5 Ein erster Verdacht
D
ie Polizeiwache von Oost-Vlieland befand sich in einem Gebäude mit hellbrauner Klinkerfassade in der Dorpstraat,
der einzigen Einkaufsstraße des kleinen Ortes. Schmale und niedrige Häuser drängten sich dort mit Geschäften des Alltags, Restaurants und Cafés dicht an dicht, als wollten sie sich vereint gegen die Nordwinde stemmen, die hier im Winter Regime führten. Griet kannte die Betulichkeit des Dorflebens aus ihrem Heimatort Thorn, und sie konnte sich nichts Langweiligeres vorstellen, als auf einer Insel Dienst zu tun. Dennoch beneidete sie die Kollegen für einen kurzen Moment um ihr Domizil, denn sie hatte selten eine Polizeiwache gesehen, die einen solch einladenden Eindruck machte. Das Haus hatte einen kunstvoll verzierten Schweifgiebel, dessen Seiten sich nach innen aufeinander zuwölbten, und über zwei weißen Holzfenstern mit Schlagläden waren Markisen mit der Aufschrift Politie
angebracht. Links neben der Wache befand sich ein Café. Über dem schmalen Durchgang zwischen den Häusern, an dessen Ende der Deich zu sehen war, der das Dorf umgab, war ein Schild mit der Aufschrift Waddenterrass – uitzicht op zee
angebracht.
Die Fahrt mit dem Polizeiboot von der Sandbank zur Insel dauerte nicht lange. Henk hatte das Boot im Jachthafen von Vlieland vertäut, der nicht weit entfernt vom Dorf lag. Den Rest der Strecke hatten sie mit dem Streifenwagen zurückgelegt, einem wuchtigen Jeep mit Vierradantrieb, mit dem man auch auf dem Strand gut vorankam, was sehr nützlich sein konnte, wie Henk Griet erklärte. Nach einem Sturm musste er die Insulaner gelegentlich davon abhalten, sich vorschnell Strandgut anzueignen, das im Norden der Insel angespült worden war. Entgegen der allgemeinen Rechtsauslegung der Vlieländer war dieses nämlich erst dann herrenlos, wenn der bisherige Besitzer auf sein Eigentum verzichtete. Vorher durfte der Finder es sich also nicht unter den Nagel reißen. Was natürlich trotzdem geschah; ein zwanzig Kilometer langer Strand war nicht so einfach zu überwachen. So hatten sich im vergangenen Frühjahr viele Dorfbewohner eine neue Terrasse gezimmert, nachdem einem Frachtschiff vor der Insel zwei Paletten Teakholz über Bord gegangen waren. Ein andermal hatte Henk am Strand einen leeren Seecontainer vorgefunden, dessen Ladung, Joggingschuhe aus China, zu Spottpreisen bei eBay angeboten wurde, Absenderadresse vieler Verkäufer: Oost-Vlieland.
Vor der Polizeiwache schaltete Henk den Motor aus und wandte sich Griet zu. »Bevor wir reingehen, sollten wir vielleicht ein klares Wort über unsere Zusammenarbeit sprechen«, sagte er. »Nur, damit später keine Missverständnisse aufkommen.«
»Zeker
– sicher«, antwortete Griet, der es nicht ungelegen kam, dass er dieses Thema ansprach. Die Polizeireform von 2013, die eine Neueinteilung der Zuständigkeiten in den Regionen und Distrikten mit sich gebracht hatte, sah auch einen offeneren Austausch zwischen den Hierarchieebenen des Polizeikorps vor. Übergeordnete Einheiten leiteten bei einem Kapitalverbrechen wie diesem zwar die Ermittlungen, jedoch sollten die Teams vor Ort sie unterstützen, schließlich standen diese in direktem Kontakt zur Bevölkerung und verfügten häufig über entscheidende Informationen. Griet wusste allerdings aus dem Alltag, dass es sich hierbei vor allem um theoretische Überlegungen handelte, die sich jemand am grünen Tisch gemacht hatte. Die örtlichen Einheiten empfanden die Zusammenarbeit mit übergeordneten Ermittlern oft als eine Einmischung in ihre Angelegenheiten – eine durchaus nachvollziehbare Wahrnehmung – und zeigten sich daher nicht immer besonders kooperativ.
