6 Ein Haus mit Geschichte
D as Badhotel, dessen Betreiber Vincent Bakker gewesen war, befand sich von der Wache aus gesehen nur wenige Häuser weiter die Dorpstraat hinunter. Griet folgte Henk. Wie sie wusste, war Emma Bakker, die Frau von Vincent Bakker, bereits über den Tod ihres Mannes informiert. Üblicherweise überbrachte man solch schlechte Nachrichten persönlich, in diesem Fall fand Griet es aber verständlich, dass Henk von der Routine abgewichen war und die Witwe per Handy von der Sandbank aus informiert hatte: Auf einer kleinen Insel wie Vlieland verbreiteten sich Neuigkeiten erfahrungsgemäß zügig, und schlechte Nachrichten taten dies am schnellsten.
Ganz recht war es Griet aber nicht, dass sie nun die erste Reaktion der Ehefrau nicht gesehen hatte, auch wenn sie es eigentlich hasste, die Todesbotin sein zu müssen. Jemandem den Tod eines geliebten Menschen zu verkünden, dazu noch einen gewaltsamen, und das Entsetzen und die Trauer in ihren Gesichtern zu sehen, war jedes Mal aufs Neue ein schlimmer Moment. Griet hatte sich über die Jahre eine Art zweite Haut zugelegt, die sie davor schützte, die Emotionen der Hinterbliebenen zu nahe an sich heranzulassen – nicht nur um ihres eigenen Seelenheils willen, sondern auch, um eine professionelle Distanz zu wahren und für die feinen Nuancen im Gesicht ihres Gegenübers offen zu sein. Denn als Ermittlerin empfand Griet die Situation als überaus aufschlussreich. Wie jemand reagierte, wenn man ihn damit konfrontierte, dass ein Angehöriger gestorben war, hatte in so manchem Fall schon erste Hinweise auf den Täter geliefert.
Als sie vorhin um die Mittagszeit auf der Insel angekommen waren, hatte die Dorpstraat wie verlassen dagelegen. Nun war es kurz vor vier Uhr am Nachmittag, und das Dorf war aus dem Dornröschenschlaf erwacht – wach geküsst von einer Fähre, die ihr Kommen mit dem Schiffshorn angekündigt hatte. Auf der Straße wimmelte es von Fahrradfahrern und Fußgängern, die Besorgungen machten oder auf dem Weg zum Hafen waren, und gerade angekommene Touristen suchten den nächstbesten Fahrradverleih auf oder wanderten mit Rucksäcken und Trolleys zu ihren Hotels und Ferienhäusern. Vlieland war praktisch eine autofreie Insel, wie Henk ihr erklärt hatte, lediglich die Insulaner durften über motorisierte Fahrzeuge verfügen, die Besucher waren auf Fahrräder oder gutes Schuhwerk angewiesen. Wer es bequem wollte, konnte sich alternativ mit einem Elektrobus über die Insel kutschieren lassen.
»Kanntest du Vincent Bakker gut?«, fragte Griet im Gehen.
»Schon, das bleibt auf einer so kleinen Insel nicht aus.« Henk deutete mit einem Nicken auf das Haus zu ihrer Rechten. »Das ist es.«
Das Badhotel war im Kolonialstil erbaut, mit weißer Klinkerfassade, Schlagläden an den Butzenscheiben und einem hölzernen Wintergarten als Vorbau. Es strahlte bereits von außen das gediegene Flair eines kleinen, aber feinen Betriebs aus, der seit langer Zeit erfolgreich geführt wurde.
Der Empfangstresen der Rezeption, ein Quader mit Eichenvertäfelung und Marmorplatte, war unbesetzt. Henk betätigte die Klingel. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raums befand sich ein offener Kamin, in dem ein Feuer prasselte, davor standen zwei Ohrensessel mit einem Beistelltisch in der Mitte. Es dauerte nicht lange, und aus dem Hinterzimmer kam ein älterer Herr mit Glatze in einem exakt sitzenden, dunkelblauen Zweireiher mit Krawatte und Weste. Es handelte sich um den Concierge des Hotels, Guus van Schouten, und rein dem Aussehen nach schätzte Griet, dass er fast so alt sein musste wie das Hotel, mindestens um die siebzig. Er erklärte ihnen, wie sehr das Ableben ihres Gemahls mevrouw Bakker getroffen habe, dass sie aber bereit war, die Herrschaften in ihrem Büro zu empfangen.
