3 Das Küken und der Pfannkuchenmann
I m Großraumbüro waren die Arbeitsplätze der Ermittler durch Trennwände voneinander abgegrenzt, auf den Schreibtischen, von denen nur wenige besetzt waren, stapelten sich neben den Computerbildschirmen die Ermittlungsakten. Auf der fensterlosen linken Seite des Raums befanden sich zwei große Besprechungsräume mit Glasfronten. Beide waren besetzt, jeweils mit mehreren Dutzend Beamten.
Griet war sich einer Sache bereits jetzt sicher: Die Ermittlungen auf Vlieland würde sie wohl mit dem kleinsten TGO in der Geschichte der niederländischen Politie führen. Ein solches Team Grootschalige Opsporing wurde bei jedem Fall neu zusammengestellt, möglichst unter Berücksichtigung der speziellen Fähigkeiten, die bei den Ermittlungen in dem jeweiligen Verbrechen gebraucht wurden. Es gab Verhörspezialisten, Protokollführer, Finanzexperten, IT -Fachkräfte, Koordinatoren für die Kriminaltechnische Untersuchung und sogar einen Ermittler, der als Ansprechpartner ausschließlich Kontakt zu den Angehörigen eines Opfers hielt. Üblicherweise arbeiteten zwischen zwanzig und fünfzig, manchmal sogar hundert Ermittler unter Führung eines Teamleiters an einem Fall. Griet würde mit zwei Kollegen auskommen müssen, und sie hatte die ungute Vermutung, dass ihr neuer Chef damit ein bestimmtes Ziel verfolgte.
Pieter de Vries saß mit dem Rücken zum Gang, als Griet hinter ihn trat. Sein Arbeitsplatz befand sich in einem vorbildlichen Zustand. Es war einer jener Schreibtische, bei deren Anblick sie sich immer fragte, ob die Leute, denen sie gehörten, auch wirklich daran arbeiteten oder den Tag lediglich damit zubrachten, die Dinge um sich herum zu ordnen. Der Aktenstapel auf der rechten Seite des Tischs machte den Eindruck, als wäre er nach einem Bauplan ausgerichtet worden, die Mappen lagen so exakt aufeinander, dass nicht eine einzige die Statik des beträchtlichen Papierturms gefährdete. Auf der linken Seite standen neben der Telefonbasis eine Tupper-Brotdose, eine Thermoskanne und eine Kaffeetasse, die mit einem Lorbeerkranz und der Aufschrift De liefste vader van de wereld  – der liebste Vater der Welt – bedruckt war. Der Computerbildschirm in der Mitte des Tischs thronte erhöht auf einem Stapel von kriminaltechnischen Handbüchern, und Pieter de Vries saß auf einem jener ergonomischen Bürostühle, deren diverse Einstellmöglichkeiten denen einer Mondrakete entsprachen. An der Pinnwand hinter dem Monitor waren zahlreiche Fotos angebracht, unter anderem die Bilder eines Mädchens und eines Jungen. Ein anderes Foto zeigte Pieter mit seiner Frau vor einem Esszimmerschrank voller Kaffeegeschirr in Delfter Blau; Motive mit Windmühlen und Schiffen zierten die Teller und Tassen. Auf weiteren Aufnahmen war de Vries einmal in jüngeren Jahren am Steuer eines Segelboots zu sehen, ein andermal in Trekkingausrüstung vor einem Wohnwagen, im Hintergrund eine hügelige, bewaldete Landschaft und ein gelbes Ortsschild mit der Aufschrift Prüm.
Der Schreibtisch neben dem von Pieter war frei. War dies ihr neuer Arbeitsplatz? Griet würde jedenfalls keine Fotos von ihrer Tochter aufhängen – und von ihrem Ex-Mann schon gar nicht –, damit handelte man sich nur Nachfragen ein. Und je weniger Fragen, desto besser.
Ihr neuer Kollege telefonierte. Er hatte Griet nicht bemerkt.
»… aber natürlich, Schatz, ich bin pünktlich zum Abendessen zu Hause«, sagte er. »Ja, die neue Kollegin leitet die Ermittlung … Was? Nein, ich bin nicht aufgeregt … Ja, ich habe sie auch gegoogelt … Ja, Schatz, wirklich eine attraktive Frau … Was?  … Nein, so war das doch nicht gemeint, ich … Also bitte, Schatz, wie lange sind wir jetzt schon verheiratet?«
Griet räusperte sich, und Pieter fuhr erschrocken ein Stück in die Höhe. »Schatz, ich mach jetzt Schluss, sie ist da«, flüsterte er ins Telefon. »Zoentjes.«
Er beendete das Gespräch, erhob sich und reichte Griet die Hand. Pieter trug ein kariertes Hemd in den Farben Rot, Blau und Weiß, dazu eine braune Cordhose, die von Hosenträgern in Position gehalten wurde, und Wanderschuhe einer bekannten Marke. Seine vollen schwarzen Haare und der Bart zeigten erste graue Stellen, und sein deutlicher Bauchansatz, über dem sich die Knöpfe des Hemds spannten, verriet Griet, dass er jene Jahre im Leben eines Mannes erreicht hatte, in denen Sport durch die Familie von der ersten Stelle der Freizeitaktivitäten verdrängt worden war. Griet schätzte ihn auf Mitte vierzig.
»Was wissen wir bislang?«, fragte sie, nachdem sie sich miteinander bekannt gemacht hatten.