Henk schien, aus welchem Grund auch immer, ein anderes Verständnis zu haben. Er sagte: »Ich werde dir bei den Ermittlungen keine Steine in den Weg legen. Ich kenne die Insel und die Bewohner, und mein Wissen stelle ich dir gern zur Verfügung.«
»Ich fühle mich geehrt«, erwiderte Griet und hob eine Augenbraue. »Ganz blöd bin ich aber nicht. Du willst sicher eine Gegenleistung dafür. Also?«
»Ich möchte nur, dass du mich nicht außen vor lässt. Informier mich über die Ermittlungsschritte und Erkenntnisse, als wären wir in einem Team.« Henk setzte ein schiefes Lächeln auf – und unwillkürlich lächelte Griet zurück. Schnell schüttelte sie das Gefühl der Vertraulichkeit ab, das sich hatte einstellen wollen. Henk van der Waal war ihr sympathisch, das musste sie zugeben.
»Warum sollte ich das nicht tun?« Griet zuckte die Schultern. »So sind doch die Spielregeln …«
»Komm schon, du weißt, wie das üblicherweise abläuft«, sagte Henk. »Du zapfst mein Wissen an, lässt mich ansonsten aber außen vor. Die Inselbewohner vertrauen mir. Wenn ich nicht auf dem Laufenden bin, lässt mich das vor ihnen ziemlich dumm aussehen.«
»Einverstanden.« Griet streckte die Hand aus. »Im Gegenzug stehen du und deine Assistentin mir zur vollen Verfügung. Ihr kocht das Alltagsgeschäft auf kleiner Flamme und gebt unseren Ermittlungen Priorität.«
»Abgemacht.« Henk nahm Griets Hand mit warmem, festem Griff.
»Uitstekend –
hervorragend«, sagte Griet, die seine Hand in geschäftlicher Manier drückte, bevor sie ihre wieder zurückzog.
Sie öffnete die Wagentür, stieg aus und folgte Henk die kleine Steintreppe mit schwarzem Messinggeländer hinauf, die zum Eingang der Wache führte. Das Innere des Gebäudes zeigte überraschenderweise nur wenig von dem Charme, den das Äußere ausstrahlte. Die Einrichtung war allenfalls zweckmäßig, und die verputzten Wände konnten einen neuen Anstrich vertragen. Ein Heizlüfter auf dem Boden blies warme Luft in den Raum.
Hinter einem kleinen Empfangsschalter, an dem Karen den Bosch telefonierte, standen zwei schlichte Schreibtische, davor jeweils zwei ebenso schlichte Besucherstühle aus blauem Plastik. Auf einem von ihnen saß Marc Martens, ihm gegenüber auf dem Bürostuhl Pieter.
Griet staunte nicht schlecht. Pieter schien die gemütliche Art der Zeugenbefragung zu bevorzugen und hatte offenbar einen adäquaten Ersatz für das entgangene Pfannkuchenessen gefunden. Jeder der beiden Männer hatte eine Tasse dampfenden koffie
vor sich, und zwischen ihnen in der Mitte des Tisches lagen auf einem Teller appelflappen,
jene dreieckigen, mit Zucker bestreuten Apfeltaschen aus Blätterteig, die am besten schmeckten, wenn sie frisch und warm aus dem Ofen kamen.
Pieter erhob sich und bedeutete Griet, sich auf seinen Stuhl zu setzen.
»Möchtest du auch einen?«, fragte er und wies auf den Teller mit dem Gebäck. »Ich habe sie eben vom Bäcker gegenüber geholt.«
Griet lehnte dankend ab. »Wie weit bist du mit der Befragung?«
»Noemi nimmt gerade die Aussage von Klaas Verhoeven auf«, sagte Pieter und deutete auf eine Tür im hinteren Teil des Raums. »Die von meneer
Martens habe ich bereits zu Protokoll genommen. Wir haben grad noch über den neuen Bondscoach geredet. Der ist viel zu alt, um einen Umbruch in der Nationalmannschaft einzuleiten, meneer
Martens findet aber, dass seine Erfahrung gerade den jungen Spielern …«
Für Fußball hatte sich Griet noch nie interessiert, sie wunderte sich immer wieder, wie wichtig das Thema für Männer war, um Small Talk zu machen. Wobei ihr durchaus die Inbrunst und Ausdauer imponierten, mit der viele ihrer Kollegen und Freunde ihre Gedanken einer Mannschaft widmeten, die sich in jüngster Vergangenheit nicht gerade mit Ruhm bekleckert hatte. Offenbar waren diese Überlegungen ihrem Gesichtsausdruck anzusehen.
