4 Der Tote im Watt
A
us der Luft betrachtet glich das Wattenmeer mit seinen zahllosen Strömungen, die zwischen den Sandbänken und Untiefen verwaschene Schlieren in der grau-grünen See hinterließen, einem Opal, durch die Jahrtausende geschliffen vom Wechsel der Warm- und Eiszeiten, dem Spiel der Gezeiten und den Sturmfluten ausgesetzt, die der Küste ihre heutige Form gegeben hatten. Griet hatte das Wattenmeer noch nie von oben gesehen, und nun, da der blau-weiße Eurocopter EC
-135, mit der Aufschrift Politie
an der Seite, das Festland auf Höhe von Harlingen hinter sich ließ und Kurs aufs offene Meer und die Inseln nahm, empfand sie Ehrfurcht vor dem, was die Natur hier geschaffen hatte.
Es war nicht das erste Mal, dass Griet in einem Hubschrauber flog, und sie stellte erneut fest, dass er definitiv eines der unbequemeren Fortbewegungsmittel war. Die Regenwolken vom Vortag hatten sich verzogen, doch die Schlieren am Himmel verkündeten, dass das schöne Wetter nur von kurzer Dauer sein würde. Der Wind schüttelte die Maschine kräftig durch. Dem hektischen Küken
schien dies nichts auszumachen. Noemi klebte förmlich mit dem Gesicht an der Scheibe, und ihr war anzusehen, dass sie von dem Anblick, der sich ihnen bot, ebenfalls überwältigt war. Bei Pieter lag die Sache anders. Er saß Griet kerzengerade gegenüber, hatte die Augen geschlossen und krampfte die Finger ins Sitzpolster. Seine Gesichtshaut hatte eine leicht grünliche Färbung angenommen.
»Alles goed met jou –
Geht es dir gut?«, fragte Griet durch das Headset, das sie trugen, um sich über das Knattern der Rotoren verständigen zu können.
»War schon mal besser …«, murmelte Pieter, ohne die Augen zu öffnen.
Noemi wandte sich zu ihm um. »Stell dir einfach vor, du wärst auf dem Pfannkuchenschiff, und es schwankt ein wenig.«
Er verzog das Gesicht. »Bitte … red jetzt nicht vom Essen.«
Die Unterhaltung wurde von der Stimme des Piloten unterbrochen. »Wir sind gleich da.«
»Okay«, antwortete Griet, »dreh eine Runde, ich will mir das Ganze von oben ansehen.«
Vlieland war die am weitesten vom Festland entfernte Watteninsel und, wie von hier oben gut zu erkennen, deutlich kleiner als ihre Nachbarn Texel im Westen und Terschelling im Osten. Das einzige Dorf, Oost-Vlieland, lag vor einem bewaldeten Hügel, auf dem ein Leuchtturm stand. Im Westen breitete sich eine ausgedehnte Heidelandschaft aus, die in einer gigantischen Sandfläche, dem Vliehors,
auslief, die sich weit ins Meer in Richtung Texel erstreckte.
Die Sandbank De Richel,
auf die sie zuflogen, lag vor dem östlichen Ende Vlielands und war nicht gerade klein. Griet schätzte, dass De Richel
ungefähr so groß wie ein Fünftel der Insel war.
Der Helikopter neigte sich zur Seite, als er in die Kurve ging. Pieter hatte das Headset abgenommen, sodass Griet seine Stimme nicht über den Kopfhörer hörte, doch von seinen Lippen konnte sie die Worte ablesen: lieve hemel!
– ach, du lieber Himmel.
Sie umkreisten die Sandbank in einem weiten Bogen, und das verschaffte Griet einen guten Überblick über die Lage dort unten. Am südöstlichen Rand der Sandbank hatten sich einige Menschen versammelt, die sie anhand der typischen weißen Schutzanzüge als Kriminaltechniker ausmachen konnte. Sie standen in der Nähe von etwas, das wie das Gerippe eines Schiffswracks aussah. Westlich davon lagen zwei Boote auf dem Sand, neben ihnen war eine weitere Gruppe von vier Personen zu erkennen, von denen sich eine Person entfernte und in Richtung der nördlichen Spitze der Sandbank ging.
Griet hörte erneut die Stimme des Piloten im Kopfhörer.
»Die Verwirbelungen der Rotoren wühlen den Sand ganz schön auf«, erklärte er. »Vorhin habe ich die Kriminaltechnik und die Rechtsmedizinerin ein gutes Stück entfernt vom Fundort der Leiche am äußersten nördlichen Rand abgesetzt.«
»In Ordnung«, erwiderte Griet.
