2 Boven de rivieren
W
arum hast du damals nicht auf die Verstärkung gewartet?«, fragte Wim Wouters, Hoofdcommissaris
und Teamchef der Districtsrecherche Fryslân,
als er Griet zwei Stunden später in ihren neuen Job einwies.
Wouters war ein untersetzter Mann Mitte fünfzig, dessen Gesicht man die vielen Jahre in seinem Beruf ansah. Leicht zurückgelehnt saß er hinter dem Schreibtisch, hatte die Hände wie zum Gebet unter dem massiven Doppelkinn gefaltet und musterte Griet, die ihm gegenüber am Fenster stand. Mehr als nur ein Hauch seines Aftershaves lag in der Luft.
Das Büro befand sich im obersten Stockwerk des politiehoofdkantoor
für den Distrikt Friesland, ein schnörkelloser, rechteckiger Bau aus ockerfarbenem Beton auf der Willemskade.
Die Districtsrecherche
war für alle Fälle von Kapitalverbrechen zuständig, die sich in der Region Friesland ereigneten, von Mord über Betrug bis hin zu Vergewaltigung. Der Zuständigkeitsbereich erstreckte sich von Stavoren im äußersten Westen bis kurz vor die Stadtgrenze von Assen im Osten und in Nordsüdrichtung von den Watteninseln bis hinunter nach Lemmer.
Griet blickte zu den Ausflugsschiffen in der Gracht, vor denen sich kleine Menschentrauben versammelt hatten. Die Touristensaison trieb erste zarte Blüten. Entlang des Kanals hatten Händler ihre Stände aufgebaut, verkauften Obst, Gemüse oder Blumen an Radfahrer und Passanten. Auf der gegenüberliegenden Seite drängten sich ausdruckslose Hochhäuser mit verspiegelten Glasfronten eng aneinander. Wouters’ Arbeitszimmer war ein abgetrennter Raum in einem Großraumbüro, und die bodentiefen Fenster, die bei Bedarf mit Lamellenjalousien abgedunkelt werden konnten, gewährten ihm freie Sicht auf die Arbeitsplätze der Rechercheeinheit, die er befehligte.
Griet schob die Hände in die Hosentaschen. Sie trug noch immer die Jeans und den schwarzen Pulli von heute früh, und auch den olivgrünen Parka hatte sie nicht abgelegt, als sie Wouters’ Büro betrat. In ihrem vorigen Leben wäre sie an ihrem ersten Arbeitstag sicherlich in einem Businesskostüm erschienen, doch solche Äußerlichkeiten scherten sie nicht mehr. Entweder die Leute akzeptierten sie so, wie sie war, oder eben nicht.
Warum hatte sie nicht auf die Verstärkung gewartet?
Griet hatte diese Frage unzählige Male während der internen Untersuchung gehört, die obligatorisch folgte, wenn ein Polizist Gebrauch von der Schusswaffe machte. Und sie hatte sich die Frage selbst immer wieder gestellt, meistens in den Nächten, in denen sie im Traum den leblosen Körper von Bas Dekker wie ein Zentnergewicht auf sich spürte. Wäre er noch am Leben, wenn sie sich vor fünf Jahren an die Vorschriften gehalten hätte? Wie sie es auch drehte, die Antwort, zu der sie kam, war immer dieselbe.
»Ich konnte nicht warten«, sagte Griet und wandte sich Wouters zu. »Es war Gefahr im Verzug, die Leben von fünfzig Menschen standen auf dem Spiel.«
Dann erzählte sie ihm, was auch in ihrer Personalakte vermerkt stand. Vielleicht hatte er sie nicht gelesen, wahrscheinlicher war, dass er das Ganze noch einmal aus ihrem Mund hören wollte: Sie hatte bei Europol für das EMSC
, das European Migrant Smuggling Centre,
gearbeitet, eine Einheit, die Schleusern und Menschenhändlern das Handwerk legt. Griet war vom Rotterdamer Morddezernat dorthin versetzt worden, die nächste Stufe auf der Karriereleiter, für die sie hart gearbeitet hatte. Der Dienst beim EMSC
hatte sie mit einer neuen, ungekannten Energie erfüllt. Es war nicht länger darum gegangen, toten Menschen Gerechtigkeit zu verschaffen, sondern lebende Menschen zu schützen.
