Prolog
Vlieland, 1989
H
et Niets,
so hat die junge Frau die gigantische Sandfläche, die sich hier im Westen der Insel erstreckt, bei sich immer genannt, das Nichts.
Hier gibt es keine Menschen, keine Häuser, keine Straßen, nur Sand, so weit das Auge reicht, eine sturmumtoste Wüste mitten im Meer. Und wie eine echte Wüste ist auch dies ein gefährlicher Ort. Ihr Vater, der niemals erfahren darf, was ihr zugestoßen ist, hat sie als Kind oft gewarnt. Da draußen gibt es Stellen mit Treibsand,
poesje, bei Springflut läuft das Wasser so hoch auf, dass die gesamte Ebene meterhoch überspült wird.
Er hat recht, es ist ein Ort zum Sterben. Und deshalb ist die junge Frau heute hergekommen.
Ihr Atem geht stoßweise, als sie von dem Dünenkamm hinabtaumelt, der die letzte Grenze zwischen dem bewohnten Land und dem Nichts markiert. Der Wind faucht in Böen über die Ebene, drückt den Strandhafer nieder und zerrt an ihrer Bluse, als wollte er sie mit sich hinaus aufs Meer reißen, dessen Schaumkronen weiß in der pechschwarzen Nacht leuchten. Eisige Regentropfen stechen ihr wie Tausende von feinen Nadeln ins Gesicht.
Sie blickt noch einmal rasch über die Schulter zur Insel zurück, als wolle sie sich versichern, dass ihr das, was sie hinter sich lässt, nicht folgt. Während sie vorwärtsstolpert, legt sie die Hand auf ihren gewölbten Leib. Die Tränen laufen ihr die Wangen hinab, und der salzige Geschmack vermischt sich mit dem der See und des Regens, der auf ihren blau angelaufenen Lippen liegt. Das Geräusch ihres Schluchzens wird vom Tosen des Meeres geschluckt. Natürlich hat sie Angst wie noch nie zuvor im Leben. Doch dies ist der einzige Weg. Ihre Zukunft ist mit der Wucht eines Hammers zerschmettert worden.
Wäre er
noch am Leben, sähe die Sache anders aus, denkt sie. Aber so wird es wieder geschehen, wenn sie zurückgeht, da ist sie sich sicher. Es ist noch nicht vorbei.
In der Ferne sieht die junge Frau das Blitzen des Leuchtturms von Texel, und sie folgt seinem kreisenden Lichtstrahl, der sie durch die schwarze Nacht immer weiter hinaus ins Nichts lockt. Sie läuft so lange, bis sich ihre Muskeln vor Kälte verkrampfen und sie am ganzen Leib zu zittern beginnt. Sie sinkt auf die Knie, schlingt die Arme um ihren Oberkörper. Der Regen hat ausgesetzt, und hinter den zerfetzten Wolken, die über den Himmel jagen, kommt der Vollmond hervor. Die Dünen der Insel sind nicht mehr zu sehen. Die junge Frau ist nun weit draußen auf der Sandbank, an deren Rändern die steigende Flut nagt. Ihre Angst wird plötzlich übermächtig, verdrängt jede Entschlossenheit. Voller Panik springt sie auf, will zurück, aber dort, wo sie hergekommen ist, sind ihre Spuren schon vom schwarzen Nass geschluckt worden. Das Blut pulsiert in ihren Schläfen, während sie sich umsieht. Da drüben. Eine Hütte mitten auf der immer kleiner werdenden Sandfläche. Die Flut hat beinahe die Stelzen erreicht, auf denen sie steht. Es kann nicht weit sein.
Mit tauben Fingern umklammert die junge Frau das wabenförmige Medaillon, das sie um den Hals trägt, und läuft los, während das Wasser sich um sie herum schließt. Es erreicht zunächst ihre Knie, dann ihre Hüfte, zerrt an ihr und will sie mit sich reißen. Die Distanz zu dem rettenden Pfahlbau verringert sich nicht. Als das Wasser der jungen Frau bis zur Brust reicht, breitet sich die Angst in ihrem Kopf wie ein wild wucherndes Geschwür aus und zerfrisst jeden Gedanken, nimmt ihr jegliche Kontrolle. Sie versucht zu schwimmen, als die ersten Wellen über ihren Kopf schwappen. Doch ihre verkrampften Muskeln lassen keine Bewegung mehr zu. Die junge Frau sinkt hinab in die Dunkelheit wie ein Stein. Für einen langen, letzten Augenblick hält sie die Luft an, lässt sie dann stoßartig entweichen und saugt das Meer und den Tod tief in ihre Lungen.