Guus van Schouten führte sie aus dem Eingangsbereich in den hinteren Teil des Gebäudes, durch einen schmalen Flur mit rotem Läufer, offenbar eine Art Ahnengalerie mit einem handgemalten Porträt und gerahmten Fotos an den Wänden.
»Wer ist das?«, fragte Griet den Concierge, und er blieb vor einem handgemalten Porträt stehen. Es war nicht sehr groß, aber der Ausdruck der Gesichter zeugte von Stolz und von noch etwas anderem. Das ältere Ehepaar, vor schwarzem Hintergrund, der Mann stehend, die Frau neben einem Beistelltisch mit Blumen sitzend, wirkte auf eine merkwürdige Weise wie Staatsleute.
»Das sind Aad und Sjan Koopmanns, Gott hab sie selig«, erklärte Guus van Schouten. »Die Großeltern des verstorbenen meneer Bakker.«
»Haben die beiden das Hotel gegründet?«
»Sozusagen. Das Badhotel war ursprünglich eine kleine Pension und befand sich nach dem Krieg in einem schlimmen Zustand. Aad und Sjan kauften den Betrieb und führten das Hotel zu neuer Blüte.«
»Haben Sie die beiden noch kennengelernt?«
Van Schouten neigte den Kopf leicht zur Seite und machte ein so indigniertes Gesicht, als sei es verwerflich, eine solche Frage überhaupt zu stellen.
»Natürlich«, sagte er. »Zwei sehr feine Menschen, aufrichtig und tatkräftig, wie man sie heute nur noch selten findet. Ich habe alles von ihnen gelernt. Ich war damals noch sehr jung. Es ist vermutlich eine Gnade Gottes, dass sie den heutigen Tag nicht mehr erleben mussten.«
Auf jeden Fall hat das Badhotel wohl reiche Früchte für die Koopmanns’ getragen, dachte Griet und trat näher an das Bild heran. Aad Koopmanns hatte einen Smoking an, seine Frau ein weißes Abendkleid. Um den Hals trug die Hotelgründerin ein ungewöhnliches wabenförmiges Medaillon, das sicherlich ein paar Gulden gekostet hatte. Die Anfertigung eines solchen handgemalten Porträts war für die Zeit, in der es entstanden war, ungewöhnlich und konnte nicht billig gewesen sein.
Griet ging zwei Schritte weiter zu den Fotos, auf denen ebenfalls je ein Ehepaar zu sehen war, den Kleidern nach zu urteilen, offenbar aus den Achtzigerjahren.
Van Schouten deutete auf das rechte der beiden Fotos. »Roos Martens, eine der zwei Töchter der Koopmanns’, und ihr Mann Jan Martens. Sie übernahmen das Hotel, nachdem sich Aad und Sjan zur Ruhe gesetzt hatten.«
»Sind Roos und Jan mit Marc Martens verwandt?«, fragte Griet.
»Ja, precies. Sie sind seine Eltern.« Er zeigte auf das andere Foto. »Anna Bakker, die zweite Tochter der Koopmanns’, mit ihrem Mann Thijs. Sie sind die Eltern des verstorbenen Vincent Bakker, der das Hotel später von seiner Tante Roos Martens erworben hat.«
Griet bemerkte, dass Roos Martens ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten glich, während zwischen Anna Bakker und ihren Eltern nicht die geringste Ähnlichkeit bestand. »Sagen Sie, waren die beiden die leiblichen Kinder der Koopmanns’?«
»Nur Roos Martens«, erwiderte van Schouten. »Anna Bakker war das Adoptivkind der Koopmanns’.«
»Ich nehme an, sie lebt noch?«
»Wenn man das so nennen will«, erwiderte van Schouten. »Anna Bakker verbringt ihren Lebensabend in einem Heim auf dem Festland … Ihr Verstand lässt sie seit geraumer Weile im Stich. Vielleicht ebenfalls ein Geschenk des Schicksals, so erlebt sie den Tod ihres Sohnes nicht mehr bei klarem Bewusstsein. Ihr Mann ist vor einigen Jahren gestorben, Roos und Jan Martens weilen ebenfalls nicht mehr unter uns.«
Griet nickte und dachte daran, wie viele Menschen sie in den vergangenen fünf Jahren verloren hatte – erst ihren Vater, dann Bas und beinahe auch ihre ungeborene Tochter, als sie mit der Schussverletzung ins Krankenhaus eingeliefert worden war.