Es war klar, dass sie nirgendwo anders landen konnten, wenn sie möglichst wenig Spuren zerstören wollten.
»Der Sandboden ist hier allerdings sehr weich. Ich hatte vorhin echt Probleme, ihn hochzukriegen …« Der Pilot setzte ein schiefes Grinsen auf. »Den Helikopter, meine ich. Ich werde diesmal lieber nicht landen, sondern die Maschine dicht über dem Boden halten. Es ist nicht hoch, aber ihr müsst abspringen. Schafft ihr das?«
»Kein Problem«, rief Griet und reckte den Daumen in die Höhe, was Pieter, der den Kopfhörer wieder aufgesetzt hatte und ihrer Unterhaltung folgte, mit einem ungläubigen Blick quittierte.
»Ihr solltet euch übrigens nicht allzu viel Zeit lassen«, sagte der Pilot. »Die Flut läuft schon wieder auf.«
»Keine Sorge, wir wollen hier nicht übernachten.«
Griet öffnete die Schiebetür, als der Pilot die Maschine in eine stabile Position gebracht hatte. Es mussten gute zwei Meter bis zum Boden sein. Sie hockte sich hin, stellte die Füße auf die Kufen, sprang ab und landete im Sand. Noemi tat es ihr gleich, bevor Pieter der jungen Polizistin nach kurzem Zögern folgte. Offenbar versuchte er, den Sprung abzufedern, indem er sich abrollte, was ihm allerdings nicht gelang. Er kippte zur Seite und blieb wie eine Schildkröte auf dem Rücken liegen, während der Hubschrauber sich in einer aufgewirbelten Sandwolke entfernte.
Noemi wollte ihm helfen, doch er lehnte ihre ausgestreckte Hand ab und rappelte sich auf, richtete seine Schiebermütze und nuschelte etwas in seinen Bart, das für Griet wie das bereits gehörte Potverjanirgendwas
klang.
Das Knattern des Hubschraubers verklang, und plötzlich umfing eine unerwartete Stille sie. Kühler Wind wehte aus nordwestlicher Richtung, machte sich hier allerdings nur schwach bemerkbar, da sich die Sandbank im Windschatten der Insel befand. Griet zog den Reißverschluss ihres olivgrünen Parkas hoch und blickte hinüber zu der Gestalt, die sich ihnen über die Sandfläche näherte. Es war ein Mann in dunkelblauer Polizeiuniform und passender Mütze.
»Unser Empfangskomitee«, sagte Griet. »Gehen wir ihm ein Stück entgegen.«
***
Sie trafen den Mann auf halbem Weg, in der Mitte der Sandbank.
»Henk van der Waal«, stellte er sich vor. »Ich leite die Dienststelle auf der Insel.«
Griet machte ihn mit ihrem Team bekannt. Henk war ungefähr in ihrem Alter, hatte dunkelblondes, welliges Haar, das an den Seiten unter der Polizeimütze hervorschaute, und einen Vollbart. Er war auf eine herbe Art attraktiv, aber Griet nahm das in ihrem noch immer anhaltenden Schmerz über Bas’ Tod nur beiläufig zur Kenntnis. Außerdem hatte sie sich sowieso geschworen, in Zukunft nie wieder etwas mit einem Kollegen anzufangen.
»Die Kriminaltechnik und die Rechtsmedizinerin sind drüben bei der Leiche«, erklärte Henk und deutete zu dem Schiffswrack, das Griet aus der Luft gesehen hatte, dann wies er in Richtung der beiden Boote. »Meine Kollegin, Agent
Karen den Bosch, ist bei den Männern, die den Toten gefunden haben. Wir haben sie mit Kaffee und Decken versorgt.«
»Wer sind die beiden?«, wollte Griet wissen.
»Marc Martens, ein Mann von der Insel, und Klaas Verhoeven, ein Archäologe der Universität Leiden«, erklärte Henk. »Martens hat Verhoeven heute Morgen mit dem Boot zur Sandbank gebracht. Verhoeven hat dann die Leiche in den Überresten des Schiffswracks entdeckt.«
»Wie lange sind die beiden schon hier?«
»Ihr Notruf ging gegen halb neun bei uns ein. Soweit ich weiß, sind sie erst kurz zuvor hier eingetroffen.«
Griet blickte auf ihr mobieltje,
es war jetzt ein paar Minuten nach elf, also hielten sich die beiden Männer schon seit knapp drei Stunden hier draußen auf. Es war nicht unüblich, dass derjenige, der eine Leiche entdeckt hatte, an Ort und Stelle zur ersten Befragung blieb – seine frischen Eindrücke und Beobachtungen beim Auffinden des Toten konnten bei den weiteren Ermittlungen eine wichtige Rolle spielen. Allerdings gab es hier keinen zwingenden Grund, die Männer noch länger festzuhalten, sie konnten alles Weitere genauso gut in der Polizeiwache auf Vlieland erledigen.