Pieter setzte eine ernste Miene auf und nahm Griet beiseite.
»Ich habe Martens in ein Gespräch verwickelt, damit er noch dableibt«, sagte er im Flüsterton. »Der gute Mann scheint mir nicht die hellste Kerze auf der Torte zu sein, aber ich bin bei seiner Aussage auf ein interessantes Detail gestoßen, oder sagen wir lieber, es ist die Art, wie er über ein bestimmtes Detail spricht. Ich glaube, du solltest dir das anhören …«
Pieter sah Griet über seine Hornbrille hinweg mit bedeutungsvollem Blick an. In ihrem Hinterkopf regte sich die Ahnung, dass ihr neuer Kollege vielleicht doch etwas mehr als nur Pfannkuchen und appelflappen
im Kopf hatte.
Griet zog den Parka aus, hängte ihn über die Lehne des Stuhls und setzte sich. Henk hatte sich kurz mit seiner Kollegin unterhalten, die ihr Telefonat beendet hatte, kam nun zu ihnen herüber und hockte sich auf die Tischkante.
Dann stellte sie sich Marc Martens vor und musterte ihn: gelocktes, etwas fettiges blondes Haar, speckiger Wollpulli, zerschlissene Jeans. Was auch immer der Mann beruflich trieb, reich war er damit bislang noch nicht geworden, oder er legte schlicht keinen Wert auf sein Äußeres.
»Muss ich euch jetzt alles noch mal erzählen?«, fragte Martens gelangweilt und zeigte auf das Aufnahmegerät, das auf dem Tisch lag. »Ist doch schon alles im Kasten.«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht.« Griet lächelte beflissen.
»Okay … Also, Verhoeven hatte mein Boot für heute gemietet …«
»Ihr Boot? Verchartern Sie es?«
»Nee, oder doch, ja«, erwiderte Martens. »Im Sommer fahre ich mit dem Boot die Touris zum Robbengucken zur Sandbank. Jetzt ist aber noch tote Hose, und da muss ich halt sehen, wie ich Moos zusammenkratze.«
Henk schaltete sich in das Gespräch ein. »Marc betreibt einen Strandpavillon auf dem Nordstrand«, erklärte er. »Ich denke, was er sagen möchte, ist, dass es ihm wie den anderen Inselbewohnern geht: Außerhalb der Saison ist es schwierig, Geld zu verdienen, da hat jeder einen kleinen Nebenjob …«
»Precies,
Henk, genau so ist es«, sagte Martens. »Und Verhoeven wollte eben auf die Sandbank, um sich da irgendein Wrack anzugucken. Warum er deswegen in aller Herrgottsfrühe dahin musste, hab ich irgendwie nicht ganz kapiert.« Er gähnte demonstrativ.
»Wie viel hat Verhoeven Ihnen für Ihre Dienste denn gezahlt?«, wollte Griet wissen.
»Zweihundert Euro, der war ganz heiß auf den Trip. Unter uns, ich hätte es auch für fünfzig gemacht.« Martens grinste.
»Okay, Sie haben ihn also zur Sandbank gebracht. Was geschah dann?«
»Er ging hinüber zu diesem Wrack oder den Resten davon … Und dann kam er zurückgerannt, ganz grün im Gesicht. Ich dachte schon, der kotzt mir vor die Füße.«
»Da hatte er wohl die Leiche entdeckt«, sagte Griet.
