwang hinter ihm zu.
Stewart sagte: «Colonel Asa Morgan,
Fallschirmjäger-Regiment. Darf ich mal was sagen, Sir? Ein solcher
Mann dürfte nicht allzu angenehm berührt sein, wenn er unsere
Mitteilung erhält.»
«Das ist so eine Untertreibung dieses mistigen Jahrhunderts», erwiderte Baker heftig.
«Kennen Sie ihn, Sir?»
«Ja, Inspektor. Das kann man wohl sagen.»
Baker ging schnell zur Portierloge,
rief Scotland Yard an und bat um eine Verbindung mit Joe Harvey, dem
Chef der Spezialabteilung, der sich, wie er wußte, bereits
für die Nacht auf einem Feldbett in seinem Büro installiert
hatte.
«Hier Harry Baker, Sir»,
sagte er, als Harvey sich meldete. «Ich bin im Leichenschauhaus.
Das Mädchen, das unser Freund auf seiner Flucht im
Paddington-Tunnel überfahren hat – die Mutter ist soeben
wieder weggegangen, nachdem sie ihre Tochter identifiziert hat. Eine
Mrs. Helen Wood.»
«Ich dachte, die Kleine heiße Morgan?»
«Die Mutter ist geschieden,
Sir. Ihr zweiter Ehemann ist Pfarrer, in Steeple Durham.» Baker
zögerte. «Tut mir leid, Sir, was jetzt kommt, werden Sie
nicht gern hören. Der Vater …»
Wieder zögerte er. Harvey sagte: «Lassen Sie's schon raus, Harry, Herrgottnochma l.»
«Ist Asa Morgan.»
Eine Weile hörte man gar nichts,
dann sagte Harvey: «Heiliger Gott im Himmel, das hat uns gerade
noch gefehlt.»
«Ich weiß nur, daß er im Sultanat Oman beim Special Air
Service war. Wissen Sie, was für eine Truppe das ist, George?»
Baker stand am Fenster seines Büros. Es war kurz nach Mitternacht, und der Regen trommelte gegen die Scheiben.
Stewart reichte ihm eine Tasse Tee. «Keine Ahnung, Sir.»
«Im Militärjargon
bezeichnet man sie als Elite-Einheit. Die Army spricht so wenig wie
möglich vom Special Air Service. Jeder aktive Soldat kann sich
freiwillig melden. Verpflichtung auf drei Jahre ist die Regel, soviel
ich weiß.»
«Und was tun sie genau?»
«Alles, was man keiner anderen
Einheit zumuten könnte. Fast eine Art SS in der British Army. Zur
Zeit sind sie in Oman, an den Sultan ausgeliehen, und machen seinen
marxistischen Rebellen in den Bergen die Hölle heiß. In
Malaysia waren sie auch, während der Partisanenaufstände.
Damals habe ich sie kennengelernt.»
«Ich wußte gar nicht, daß Sie da unten waren, Sir.»
«Zur Verstärkung
abgestellt. Sie kamen nicht so recht zu Rande mit den chinesischen
Kommunisten im Untergrund und fanden, daß vielleicht ein paar
echte Polypen helfen könnten. Dort lernte ich Morgan
kennen.»
«Und was ist mit ihm, Sir?» fragte Stewart. «Was ist an ihm so Besonderes?«
Baker stopfte umständlich seine
Pfeife. «Er muß jetzt verdammt nah an fünfzig sein,
unser Asa. Sohn eines Waliser Bergmanns aus dem Rhondda-Bezirk. Ich
weiß nicht, was ihm im Weltkrieg alles passiert ist, nur,
daß er einer von den armen Hunden war, die über Arnheim
abgesprungen sind. Er war damals Sergeant. Kam später als Leutnant
zum Stab.»
«Und danach?»
«Palästina. Seine erste Kostprobe von
Stadtguerillas, wie er selber gern sagte. Danach wurde er zu den
Ulster-Rifles abgestellt und ging mit ihnen nach Korea. Von den
Chinesen geschnappt. Hatten ihn ein Jahr lang, diese Hunde. Ich
weiß, daß einige Leute allen Ernstes glaubten, der ganze
Gehirnwäschekram, den sie mit unseren Jungens anstellten, sei ihm
wirklich in den Kopf gestiegen.»
«Wie meinen Sie das, Sir?»
