1 Geister der Vergangenheit
Leeuwarden, heute
S
ie hatte den zweiten Schützen erst bemerkt, als die Kugel in ihren Körper eingeschlagen war, und nun hockte sie hinter einem der großen Seecontainer, presste die Hand auf die Wunde an ihrer Seite und sah zu, wie das Leben aus ihr hinaussickerte und sich in einer dunkelroten Lache auf dem Deck des Frachtschiffs ausbreitete. Erstaunlich, wie schnell es gehen konnte, wenn man einen Moment lang unachtsam war. Sie prüfte ihre Waffe. Ein volles Magazin. Der erste Schütze hatte direkt am Ende der Gangway gestanden, über die sie an Bord gekommen war. Er hatte sofort zur Waffe gegriffen und ihr keine andere Wahl gelassen, als ihn mit einem gezielten Schuss in die Brust niederzustrecken. Der zweite Mann hatte vom Geländer der Brücke aus gefeuert. Es war schon ein verdammter Zufall gewesen, dass er sie überhaupt von dort oben getroffen hatte.
Mit einer schnellen Bewegung spähte sie um die Ecke und sah zur Brücke hoch. Der Mann war verschwunden. Sie ging wieder in Deckung und fuhr erschrocken zusammen, als ein Schatten hinter dem Container neben ihr hervorschoss. Es war Bas.
»Verdammt, warum hast du nicht auf mich gewartet?«, fragte er atemlos, hockte sich neben sie, half ihr, die Jacke auszuziehen, knöpfte ihre Bluse auf und untersuchte die Verletzung. »Das wird schon wieder, Süße.«
Er zog seinen olivgrünen Parka aus und presste ihn auf die Wunde, um die Blutung zu stoppen. Dann berührte er ihre Wange und sagte: »Wenn wir das hier hinter uns haben, werden wir beide …«
Bas’ Gesicht erstarrte, als ein lauter Knall durch die Nacht hallte. Er kippte vornüber und landete auf ihr, wobei sein lebloser Körper die zweite Kugel abfing, die der Schütze abschoss, als er hinter dem gegenüberliegenden Container hervortrat. Das gab ihr die Gelegenheit, in einem letzten Kraftakt den Arm hochzureißen und das gesamte Magazin ihrer Waffe abzufeuern.
Der Mann war tot, noch ehe er auf dem Boden aufschlug.
Nur Augenblicke später hörte sie die Sirenen der Einsatzfahrzeuge, das Knattern eines Rotors, eilige Stiefelschritte. Sie ließ die Waffe fallen und legte die freie Hand auf den Kopf von Bas Dekker, Commissaris
des Sittendezernats Rotterdam. Dann gab sie sich der Kälte und Dunkelheit hin und wünschte sich, dass sie bald wieder vereint sein würden.
Wie üblich war dies der Moment, in dem Griet Gerritsen schweißgebadet aufwachte. Sie schnellte in die Höhe und stieß mit dem Kopf gegen die niedrige Holzdecke. Der Schmerz explodierte lärmend und in tausend grellen Farben hinter ihrer Stirn. Griet hielt sich den Kopf und sank zurück in die Kissen. Sie würde sich noch an die Enge auf dem Plattboot, das ihr Vater ihr vererbt hatte, gewöhnen müssen. Das alte Segelschiff war nach allem, was geschehen war, fürs Erste ihre Bleibe.
Eine Weile lag sie ruhig da, bis das Pochen in ihren Schläfen langsam nachließ. Das Trommeln des Regens auf das Deck und das Schmatzen des Wassers, das gegen den Bug des Schiffs schwappte, drangen gedämpft zu ihr. Griet atmete tief ein. Die Luft war kühl und roch modrig, und ein Hauch vom Duft des Pfeifentabaks, den ihr Vater immer geraucht hatte, lag noch darin. Danish Mixture,
Vanillearoma. Im Laufe vieler Ermittlungen hatte Griet Gerritsen manchmal Behausungen betreten, deren Bewohner bereits vor geraumer Zeit aus dem Leben geschieden waren – die meisten von ihnen nicht freiwillig –, und immer wieder hatte es Griet überrascht, wie lange sich Gerüche hielten, fast so, als würden sich die Räume an die Menschen erinnern, die einmal in ihnen gelebt hatten.
Sie griff nach ihrem mobieltje,
dem Smartphone, das auf der Ablageleiste unter dem Bullauge lag, an dessen Außenseite die Regentropfen herabliefen. Auf dem Sperrbildschirm erschienen die Uhr und ein Foto, das Griets Tochter Fenja bei der Einschulung vor zwei Wochen zeigte. Kurz vor sechs Uhr morgens. Griet musste zwar erst in knapp vier Stunden in der neuen Dienststelle erscheinen, doch wie immer, wenn sie von diesem verfluchten Abend vor fünf Jahren geträumt hatte, war an Schlaf nicht mehr zu denken.