»Ja, also bin ich rüber, um mir das selbst anzusehen … und na ja, und da lag er dann.«
»Kannten Sie Vincent Bakker?«
Marc Martens hatte sich gerade ein weiteres Stück appelflappen
in den Mund geschoben und hustete, als hätte er sich daran verschluckt. »Na klar, er war doch mein Cousin.«
Griet bemerkte, wie Pieter, der seitlich neben dem Zeugen saß, sodass dieser ihn nicht sehen konnte, ihr zunickte und die Augenbrauen ein Stück hob.
»Mein aufrichtiges Beileid«, sagte Griet, während Martens weiter auf seinem Gebäckstück kaute. »Das muss ein schwerer Schlag für Sie gewesen sein.«
Martens hielt inne, als wäre ihm gerade aufgegangen, dass er vielleicht etwas mehr Betroffenheit über den Tod eines nahen Verwandten zeigen sollte. Er legte das halb abgebissene Stück appelflappen
auf den Teller zurück.
»Jawell, zeker weten
… das hat mich echt total umgehauen … also, ich meine, deshalb habe ich ja dann auch gleich die Polizei gerufen, falls er noch lebt, wobei, mir war natürlich klar, der ist tot … Also, verstehen Sie, was ich meine …?«
Griet ließ eine Pause entstehen. Martens hatte ein wenig von seiner Selbstsicherheit eingebüßt und kam ins Schwimmen. Sie blickte kurz zum Fenster hinaus. Die Wolkendecke war aufgerissen, ein Lichtstrahl fiel durch das milchige Fensterglas und erhellte den Raum, sodass man die feinen Staubpartikel in der Luft tanzen sehen konnte.
»Ich denke, ich verstehe perfekt, was Sie meinen, meneer
Martens. Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Ihrem Cousin beschreiben?«
»Er … also, er war ein echt dufter Typ, alle mochten ihn, und die Leute haben gern ein pilsje
mit ihm getrunken«, antwortete Martens unsicher.
»Mich interessierte eher, wie Sie persönlich zu ihm standen.«
»Ach so, na ja, wir … wir waren oft zusammen im Oude Veermann
…«
»Eine sehr beliebte Kneipe hier im Ort«, schob Henk erklärend ein.
»Ich … ich habe doch alles erzählt«, sagte Martens. »Kann ich jetzt gehen? Ich habe noch einiges zu erledigen … die Saison fängt bald an.«
»Wir haben Ihre Aussage aufgezeichnet«, erklärte Pieter, »und müssen sie Ihnen der Ordnung halber noch mal vorspielen. Sie müssen dann erklären, ob Sie damit einverstanden sind oder Einwände haben.«
Martens hob abwehrend die Hände. »Nein, nein … schon gut, alles in Ordnung so. Wie gesagt, ich muss jetzt wirklich los.«
Pieter nahm das Aufnahmegerät in die Hand und hielt es ihm entgegen. »Dann äußern Sie bitte in einem vollständigen Satz, dass Sie darauf verzichten, Ihre Aussage noch mal anzuhören.«
Martens tat, wie ihm geheißen, und sah Henk an. »Mein Gott, macht ihr immer so einen Aufstand?«
»Du kennst doch das alte Sprichwort«, sagte Henk und klopfte ihm auf die Schulter. »Die Deutschen haben die Bürokratie erfunden, die Niederländer haben sie perfektioniert!«
Griet erhob sich und streckte die Hand aus. »Vielen Dank für Ihre Hilfe, meneer
Martens, und entschuldigen Sie, dass wir Sie so lange aufgehalten haben. Erlauben Sie, dass wir uns erkenntlich zeigen – der Kollege de Vries wird Sie gern nach Hause bringen.«
Während Marc Martens zum Ausgang ging, nahm Griet Pieter beiseite.
»Lass dir die Autoschlüssel für den Streifenwagen geben«, sagte sie. »Horch den Kerl auf der Fahrt noch ein wenig aus. Ich will alles über ihn wissen. Wo dieser Strandpavillon ist, den er betreibt, was er in seiner Freizeit macht, Freundin, Frau, Kinder, das ganze Programm, und vor allem: Welche Beziehung hatte er wirklich zu seinem Cousin?«
Pieter nickte, nahm die Schlüssel von Karen entgegen, setzte seine Schiebermütze auf und folgte Marc Martens.