»Der Tod ist die einzige Konstante in unser aller Leben«, sagte sie nachdenklich, während sie noch einmal das Porträt der Koopmanns’ musterte.
»Dem ist wohl so«, erwiderte der Concierge, »und es ist überaus tragisch, dass er ausgerechnet jetzt den jungen meneer Bakker geholt hat.«
»Wie meinen Sie das?«
»Nun ja«, sagte van Schouten leise, als habe er sich dabei ertappt, etwas zu leichtfertig dahingesagt zu haben, »es ist wegen des neuen Hotels … Es ist umstritten, und meneer Bakker hat sich sehr für das Projekt eingesetzt und alle Parteien hinter sich versammelt. Darin war er äußerst geschickt.«
»Und was soll das für ein neues Hotel werden?«
»Es entsteht drüben in den Dünen, direkt am Strand. Wobei jetzt natürlich nicht sicher ist, wie es weitergehen wird …« Er räusperte sich. »Wenn Sie mir nun bitte folgen wollen, mevrouw Bakker erwartet Sie bereits.«
***
Das Büro von Emma Bakker befand sich in der ersten Etage des Hauses und bot einen Blick über die Deichkrone hinweg auf das Wattenmeer, das inzwischen wieder vollständig aufgelaufen war und dessen Wellen sich im Wind kräuselten.
Emma Bakker beugte sich über den Schreibtisch, der am Fenster stand. Soweit Griet sehen konnte, studierte sie eine Reihe von Ausdrucken mit Zahlenkolonnen und Tabellen, daneben lagen zusammengefaltete Grundrisszeichnungen. Offenbar hatte sie den ersten Schock über den Tod ihres Mannes bereits überwunden. Sie schien vertieft in ihre Arbeit und blickte erst auf, als Guus van Schouten das Zimmer verließ und die Tür hinter sich schloss.
Griet stellte sich vor und reichte ihr die Hand. »Ich möchte Ihnen unser Beileid zum Tod Ihres Mannes aussprechen.«
»Vielen Dank«, erwiderte Emma Bakker, ergriff Griets dargebotene Hand und nickte Henk dann zu. »Und dir ebenfalls vielen Dank, dass du mich sofort verständigt hast.«
»Selbstverständlich«, meinte er. »Es tut mir sehr leid für euch.«
»Mevrouw Bakker, Sie sollten wissen …«, setzte Griet an, doch Emma Bakker hob die Hand.
»Warten Sie, ich habe Guus gebeten, unsere Tochter Neeltje zu holen«, sagte sie. »Setzen wir uns doch so lange. Möchten Sie etwas trinken?« Sie wies auf zwei dunkelbraune Ledersofas, die eine Ecke des Raums ausfüllten. Auf dem Tisch dazwischen standen eine Kanne und Tassen.
Während Emma Bakker ihnen koffie einschenkte, musterte Griet die Frau. Sie trug einen dunkelblauen Businessanzug, hatte die schwarzen Haare zu einem strengen Zopf zusammengebunden und ihr Gesicht sorgfältig geschminkt. In ihrem Mienenspiel – den leicht nach unten gezogenen Mundwinkeln, dem niedergeschlagenen Blick – lag Trauer. Diese wurde allerdings von den Augen der Frau widerlegt, denn es waren nicht die geröteten Augen von jemandem, der den Tod des Lebenspartners ausgiebig beweint hatte – zumal sie sich offenbar ohne Umschweife ins Tagesgeschäft gestürzt hatte. Allerdings hatte Griet gelernt, sich von solchen Beobachtungen nicht irreführen zu lassen, weder von offen dargestellten Emotionen noch von deren scheinbarer Abwesenheit. Für sie galt es, eine kritische Distanz einzunehmen: Und es war nicht unüblich, dass Angehörige sich nach einer solchen Schreckensmeldung in Geschäftigkeit stürzten, um Normalität zu wahren, und dass sich die Emotionen erst später Bahn brachen.