Zeit für einen starken koffie.
Griet kletterte aus der Koje, zog Jeans und einen schwarzen Pullover an. In geduckter Haltung trat sie durch die niedrige Tür in das, was ihr Vater immer den Salon
genannt hatte − eine völlig übertriebene Bezeichnung für den beengten Raum in der Mitte des Schiffs, in dem sich eine Essecke, ein Navigationspult und eine Kochecke drängten. Ihr Vater hatte den Kahn geliebt, bis zum Schluss. Griet hatte ihn gehasst, seit ihr Vater sie als Kind mit auf das Ijsselmeer genommen und sie sich bei starkem Wellengang die Seele aus dem Leib gekotzt hatte. Noch immer konnte sie sich nicht recht vorstellen, auf dem Ungetüm zu leben, auch wenn es nur vorübergehend war.
Sie betätigte den Schalter einer kleinen Messinglampe an der Decke. Nichts. Griet seufzte, trat zum Sicherungspaneel und legte die Schalter der Reihe nach um. Es blieb dunkel. Erst als sie mit der Faust gegen das Paneel hämmerte, ging das Licht endlich an. Sie würde jemanden kommen lassen müssen, der sich die Elektrik ansah. Und am besten auch den Rest des alten Kahns.
Nachdem sie ausgiebig gegähnt hatte, schaltete sie das Autoradio mit CD
-Player ein, das neben dem Sicherungspaneel eingebaut war. Ein Song endete, und die Nachrichten begannen. Griet öffnete in der Kochecke den Gasabsperrhahn und kochte auf dem Herd Wasser für den Kaffee. Dann streifte sie den olivgrünen Parka über, der über der Lehne der Sitzbank lag, und stieg mit einem dampfenden Becher in der Hand die schmale Leiter hoch, die an Deck hinaufführte. Auf halber Höhe blieb sie stehen und öffnete die beiden Flügeltüren, deren kleine Fenster mit Messingsprossen versehen waren. In einer der Scheiben erblickte Griet ihr Spiegelbild, vom dicken Glas derart verzerrt, dass es wie ein ungebetener Blick in die Zukunft aussah – ihre grünen Augen wirkten müde, die Falten und Grübchen in ihrem Gesicht schienen tiefer und zahlreicher und ließen Griet um einige Jahre älter aussehen als fünfundvierzig Jahre. Mit der freien Hand wischte sie sich die langen blonden Haare aus dem Gesicht, dann schob sie die Luke über der Tür gerade so weit zurück, dass sie darunter noch vor dem Regen geschützt war. Aus ihrem Unterstand blickte sie auf die Noorderstadsgracht
hinaus. Hinter ihrem Schiff waren weitere Segeljachten und Plattboote vertäut, in deren Masten der flaue Wind seine klappernde Melodie spielte. In den vergangenen Tagen hatten sich zwar die ersten Frühlingsboten gezeigt, doch es war ihnen noch nicht gelungen, den Winter zu vertreiben. Auf der anderen Seite der Gracht erstreckte sich der Prinsentuin,
der Stadtgarten von Leeuwarden, über dessen laublosen Bäumen der Oldehove
in den Himmel aufragte, jener unvollendete Kirchturm ohne Spitze, aus rotbraunen Back- und Sandsteinen gemauert, der sich im Stadtkern über die Jahrzehnte unmerklich, aber stetig ein wenig mehr zur Seite neigte.
Griet trank einen Schluck koffie.
Im Radio endeten die Nachrichten mit der Meldung eines Schiffsunglücks vor der Nordseeinsel Vlieland, im Anschluss folgte der Wetterbericht, der von einem aufziehenden Sturm kündete. Dann erklangen die ersten Takte von Marco Borsatos »De Waarheid«: Ik denk an wat je voelt, ik denk aan hoe je lacht, ik denk aan al die liefde die jij aan me hebt gegeven …
Sie musste an Bas denken, mit dem sie gelacht und der ihr so viel Liebe geschenkt hatte. Das Lied hatte in seiner alten Stereoanlage gespielt, als sie sich zum ersten Mal …
Griet biss sich auf die Lippe und spülte den Kloß in ihrer Kehle mit einem weiteren Schluck koffie
hinunter. Über dem Prinsentuin verkündeten die ersten Strahlen der Morgensonne den Beginn eines neuen Tags. Für Bas würde es nie wieder einen neuen Tag geben. Für sie schon, und das empfand sie als grotesk und ungerecht. In wenigen Stunden trat sie ihren Dienst auf dem neuen Revier an. Es war eine Chance, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, vielleicht die letzte. Diesmal würde sie es richtig machen, sie würde nicht noch einmal versagen.