Griet wandte sich an Pieter und Noemi: »Ihr beiden bringt die Auffindungszeugen gemeinsam mit Karen den Bosch zur Wache auf die Insel. Nehmt ihre Aussagen zu Protokoll. Und denkt daran, die Befragungen getrennt durchzuführen, sie sollen sich nicht gegenseitig beeinflussen.«
»Heißt das, ich darf einen von den beiden ganz allein vernehmen?« Noemi sah sie mit aufgerissenen Augen an.
»Ich fürchte …«, stammelte Pieter entschuldigend, »sie hat das noch nie gemacht … also, allein zumindest nicht.«
Griet runzelte die Stirn. »Lässt sich jetzt nicht ändern, oder? Irgendwann ist immer das erste Mal«, meinte sie und blickte Noemi aufmunternd an. »Vergiss auf keinen Fall, den Zeugen über seine Rechte zu belehren, bevor du loslegst, sonst ist die ganze Arbeit für die Tonne. Also dann …«
Pieter und Noemi machten sich auf den Weg, und Griet blickte den beiden nach. Die junge Kollegin war noch grüner hinter den Ohren, als sie ohnehin befürchtet hatte.
»Gehen wir«, sagte Griet zu Henk und deutete mit einem Nicken zu der Stelle, wo das Wrack lag. »Was weißt du über den Toten? Er ist ein Mann von der Insel, richtig?«
»Vincent Bakker, er war Besitzer und Betreiber des Badhotels
in Oost-Vlieland«, sagte Henk. »Das Hotel ist das älteste auf der Insel.«
»Hatte er Familie?«
»Eine Frau und eine Stieftochter. Sie arbeiten beide im Hotel, ein klassischer Familienbetrieb«, erklärte er. »Ich habe seine Frau bereits über seinen Tod unterrichtet, sonst hätte sie es über den Dorftratsch erfahren. Sie weiß allerdings noch nicht, dass es sich um Mord handelt. Ich dachte, das sagen wir ihr lieber persönlich. Wir können zu ihr fahren, sobald wir auf der Insel sind.«
»Einverstanden«, sagte Griet. »Können wir sicher sein, dass es sich um einen Mord handelt?«
»Sieht ganz danach aus. Ich meine, wer würde sich schon selbst in eine Plastikfolie wickeln, nachdem er sich erschossen hat?« Henk lachte gezwungen.
»Eine Idee, wer einen Grund gehabt haben könnte, Bakker zu töten?«
Henk schürzte die Lippen. »Absolut nicht. Er war ein angesehener Mann.«
Sie erreichten die Fundstelle, wo sich zwei Frauen in weißen Schutzanzügen unterhielten. Im Hintergrund packten die Kriminaltechniker, die blaue Jacken mit der Aufschrift Forensische Recherche
trugen, ihre Ausrüstung bereits wieder zusammen. Ein Polizeifotograf dokumentierte den Fundort von allen Seiten.
Die beiden Frauen unterbrachen ihr Gespräch, als sie Griet und Henk bemerkten, und Griet stellte sich ihnen vor.
»Noor van Urs«, sagte die Linke der beiden und streckte Griet die Hand entgegen. »Ich leite die kriminaltechnische Untersuchung. Wim Wouters hat dich bereits angekündigt. Mein Labor befindet sich übrigens im Stockwerk unter deinem Büro.« Sie lächelte und zog die Schutzhaube vom Kopf, unter der lange, weiße Haare zum Vorschein kamen, die sie zu einem Zopf geflochten hatte und die im Kontrast zu ihrem jugendlichen Gesicht standen. Ihre Augenbrauen waren ebenfalls weiß, und in den Pupillen ihrer Augen lag ein roter Schimmer. Noor van Urs war ein Albino.
»Mein Name ist Mei Nakamura«, sagte die andere Frau, eine Asiatin mittleren Alters. »Ich bin Rechtsmedizinerin am Forensischen Institut des GGD
Friesland.«
»Gut, wie weit seid ihr mit der Arbeit?«, fragte Griet.