Pieter nahm einen Notizblock von seinem Schreibtisch und setzte eine Brille mit schwarzem Holzrahmen auf. »Also … heute Morgen ging gegen acht Uhr dreißig ein Notruf bei den Kollegen auf Vlieland ein«, berichtete er in bedächtigem Ton und machte eine Pause, während er in den Notizen blätterte. »Zwei Männer sind mit einem Boot zu einer Sandbank, Moment, wie hieß die gleich … ah, hier … sie waren zur Sandbank De Richel im Watt direkt vor der Insel gefahren. Einer der Männer ist offenbar von der Insel, er hat auch den Notruf abgesetzt. Auf der Sandbank haben sie eine Leiche gefunden. Die Inselpolizei hat diese Angaben bestätigt und uns verständigt …« Er blätterte noch einmal schweigend durch die Notizen.
Dem ersten Eindruck nach schien ihr neuer Kollege durchaus exakt und gründlich zu sein, Griet wünschte nur, er würde seine Arbeit nicht im Schneckentempo verrichten.
Schließlich blickte Pieter auf. »Ich glaube, das wäre so weit alles. Wer wird noch zu unserem Team gehören?«
»Du, ich und Hoofdagent Noemi Bogaard.« Griet zuckte entschuldigend die Schultern. »Mehr ist wohl nicht drin.«
»Bogaard?« Pieter rollte mit den Augen. »Bitte nicht das hektische Küken …«
»Das ›hektische Küken‹ hat soeben mit Henk van der Waal gesprochen, er leitet das politiebureau auf der Insel«, sagte eine helle Frauenstimme hinter Griet. »Er erwartet uns auf der Sandbank. Hoffentlich zertrampelt der Dorftrottel nicht alle Spuren. Der Hubschrauber hat die Kriminaltechnik und die Rechtsmedizinerin rübergeflogen und ist wieder zurück. Die Maschine wartet abflugbereit auf dem Dach.«
Griet wandte sich um und sah sich einer jungen Frau Mitte zwanzig mit dunkler Hautfarbe und kurzen Rastalocken gegenüber. Sie trug ein blaues Businesskostüm mit weißer Bluse. Noemi streckte Griet die Hand zur Begrüßung entgegen und setzte ein Zahnpastalächeln auf. »Noemi Bogaard. Meinetwegen kann es losgehen.«
»Verlieren wir keine Zeit«, sagte Griet und erwiderte den Handschlag. »Machen wir uns auf den Weg.«
Pieter sah Griet mit großen Augen an. »Heißt das, du willst mit dem Hubschrauber fliegen …?«
Griet zuckte die Schultern. »Da ich nicht selbst fliegen kann: ja.«
»Sollten wir nicht lieber … die Fähre nehmen?«
»Dauert zu lange«, sagte Griet und verkniff sich die Bemerkung, dass sie es nicht mochte, wenn über ihre Anweisungen diskutiert wurde.
Dann wandte sie sich zum Gehen, und Noemi folgte ihr. Pieter erhob sich mit einem Seufzen, griff nach seiner beigen Jacke und setzte eine graue Schiebermütze auf, während er hinter ihnen hertrottete. Er blickte auf seine Armbanduhr.
»Es ist jetzt kurz nach elf«, sagte er im Gehen. »Meint ihr, wir sind bis eins wieder hier? Ich habe dann …«
»… eine Verabredung zum Pfannkuchenessen«, vollendete Griet den Satz, wobei ihr nicht entging, dass Noemi eine Grimasse schnitt. »Das Mittagessen muss heute ausfallen. Wird ein langer Tag.«
»Potverjanhinnekont …!«, entfuhr es Pieter.
Griet war es durchaus bewusst, dass die Friesen dafür bekannt waren, ihren Dialekt zu pflegen, der sogar offiziell als eigene Sprache anerkannt war. Dennoch machte sie wohl ein derart verdutztes Gesicht, dass Noemi sich einschaltete.
»Fries«, erklärte die junge Frau mit einem Schulterzucken, »heißt so viel wie: verdammte Scheiße.«
Noemi wies den Weg durch das Treppenhaus zum Dach des Gebäudes. Als sie die Stufen hochstieg, war Griet sich einer weiteren Sache sicher. Wouters hatte ihr nicht nur ein besonders kleines Ermittlungsteam zur Verfügung gestellt, sondern offenbar auch ein besonders unbeliebtes. Pieter de Vries war vermutlich eine ganze Weile nicht mehr am Fundort einer Leiche gewesen, wenn er sich denn überhaupt jemals einem solchen genähert hatte. Sonst wäre er sicher davon ausgegangen, dass die Arbeit vor Ort eine ganze Weile dauerte. Dass er wohl schon länger nicht mehr hinter seinem Schreibtisch hervorgekommen war, hatte Griet zudem eine weitere Beobachtung verraten: Die oberste Akte auf seinem Schreibtisch enthielt nicht nur einen Aufdruck mit der Fallnummer, sondern auch einen Datumsvermerk. Der Fall stammte aus dem Jahr 1992. Pieter bearbeitete Cold Cases, ungelöste Fälle, die lange zurücklagen und mit denen niemand sich abgeben wollte – Fälle, die man gern Neulingen aufs Auge drückte und Kollegen, die sich unbeliebt gemacht hatten oder schlicht zu nichts anderem taugten.
Und auf Noemi Bogaard schien die Bezeichnung hektisches Küken durchaus zuzutreffen. Eine junge Berufseinsteigerin, die sich mit überbordendem Ehrgeiz und einem natürlichen Mangel an Erfahrung dafür qualifizierte, dass alle einen weiten Bogen um sie machten.
Wouters hatte es offenbar darauf angelegt, Griet scheitern zu sehen und sie auf diese Weise möglichst schnell wieder loszuwerden.
Ein rottes Plattboot, ein Toter auf einer Sandbank mitten im Watt, eine Anfängerin und der Pfannkuchenmann. Der erste Tag ihres neuen Lebens verlief in jeder Hinsicht so geschmeidig wie ein Verkehrsunfall.