Seit zwei Jahren war sie einem Schleuserring auf der Spur gewesen, der Flüchtlinge aus Afrika nach England schaffte. Die letzte Etappe der Fluchtroute war die kniffligste: Sie verfrachteten die Menschen in Seecontainer und transportierten diese mit Frachtschiffen aus dem Rotterdamer Hafen auf die Insel. Viele Flüchtlinge hatten zu diesem Zeitpunkt schon eine lange Reise hinter sich, waren entkräftet. Ein Jahr zuvor hatte die Polizei zwanzig Menschen entdeckt, die in einem dieser Container erstickt waren, darunter Frauen und Kinder. Griet wusste, dass es Kollegen gab, die einen solchen Umstand mit einem Schulterzucken quittierten, was sie den Erfahrungen zuschrieb, die einige von ihnen im Alltag mit jenen Migranten machten, die sich nicht an die Gesetze hielten. Für Griet handelte es sich einfach um Menschen, schwache und wehrlose noch dazu, und ein solches Desaster hatte sie nicht noch einmal erleben wollen.
Deshalb hatte sie schnell gehandelt, als ein Informant sie über den bevorstehenden Transport informierte. Das war ihr erster Fehler gewesen. Das EMSC
arbeitete in dem Fall mit dem Rotterdamer Sittendezernat zusammen, auf dessen Seite Bas Dekker die Ermittlungen leitete. Griet war bereits auf dem Weg zum Hafen gewesen, als sie ihn verständigt hatte, und es war klar, dass sie früher als er und seine Leute vor Ort eintreffen würde. Es war nur um Minuten gegangen, doch es waren Minuten, die über ein Menschenleben entscheiden konnten. Wie sich herausstellte, war es aber nicht nur das Leben der Flüchtlinge gewesen, über das Griet mit ihrem eigenmächtigen Vorgehen entschieden hatte, sondern auch über das von Bas.
Wouters nickte und fuhr sich mit der Hand durch das lockige graue Haar.
»Was die nächste Frage aufwirft«, sagte er. »Was hattest du überhaupt vor Ort zu suchen?«
Damit war er bei ihrem zweiten Fehler angelangt, dem springenden Punkt. Griet war es bewusst, dass sie nicht nur gegen zahlreiche Dienstvorschriften verstoßen, sondern auch Kompetenzen an sich gezogen hatte, die nicht in ihre Zuständigkeit fielen. Als Europolbeamte hätte sie bei den Ermittlungen lediglich eine koordinierende Funktion übernehmen sollen, das Tagesgeschäft überließ die europäische Polizeibehörde üblicherweise den zuständigen Einheiten vor Ort. Kurz, sie hätte hinter ihren Schreibtisch gehört.
Wouters deutete auf den Besucherstuhl.
»Setz dich bitte endlich«, sagte er, und Griet tat wie geheißen. »Die Menschen in diesem Container verdanken dir ihr Leben. Und mir ist klar, dass der Einsatz für dich persönlich nicht ohne Folgen war …«
Wouters machte eine kurze Pause, und Griet ahnte, dass dies die Ruhe vor dem Sturm war, der nun folgen würde. Sie hatte sich auf einen kühlen Empfang hier oben in Fryslân
vorbereitet.
Griet war im limburgischen Thorn aufgewachsen, einem Ort nahe der deutschen Grenze, der wegen seiner vielen weiß getünchten Altbauten auch »das weiße Städtchen« genannt wurde. In Limburg und ebenso im benachbarten Brabant hielt man große Stücke auf die eigene Geselligkeit und Lebensfreude und hatte eine klare Meinung über die Menschen boven de rivieren.
Damit war die Bevölkerung jener Landesteile gemeint, die nördlich der großen Flüsse Rhein und Maas und ihres Deltas lagen. Natürlich gehörte auch Rotterdam, ihr bisheriges Revier, dazu, allerdings war das eine Großstadt, und dort galten andere Regeln als auf dem Land. Wenn es in den dicht besiedelten Niederlanden so etwas wie eine tiefste Provinz gab, dann hier im sturmumtosten Fryslân.