«Als er zurückkam, schrieb er eine Abhandlung über, wie er
es nannte, ein neues Konzept revolutionärer
Kriegführung. Hat dauernd Mao Tsetung zitiert, als war's die
Bibel. Ich vermute, daß der Generalstab zu dem Schluß kam,
er sei entweder Kommunist geworden oder wisse, wovon er spreche, also
schickten sie ihn nach Malaysia, wo ich ihn, wie gesagt, kennenlernte.
Wir haben eine ganze Weile zusammengearbeitet.»
«Erfolgreich?»
«Wir haben schließlich
gewonnen, oder? Der einzige Kommunistenaufstand seit dem Zweiten
Weltkrieg, der erfolgreich niedergeschlagen wurde, war der in
Malaysia.»
«Und Morgan?»
«Ich sah ihn für einige
Zeit in Nikosia wieder, während der Zypern-Krise, als ich für
die gleiche Aufgabe dorthin abkommandiert wurde. Dabei fällt mir
ein, er hatte kurz vor seiner Abreise aus England geheiratet, ja, das
Alter des Mädchens würde also stimmen. Ich erinnere mich,
gehört zu haben, daß er 1967 in Aden war, weil er einen
Verdienstorden bekam: er hat damals eine Abteilung der Argyle and
Sutherland Highlanders herausgehauen, die im Krater-Distrikt in einen
Hinterhalt geraten waren.»
«Muß demnach ein toller Hecht sein.»
«O ja, so könnte man
sagen. Einer der alten Kriegermönche. Die Army ist sein ein und
alles. Familie und Heimat in einem. Es wundert mich nicht, daß
seine Frau ihn verlassen hat.»
«Was er wohl tun wird, Sir, wenn er erfährt, was seiner
Tochter zugestoßen ist?»
«Das weiß Gott allein, George, aber ich kann mir's ungefähr vorstellen.»
Der Wind rüttelte am Fenster, und draußen fegte der Regen von der Themse her über die Hausdächer.
3
Aber auch in Belfast hatte sich an
diesem Tag Ungewöhnliches ereignet. An diesem Tag, der als
Blutiger Freitag in die Geschichte des Krieges in Ulster eingehen
sollte.
Die erste Bombe explodierte um
vierzehn Uhr zehn an der Bushaltestelle von Smithfield, die letzte im
Einkaufszentrum an der Cavehill Road um fünfzehn Uhr
fünfzehn.
Zweiundzwanzig Bomben insgesamt, an
allen Ecken und Enden der Stadt, vorwiegend an Stellen, wo mit
größeren Menschenansammlungen zu rechnen war. Ob
Protestanten oder Katholiken war egal. Am Ende des Tages zählte
man neun Tote und einhundertdreißig Verletzte.
Um Mitternacht war noch immer ein
starkes Militäraufgebot unterwegs. Nicht weniger als zwölf
der an diesem Tag hochgegangenen Bomben waren in der Gegend der New
Lodge Road explodiert, dem Einsatzbereich des 40. Kommandos der Royal
Marines.
In einer mit Schutt und Glassplittern
übersäten Seitenstraße der New Lodge Road kauerte ein
Dutzend Marinesoldaten an der Mauer gegenüber einem Flammenherd,
der einst Cohan's Select Bar gewesen war.
Zwei Offiziere standen gelassen in der Mitte der Fahrbahn und
prüften die Lage. Der eine war Leutnant der Marinetruppe. Der
andere trug das rote Barett der Fallschirmjäger und einen
Tarnanzug mit offenem Halskragen, keine sichtbaren Rangabzeichen und
keine Fliegerjacke.
Das dunkle, gezeichnete Gesicht verriet, daß
er die Welt, in der wir leben, allzugut kennengelernt und jetzt nur
noch Verachtung für sie übrig hatte. Ein kleiner dunkler Mann
mit gutgebauten Schultern, erfüllt von rastloser Vitalität,
die durch das Bambusstöckchen, mit dem er sich gegen das rechte
Knie schlug, noch betont wurde.
«Wer ist der Para, dieser
Fallschirmjäger dort drüben?» flüsterte einer der
Marinesoldaten seinem Nebenmann zu.
«Der Verantwortliche für
die Spezialabteilung beim Stab – Colonel Morgan. Scharfer Hund,
wie man so hört», antwortete der Gefragte.