Die Tür öffnete sich, und der Concierge ließ eine junge Frau eintreten, fast noch ein Mädchen, schätzungsweise achtzehn oder neunzehn Jahre alt. Neeltje hatte blondes Haar und trug Dienstmädchenkleidung. Nachdem sie sich zu ihrer Mutter auf die Couch gesetzt hatte, den Blick verlegen zu Boden gerichtet, drückte Griet erneut ihr Beileid aus, und Neeltje bedankte sich schüchtern.
»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Mann und Ihr Vater keines natürlichen Todes gestorben ist«, eröffnete Griet den beiden. »Nach unseren bisherigen Erkenntnissen können wir einen Unfall oder einen Suizid höchstwahrscheinlich ausschließen. Wir müssen davon ausgehen, dass er ermordet wurde.«
Emma Bakker schlug eine Hand vor den Mund und stöhnte auf, Neeltje hob den Blick und sah Griet mit einem Ausdruck auf dem Gesicht an, der zwischen Überraschung und etwas anderem lag, das Griet in dem Moment nicht ganz greifen konnte.
»Wir ermitteln in diesem Todesfall«, erklärte Griet, »und ich versichere Ihnen, dass wir herausfinden werden, was ihm zugestoßen ist.« Sie wartete einen Moment, bis Emma Bakker und ihre Tochter sich wieder gefasst hatten. »Ich werde Ihnen deshalb nun einige Fragen stellen, wenn Sie einverstanden sind.«
Emma Bakker nickte. »Natürlich, wir helfen Ihnen, wo wir nur können.«
»Wann haben Sie Ihren Mann zum letzten Mal lebend gesehen, mevrouw Bakker?«
Emma Bakker überlegte kurz. »Wir planen gerade den Neubau eines Hotels«, sagte sie dann. »Vincent war deshalb gestern den ganzen Tag mit einer Investorengruppe auf der Insel unterwegs. Er kam am frühen Abend kurz ins Hotel zurück, ging dann aber auch bald wieder.«
»Können Sie sich an die ungefähre Uhrzeit erinnern?«
»Er muss so gegen halb sechs gekommen und … kurz vor sechs wieder gegangen sein.«
Griet sah zu Neeltje hinüber. »Und wann haben Sie Ihren Vater zuletzt lebend gesehen?«
Die junge Frau verschränkte die Hände im Schoß und blickte zu Boden. »Das war vorgestern …« Ihre Stimme brach, sie begann zu weinen, und Emma Bakker legte den Arm um sie. »… vorgestern Abend.« Neeltje wischte sich über die Augen und sah auf. »Ich habe noch im Hotel gearbeitet, da … da kam er zu mir.« Sie schluchzte und lehnte sich an ihre Mutter.
Griet sah zu Henk hinüber, der instinktiv begriff, was sie meinte, aufstand und zu der jungen Frau hinüberging. »Das ist alles sehr schwer. Gehen wir raus und besorgen dir etwas zu trinken.«
Henk führte Neeltje aus dem Zimmer hinaus und schloss die Tür hinter sich.
»Wissen Sie, wo Ihr Mann hinwollte, als er gestern Abend das Hotel verließ?«, fragte Griet und nahm den Gesprächsfaden wieder auf.