»Ich kann es kurz machen: Für uns gibt es hier nicht viel zu tun«, antwortete Noor. »Der Fundort ist erheblichen Witterungseinflüssen ausgesetzt. Wind, Ebbe, Flut – und in der vergangenen Nacht hat es auch noch geregnet.«
Sie deutete hinüber zu der Stelle, wo die Sandbank ins Wasser überging. Eine Reihe von Schiffsspanten ragte dort aus dem Schlick. Das dunkle Holz war morsch, durchlöchert und an vielen Stellen abgebrochen, sodass nur schwer vorstellbar war, dass es einmal den Rumpf eines Schiffs gebildet hatte. Etwa hundert Meter von den Wrackresten entfernt war ein kleines Schutzzelt aufgebaut worden. Darunter musste sich der Tote befinden.
»Die Leiche hatte sich zwischen den Spanten des Schiffs verfangen«, erklärte Mei. »Wir haben auflaufendes Wasser, deshalb waren wir uns einig, dass wir den Toten am besten dort wegschaffen.«
»Wir haben keine weiteren Spuren außer der Leiche selbst gefunden, was mit den Witterungseinflüssen zu tun haben kann – zu viel Wind, und der Regen und das Meer könnten Fußabdrücke ausgewaschen haben, falls es welche gab«, fügte Noor hinzu. »Also nichts, was darauf hindeutet, dass die Tat hier begangen wurde. Da sind lediglich die Fußspuren der beiden Männer, die den Leichnam entdeckt haben. Außer ihnen hat in letzter Zeit niemand diese Sandbank betreten – mal abgesehen von denen da drüben.«
In gebührendem Abstand von den Schiffsspanten und den Anwesenden lagen am Saum zwischen Sand und Meer einige Robben.
»Die Kleider des Opfers und die Plastikplane sehe ich mir dann im Labor an«, fuhr Noor fort.
»In der Plane lagen noch einige Steine, die offenbar zur Beschwerung dienten«, ergänzte Henk. »Was aber wohl nicht ganz erfolgreich war.«
»Hatte der Tote irgendwelchen persönlichen Besitz bei sich?«
»Nein, kein Portemonnaie, kein Handy, nichts. Er trug lediglich eine Armbanduhr, die wir sichergestellt haben.«
Damit lässt sich nicht ausschließen, dass es sich um einen Raubmord handelt, überlegte Griet. Allerdings würde es sich um eine sehr umständliche Art von Raub handeln, denn dazu gehörte üblicherweise nicht die anschließende Entsorgung der Leiche. So etwas bedurfte vorausgehender Planung. Der Aufwand hätte sich wohl nur gelohnt, wenn Vincent Bakker eine große Geldsumme oder Gegenstände von hohem Wert mit sich führte.
Der Himmel hatte sich in der Zwischenzeit verfinstert, und ein leichter Nieselregen setzte ein. Griet zog sich die Kapuze ihres Parkas über den Kopf.
Mei, die Rechtsmedizinerin, bedeutete Griet mit einer Handbewegung, ihr zu folgen. Sie gingen hinüber zu dem Zelt, unter dem der Leichnam lag.
Einer der Kriminaltechniker reichte Griet Schutzkleidung, die sie anlegte. Sie betraten das Zelt und knieten sich neben den leblosen Körper. Der Mann war noch immer der Länge nach in eine durchsichtige Plastikplane eingewickelt. Lediglich der Bereich vom Kopf bis zur Brust war freigelegt. Die Haut war schrumpelig und dunkel, an einigen Stellen schwarz verfärbt, die Haare lagen wie dünne Fäden um das Gesicht. Ein Mann, der seine besten Jahre hinter sich hatte, dachte Griet. Sicher hatte er einmal gut ausgesehen, aber sein feistes Gesicht ließ vermuten, dass er zu sehr dem Alkohol zugesprochen hatte – und fettem Essen nicht abgeneigt gewesen war. Die Augen waren geschlossen, die Arme gestreckt an den Körper angelegt, die Beine parallel nebeneinander. Soweit Griet durch die Plane sehen konnte, trug der Tote Arbeitsstiefel, eine Cargohose und ein kariertes Hemd. Auf der Kleidung waren Farbflecken zu erkennen. Das Hemd war aufgeknöpft. Die entblößte Brust offenbarte, woran Vincent Bakker vermutlich gestorben war: ein kreisrundes Einschussloch auf Höhe des Herzens.