Hinter der Brüstung des
Flachdachs eines siebzig Meter entfernten Häuserblocks kauerten
zwei Männer. Der eine war Liam O'Hagan, derzeit höchster
Nachrichtenoffizier der Provisional IRA in Ulster. Er beobachtete die
Vorgänge in der Umgebung von Cohan's Bar durch ein
Zeiss-Nachtfernrohr.
Der junge Mann neben ihm trug ein
Lee-Enfield-Gewehr des Standarttyps 0.303, wie es sowohl die Army wie
die IRAScharfschützen verwenden. Die Waffe war mit einem
InfrarotNachtsichtgerät versehen, so daß der Schütze
sein Ziel auch im Dunkeln ausmachen konnte.
Er stützte jetzt den Gewehrlauf
auf die Brüstung und blickte durch das Zielfernrohr. «Zuerst
putz ich den verdammten Para weg.»
«Nein, das wirst du nicht tun», erwiderte O'Hagan leise.
«Und warum nicht?»
«Weil ich es dir sage.»
Drunten fegte ein Landrover um die Ecke, ein zweiter folgte
dicht dahinter. Alle entbehrlichen Teile waren
abmontiert, so daß die Fahrer und die drei Soldaten, die hinten
in den Fahrzeugen kauerten, völlig schutzlos waren. Lauter
Fallschirmjäger, tüchtige, hart aussehende junge
Männer mit roten Baretts und Tarnjacken, die ihre SterlingMPs im Anschlag hielten.
«Jetzt sieh dir doch das mal an! Betteln
direkt darum, daß man sie abknallt, diese blöden Hunde. Sag
mir bloß nicht, daß ich auch keinem von denen einen
Schuß verpassen darf?»
«Es würde dein letzter
sein», verwies ihn O'Hagan. «Die wissen genau, was sie tun.
Sie haben diese Expositionstechnik in Aden zur Perfektion entwickelt.
Ohne hinderliche Panzerung können sie das Feuer umgehend
erwidern.»
«Verdammte SS», sagte der Junge.
O'Hagan kicherte.
«Müßtest du mal zu einem Mann sagen, der seinerzeit im
Dienst der Krone gestanden hat.»
Drunten kletterte Asa Morgan auf den Beifahrersitz des ersten Landrover, und die beiden Wagen fuhren weg.
Der Marineleutnant rief einen Befehl,
und die Abteilung stand auf und marschierte ab. Die Straße lag
jetzt schweigend da, nur aus den noch immer hellauf lodernden Flammen
in Cohan's Bar hörte man gelegentlich den Knall einer Flasche, die
von der Hitze erfaßt wurde.
«Heilige Mutter Gottes, der
ganze gute Whiskey geht zum Teufel», sagte Liam O'Hagan.
«Aber sei's drum, der Tag wird kommen, so jedenfalls behaupten
meine sozialdemokratischen Kameraden, an dem nicht nur Irland wieder
frei und vereint sein wird, sondern auch im Haus eines jeden
anständigen Iren der Whiskey aus den Wasserhähnen
rinnt.»
Er grinste und versetzte dem Jungen
einen Schlag auf die Schulter. «Und jetzt, Seumas, mein Junge,
sollten wir uns schleunigst von hier verziehen.»
Morgan stand neben dem Schreibtisch im Büro des Kommandeurs im Grand Central Hotel an
der Royal Avenue. Das Hotel, in dem 500 Soldaten einquartiert waren,
diente als Einsatzzentrale für das in der Innenstadt operierende
Regiment.
Morgan starrte mit ausdruckslosem
Gesicht auf das Fernschreiben in seiner Hand, und der junge
Stabsoffizier, der es vom Hauptquartier gebracht hatte, scharrte
verlegen mit den Füßen.
«Der Herr General hat mir aufgetragen, sein aufrichtiges
Beileid zu übermitteln. Eine schreckliche
Sache. Er hat Genehmigung erteilt, daß Sie mit der ersten
verfügbaren Maschine nach London fliegen.»
Morgan runzelte die Stirn. «Das ist sehr freundlich. Aber was soll aus Operation Motorman werden?»
«Man wird Ihre Pflichten jemand
anderem übertragen, Colonel. Befehl aus dem
Verteidigungsministerium.»
«Dann mache ich gleich mein Gepäck fertig.»
Irgendwo in der Ferne hörte man
das dumpfe Krachen einer Explosion und das Rattern von
Maschinengewehrfeuer. Der junge Offizier fuhr hoch.
«Kein Grund zur
Aufregung», belehrte ihn Asa Morgan. «Nur die
nächtliche Geräuschkulisse von Belfast», und er
verließ das Büro.