Griet sah den beiden nach. Martens mochte ein einfältiger Bursche sein, eine gewisse Bauernschläue und Geldgier gingen ihm aber nicht ab. Und sie war überzeugt davon, dass der Tod von Vincent Bakker ihn nicht im Geringsten berührte.
***
»Professor Verhoeven wollte mir gerade erklären, was ihn am frühen Morgen auf die Sandbank geführt hat«, sagte Noemi, als Griet den Vernehmungsraum betrat. Offenbar hatte sie etwas länger für die Formalitäten gebraucht als ihr erfahrener Kollege. Das Zimmer hatte wenig mit jenen Räumlichkeiten gemein, in denen Griet üblicherweise Zeugen und Verdächtige befragte. Zwar gab es einen Tisch und Stühle, ansonsten wirkte der Raum eher wie eine Abstellkammer. An den Wänden waren Regale angebracht, in denen Aktenkartons, Ausrüstungsgegenstände, ausgediente Telefone und EDV
-Geräte lagerten. Offensichtlich waren Vernehmungen auf Vlieland nicht an der Tagesordnung.
»Dann komme ich ja im richtigen Moment. Machen wir einfach weiter«, sagte Griet, stellte sich Verhoeven vor und setzte sich auf den Stuhl neben Noemi, die dem Zeugen am Tisch gegenübersaß. Verhoeven trug eine Jeans, die an den Beinen mit Resten von Sand und Schlick verschmutzt war, dazu ein rot-blau kariertes Hemd und einen blauen Pullunder.
»Nun«, sagte Verhoeven, »wie ich Ihrer Kollegin gerade erklärte, bin ich Unterwasserarchäologe und spezialisiert auf alte Schiffswracks.«
»Ist das Wattenmeer dafür denn eine interessante Stelle?«, fragte Noemi.
»Aber natürlich, das Watt wird allgemein unterschätzt, was seinen kulturhistorischen Wert angeht.« Verhoeven lächelte. »In unseren Datenbanken sind rund sechzigtausend Stellen vor der niederländischen Küste markiert, an denen etwas auf dem Meeresboden liegt.«
»Lauter versunkene Schiffe?«
»So genau kann man das leider nicht sagen. Es können Wracks sein, aber auch Container und Anker oder Reste menschlicher Zivilisation – immerhin waren das Watt und die Nordsee vor langer Zeit einmal bewohntes Land.«
»Wie spüren Sie denn solche Schiffe auf?«, schaltete sich Griet ein. »Und machen Sie so was oft?«
»Natürlich, ich war erst im vergangenen Jahr an der Bergung eines Wracks vor Texel beteiligt, einem Handelsschiff aus dem siebzehnten Jahrhundert«, sagte Verhoeven und klang dabei fast ein wenig beleidigt. »Viele Schiffe der niederländischen Ostindien-Kompanie lagen damals vor Texel auf Reede. Unser Fund stammte aus einer Zeit, in der man begann, größere Schiffe zu bauen, die mehr Güter fassten, gleichzeitig aber mit einer kleineren Mannschaft auskamen. Wir fanden sogar Reste der Ladung, Garn aus dem Baltikum. Das Geld aus dem Verkauf investierte man in den Aufbau der Ostindien-Kompanie. Das Schiff muss zusammen mit etwa zwanzig anderen am Weihnachtsabend 1593 vor Texel in einem heftigen Sturm gesunken sein. Wir fanden heraus, dass einer der Versicherer, der Kaufmann und Dichter Roemer Visscher, von dem Verlust so nachhaltig beeindruckt war, dass er seine gerade geborene Tochter Maria Tesselschade nannte …« Verhoeven lachte laut. »Sie verstehen: Tesselschade – Texelschaden …«
Griet unterbrach Verhoeven mit einer Handbewegung in seinem Redefluss, bevor die Befragung vollends zu einer kulturhistorischen Vorlesung ausartete. »Warum haben Sie denn angenommen, dass Sie heute ausgerechnet auf dieser Sandbank vor Vlieland ein Wrack finden würden?«
»Wir beobachten das Watt inzwischen sehr genau«, erklärte Verhoeven, »um zu retten, was noch zu retten ist.«