Seinen Einwohnern eilte der Ruf voraus, ein wortkarger, gefühlskalter, manchmal etwas grobschlächtiger Haufen zu sein. Was vielleicht mit der Gegend zusammenhängt, dachte Griet. Zumindest konnte sie sich gut vorstellen, dass hier im Norden, wo das Wasser mit unzähligen Sturmfluten das Land geformt hatte, sich ein Menschenschlag ausgebildet hatte, der die Dinge geradeheraus benannte, ohne Umschweife und Rücksicht auf Befindlichkeiten, schlicht aus der Not heraus, den Gewalten der Natur ohne langes Geschwafel zu trotzen.
»Dein ehemaliger Vorgesetzter bei Europol ist ein Freund des Polizeichefs. Der wiederum ist mein Chef«, fuhr Wouters fort, »und offenbar schuldete er deinem Vorgesetzten einen Gefallen.«
Tatsächlich hatte ihr alter Chef Griet überhaupt erst auf die Idee gebracht, sich um die Stelle als Ermittlerin bei der Districtsrecherche Fryslân
zu bewerben. Als Stadtmensch wäre sie selbst nie auf den Gedanken gekommen, eine Versetzung in die Provinz anzustreben. Er war jedoch der Ansicht gewesen, ein Tapetenwechsel könnte ihr helfen, ihr Leben wieder auf die Reihe zu bekommen, das nach dem Vorfall im Rotterdamer Hafen aus dem Ruder gelaufen war, sowohl beruflich als auch privat.
Wouters stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch, faltete die Hände und blickte Griet aus kalten blauen Augen an.
»Ich wollte dich nicht hier haben«, sagte er. »Jemanden, der nicht nach den Regeln spielt, kann ich nicht gebrauchen. Hier arbeiten junge Beamte mit Familien, die lebend nach Hause kommen möchten.«
Griet nickte. »Ich verstehe.« Allein der Gedanke, dass jemals wieder ein Kollege durch ihr Verschulden den Tod finden könnte, war ein Albtraum.
Wouters stieß die Luft durch die Nase aus. »Dein ehemaliger Vorgesetzter hat dich offensichtlich in höchsten Tönen gelobt. Der Polizeichef meint, du hast vor deiner Zeit bei Europol als Mordermittlerin hervorragende Arbeit geleistet.« Wouters lehnte sich wieder zurück. »Du bekommst eine Chance. Eine. Nicht, weil ich sie dir geben will, sondern weil ich es muss. Ein einziger Fehler, und du bist raus.«
Griet sah zu, wie er eine Ermittlungsakte in die Mitte des Schreibtischs zog und aufschlug.
»Heute Morgen ist auf einer Sandbank vor Vlieland die Leiche eines Mannes gefunden worden«, erklärte Wouters. »Die Kollegen von der Insel haben sich vorschriftsmäßig mit einem Arzt auf die Sandbank begeben und vermuten eine nicht natürliche Todesursache. Du wirst die Ermittlungen leiten.«
»Steht bereits fest, um welche nicht natürliche Todesursache
es sich handelt?«, fragte Griet.
Wouters hob die Hände. »Es gibt eine Schusswunde. Mehr wissen wir noch nicht.«
»Wurde die Identität des Toten festgestellt?«
»Ein angesehener Hotelier von der Insel.«
»Aus wie vielen Leuten wird mein Team bestehen?«
Wouters seufzte. »Wir arbeiten derzeit am Limit. Die Kriminaltechnik ist bereits vor Ort, die Rechtsmedizinerin ebenfalls. Hoofdinspecteur
Pieter de Vries und Hoofdagent
Noemi Bogaard werden dich hier unterstützen.« Wouters deutete durch die Glasfront in das Großraumbüro. »Deine neuen Kollegen sind dort hinten. Da steht auch dein Schreibtisch. Du findest dich sicher zurecht.«
Griet erhob sich zum Gehen.
»Eins noch« – Wouters grinste –, »viel Spaß mit de Vries. Heute Mittag ist er nämlich eigentlich mit Kollegen zum Mittagessen verabredet, unten im T’Pannekoek Ship
auf der Gracht. Pfannkuchen sind seine Leibspeise. Er könnte über euren spontanen Einsatz auf der Insel ein wenig verstimmt sein …«