Steeple Durha m liegt in Essex, nicht
weit vom Fluß Blackwater entfernt. Marschen, Buchten, hohes Gras,
das in ständiger Bewegung die Farbe wechselt, wie von unsichtbarer
Hand gebürstet, überall Wassergurgeln. Eine unwirtliche
Gegend, die vorwiegend von Vögeln bevölkert ist. Von
Wasserläufern, Brachvögeln und Wildgänsen, die aus
Sibirien in den Westen ziehen, um in den Brüchen zu
überwintern.
Das Dorf war eine winzige verstreute
Siedlung sächsischen Ursprungs, und zumindest die Krypta der
Kirche war ebenso alt, der Rest stammte aus der Normannenzeit.
Francis Wood arbeitete auf dem
Friedhof; mit einem alten Handmäher stutzte er das Gras zwischen
den Gräbern, als der silbergraue Sportwagen vor dem Tor hielt und
Asa Morgan ausstieg. Er trug eine Freizeithose, ein dunkelblaues
Polohemd und eine braune Fliegerjacke aus Leder.
«Hallo, Francis», sagte er.
Francis Wood warf einen Blick hinüber zu Morgans Carrera
Targa. «Immer noch den Porsche, wie ich sehe.»
«Irgendwie muß ich mein
Geld ja loswerden. Ich habe noch immer die Wohnung in Gresham Place.
Mit Tiefgarage. Sehr bequem.»
Raben flogen aus den Buchen über
ihren Köpfen auf und krächzten ärgerlich. Wood sagte:
«Es tut mir leid, Asa. Mehr, als ich jemals sagen
könnte.»
«Wann ist das Begräbnis?»
«Morgen nachmittag. Halb drei.»
«Werden Sie dabei amtieren?»
«Wenn von Ihrer Seite keine Einwände bestehen.»
«Unsinn, Francis. Wie trägt es Helen?»
«Sie ist bisher nicht
zusammengebrochen, wenn Sie das meinen. Falls Sie Helen aufsuchen
wollen, sie ist am Deich und malt. Ich möchte zu
größter Behutsamkeit raten.»
«Warum?»
«Man hat Ihnen doch gewiß die besonderen Umstände von Megans Tod mitgeteilt.»
«Sie wurde von einem Autofahrer getötet, der Fahrerflucht beging.»
«Es steckte noch einiges mehr dahinter, Asa.»
Morgan starrte ihn an. «Dann erzählen Sie mir bitte alles, was Sie wissen, Francis.»
Morgan folgte dem Weg durch das
Kirchhofgatter und um das graue steinerne Pfarrhaus mit dem Ziegeldach
herum, dann schlug er den Pfad ein, der am Deich entlang zur
Meeresbucht führte. Er sah sie schon von weitem an ihrer Staffelei
sitzen, in dem alten Militärtrenchcoat, den er ihr im Jahr ihrer
Eheschließung gekauft hatte.
Als sie ihn näher kommen hörte, warf sie einen Blick über die
Schulter, dann malte sie weiter. Er blieb eine
Weile schweigend hinter ihr stehen. Sie arbeitete an einem Aquarell,
natürlich, es war ihre bevorzugte Technik. Die Marschen und das
Meer und dahinter einen grauen regenschweren Himmel, wirklich ein sehr
schönes Bild.
«Du machst Fortschritte.»
«Hallo, Asa.»
Er ließ sich neben ihr auf
einer Grasbank nieder, rauchte, und sie malte weiter, ohne ihn ein
einzigesmal anzusehen.
«Wie war's in Belfast?»
«Ziemlich übel.»
«Das freut mich», sagte sie. «Ihr seid einander wert.»
Er erwiderte ruhig: «Ich dachte immer, diese Feststellung träfe besonders auf uns beide zu.»
«Nein, Asa, was immer ich in diesem Leben verdient haben mag, dich ganz bestimmt nicht.»
«Ich habe nie vorgegeben, etwas anderes zu sein, als ich bin.»
«In unserer Hochzeitsnacht sind
wir zusammen zu Bett gegangen, und am nächsten Morgen bin ich
neben einem Fremden aufgewacht. Sobald irgendwo ein mieser kleiner
Krieg ausbrach, hast du dich als erster freiwillig melden müssen.
Zypern, Borneo, Aden, Oman und nun dieser Schlachthofjenseits der
Irischen See.»