Noemi hob fragend die Augenbrauen. »Wie meinen Sie das?«
Der Professor räusperte sich. »Seit 1932 der Abschlussdeich zwischen Den Oever und Harlingen gebaut wurde, erodiert der westliche Teil des Wattenmeers durch die Strömungen, die vom Deich reflektiert werden und den Sand im Watt ordentlich durcheinanderwirbeln. Dazu kommt der Klimawandel mit dem Ansteigen des Meeresspiegels, wodurch neue Strömungen sowie Tiefen und Untiefen entstehen. Das sind gigantische Veränderungen, die da stattfinden, und sie lassen Wracks an Stellen aus dem Sandboden auftauchen, wo man es lange nicht für möglich gehalten hätte. Tritt so ein Fall ein, muss man schnell sein.«
»So wie heute Morgen.«
»Ja, wir vermuten schon seit Langem an dieser Stelle ein Wrack. Und heute Morgen hatten wir ein historisches Niedrigwasser, die Sandbank wäre ansonsten gar nicht an dieser Stelle begehbar«, fuhr Verhoeven fort. »Ich habe mich deshalb von meneer
Martens bei ablaufendem Wasser dorthin fahren lassen, um möglichst viel Zeit vor Ort verbringen zu können.«
»Was haben Sie dort getan?«, fragte Griet.
»Nun, ich war natürlich sehr froh, als ich das Wrack tatsächlich aus dem Wasser auftauchen sah. Leider war es nicht so gut erhalten, wie ich gehofft hatte. Ich machte dennoch ein paar Fotos …«
»Moment«, unterbrach Griet ihn, »Sie hatten eine Fotoausrüstung dabei?«
»Professor Verhoeven hat sich schon bereit erklärt, uns Kopien der Fotodateien zu überlassen«, schob Noemi ein.
»Danke«, sagte Griet. »Erzählen Sie weiter.«
»Ich machte also Fotos, und dann sah ich durch den Sucher, dass da etwas in den Spanten des Wracks lag. Ich bin hingegangen und …« Er sprach nicht weiter, offenbar erinnerte er sich nur ungern an seinen grässlichen Fund.
»Mir ist klar, dass das schwer für Sie ist«, sagte Griet, »aber ich muss wissen, was Sie genau gesehen haben.«
»Ich ging näher heran … Er lag in eine Plastikplane eingehüllt zwischen den Spanten und … seine glasigen Augen blickten mich durch die Folie direkt an …«
»Haben Sie oder meneer
Martens irgendetwas am Fundort verändert?«, fragte Noemi.
»Nein, wir haben sofort die Polizei verständigt … und dann ist natürlich keiner von uns beiden noch mal dorthin gegangen.«
»Sagen Sie, wie hat meneer
Martens auf den Leichenfund reagiert?«, fragte Griet.
»Er … nun ja, er war doch recht gelassen. Worüber ich sehr froh war, denn … ehrlich gesagt hätte ich nicht gewusst, was ich tun sollte.«
Griet dankte Verhoeven für seine Auskunft, sagte, dass er nun gehen könnte, sich allerdings telefonisch zur Verfügung halten sollte, falls es später noch Fragen gab. Noemi begleitete ihn nach draußen.
Verhoevens Aussage stimmte mit der von Marc Martens überein. So wie es schien, hatten sie den Fund von Vincent Bakkers Leiche lediglich einem Zufall zu verdanken. Ohne das außergewöhnliche Niedrigwasser wäre sein toter Körper vermutlich für alle Zeit in den eisigen Fluten der Nordsee verschwunden.
Griet hatte wenig Zweifel an der wahrheitsgemäßen Aussage über den Grund, aus dem die beiden Zeugen sich am Morgen auf der Sandbank aufgehalten hatten. Bei Klaas Verhoeven war es äußerst unwahrscheinlich, dass er etwas mit der Tat zu tun hatte, er schien keinerlei Verbindung zu dem Toten zu haben und ging als Wissenschaftler völlig in seiner Arbeit auf – eine Leiche passte ihm da sicher nicht in den Kram.
Marc Martens würde Griet hingegen auf den Zahn fühlen. Sein Verhältnis zu dem Toten konnte durchaus interessant sein.