»Die Leiche hat nicht lange im Wasser gelegen«, sagte Mei. »Es ist noch kein Algenbesatz vorhanden, ebenso wenig gibt es Bissspuren von Fischen, obwohl die Plane an einigen Stellen gerissen ist, und die für Wasserleichen typische Waschhaut ist auch kaum ausgeprägt.«
Sie deutete mit einem Stift auf etliche Stellen im Gesicht, die wie tiefe Kratzer aussahen. »Diese Verletzungen haben nicht geblutet, sind also post mortem entstanden. Es könnten Treibverletzungen sein, wie sie oft bei Wasserleichen entstehen. Würde mich nicht wundern, wenn wir an den Beinen weitere solcher Verletzungen finden.« Ihr Stift wanderte zu dem Einschussloch in der Brust. »Schusswunde. Direkt ins Herz. Durch die Lagerung im Wasser sind die Spuren nicht deutlich, aber es befindet sich am Einschussbereich keine Stanzmarke, keine Schmauchhöhle, also war es kein aufgesetzter Schuss. Ich vermute, der Täter hat aus mittlerer Distanz geschossen.«
Mei bedeutete Griet, ihr zu helfen, und gemeinsam drehten sie die Leiche um.
»Siehst du«, sagte sie, »wir haben keine Austrittswunde, das bedeutet, das Projektil steckt noch im Körper.« Sie legten den Toten wieder auf den Rücken.
»Gibt es noch weitere Verletzungen?«
»An Kopf und Torso habe ich auf den ersten Blick nichts gefunden, Unterleib und Beine werde ich mir bei der Leichenschau ansehen.«
»Die Schussverletzung war mit Sicherheit die Todesursache?«
»Sehr wahrscheinlich.« Mei erhob sich, und sie verließen das Zelt. Draußen legten sie die Schutzkleidung ab.
»Meiner ersten Schätzung nach ist die Leiche nicht länger als vierundzwanzig Stunden im Wasser gewesen«, sagte Mei, während sie den Reißverschluss des weißen Overalls öffnete. »Das bedeutet, der Tod ist gestern Abend eingetreten, womit das Zeitfenster für die Tat zwischen siebzehn Uhr und Mitternacht liegen dürfte. Genaueres dann nach der Obduktion.«
Da der Hubschrauber nicht auf der Sandbank landen konnte, traten die Rechtsmedizinerin und die Kriminaltechniker die Heimreise mit einem Boot der Küstenwache an, das inzwischen neben dem Polizeiboot angelandet war. Griet würde mit Henk van der Waal nach Vlieland fahren. Zuvor ging sie noch einmal zu der Stelle hinüber, wo die Reste des Wracks inzwischen beinahe vollständig in der steigenden Flut versunken waren. Sie zog ein schwarzes Notizbuch aus der Jackentasche. Anders als manche jüngeren Kollegen hielt sie ihre Beobachtungen gern schriftlich fest – bei einem Notizbuch konnte nie der Akku leer sein.
Ein gezielter Schuss in die Brust, die Leiche in eine Plane gewickelt, mit Steinen beschwert, dann der Versuch, den Toten im Wasser zu entsorgen. Wer auch immer der Mörder von Vincent Bakker war, er hatte vermutlich nicht im Affekt gehandelt. Er hatte sein Vorgehen geplant und mit kühlem Kopf umgesetzt.
Griet klappte das Notizbuch zu, blickte aufs Meer hinaus. In der Ferne waren die braunen Segel eines Plattboots zu erkennen, das Richtung Ameland oder Schiermonnikoog unterwegs sein musste. Vom Festland her näherte sich eine Fähre, und zwischen Vlieland und Terschelling stampfte ein Seenotrettungsschiff der KNRM
, der Koninklijke Nederlandse Redding Maatschappij,
gegen die Wellen auf die offene See hinaus. Griet hatte bereits einige Male mit der KNRM
zu tun gehabt und erkannte, dass es sich um ein Boot der NH
1816-Klasse handelte, ein Allwetterschiff, das sogar bei schwerem Sturm eingesetzt werden konnte. Sie hatte das Gefühl, selbst ebenfalls in rauer See unterwegs zu sein. Die Ermittlungen in diesem Fall konnten sich als schwierig erweisen. Vielleicht lieferten die Leichenschau oder die kriminaltechnischen Analysen im Labor noch eine Überraschung, doch bislang schien es bei diesem Mord keine brauchbare Spur zu geben. Ob ihre beiden neuen Kollegen ihr eine Hilfe sein würden, das war ungewiss. Nur eines war sicher: Ihr neuer Chef würde ihr trotz aller Widrigkeiten nicht einen einzigen Fehler verzeihen.
Griet zog die Kapuze des Parkas enger um den Kopf, um sich gegen den Regen zu schützen. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, sich hierher versetzen zu lassen.