»Soviel ich weiß, wollte er zur Feier im Oude Veermann, das ist …«
»… eine beliebte Kneipe im Ort, ich weiß.« Griet lächelte. »Hat er gesagt, wie lange er dort bleiben wollte?«
»Nein.«
»Er war also nicht zu Hause, als Sie ins Bett gingen, und Sie haben ihn auch nicht nach Hause kommen hören?«
»Nein, ich habe einen festen Schlaf«, sagte Emma Bakker. »Erst heute Morgen habe ich festgestellt, dass er nicht da ist … und wenig später rief auch schon Henk an.«
»War Ihr Mann regelmäßig im Oude Veermann? «
»Nun, wie soll ich sagen, es war praktisch sein zweites Büro. Wissen Sie, auf einer Insel wie dieser sind die sozialen Kontakte sehr wichtig, und der Veermann ist ein beliebter Treffpunkt im Dorf.«
»Sind Sie auch oft dort?«
»Nein, ich mache mir nicht viel aus Kneipen.«
Griet hielt einen Moment inne. »Verzeihen Sie, aber ich muss das fragen: Trank Ihr Mann viel Alkohol, mevrouw Bakker?«
»Nicht mehr als alle anderen in einer Kneipe.«
»Glauben Sie, dass er den ganzen Abend im Oude Veermann war, oder könnte er danach noch woanders hingegangen sein?«
»Möglich ist es …« Emma Bakker schien einen Moment zu überlegen. »Ich meine, wir hatten gestern Freitag, da bastelt er eigentlich abends immer an seinem Segelschiff.«
»Was ist das für ein Schiff?«
»Ein altes Plattboot«, sagte Emma Bakker. »Er hat es vor Jahren gekauft und restauriert es … so eine Art Hobby.«
Griet hätte liebend gern jemanden gehabt, der das alte Boot ihres Vaters als Freizeitbeschäftigung in Schuss brachte. Sie schob den Gedanken beiseite und konzentrierte sich wieder auf die Befragung. »Wo liegt das Schiff?«
»Es steht an Land, in einer Lagerhalle des Linnenexpress unten am Hafen.«
»Haben Sie Zugang zu der Halle?«
»Nein, nur mein Mann hatte einen Schlüssel.«
»Mevrouw Bakker, wer könnte einen Grund gehabt haben, Ihren Mann zu töten? Hatte er Feinde oder in jüngster Zeit Streit mit jemandem?«
»Nun, wer Geschäfte macht, hat auch schon mal Streit. Aber nicht solchen, wegen dem man jemanden umbringt«, sagte Emma Bakker. »Vincent war sehr beliebt auf der Insel, alle schätzten ihn.«
***
Es war bereits dunkel, als sie ins Freie traten und sich auf den Rückweg zur Wache machten. Griet berichtete Henk von ihrem Gespräch mit Emma Bakker und von Vincents Boot in der Lagerhalle am Hafen.
»Der Linnenexpress versorgt die Ferienhäuser auf der ganzen Insel mit Bettzeug und Handtüchern«, erklärte Henk. »Die haben drüben am Hafen ein paar Hallen. Ich werde mir das mal ansehen.«
»Sollte etwas darauf hindeuten, dass Vincent Bakker sich tatsächlich gestern Abend dort aufgehalten hat, sperr die Halle ab, ich verständige dann die Kriminaltechnik«, sagte Griet.
Sie selbst würde heute Abend mit ihrem Team nach Leeuwarden zurückkehren. Noemi hatte die Anweisung, sich nach einer Unterkunft auf der Insel umzusehen, wo sie für die Dauer der Ermittlungen bleiben konnten.
»Und, wie geht es Neeltje Bakker?«, fragte Griet.
»Ich habe sie zum Concierge gebracht. Er hat sich rührend um sie gekümmert«, sagte Henk. »Sie heißt übrigens nicht Bakker mit Nachnamen, sondern de Jong.«
»Warum das?«
»Vincent Bakker war ihr Stiefvater. Ihr leiblicher Vater ist Luuk de Jong.«
»Lebt er ebenfalls hier auf der Insel?«
»Er betreibt den Vliehorsexplorer «, erklärte Henk. »Das ist ein Geländelastwagen, mit dem bringt er Touristen auf den Vliehors, die große Sandbank im Westen der Insel. Neeltje hat mit der Volljährigkeit wieder seinen Namen angenommen.«
»Weißt du, warum?«
»Keine Ahnung.« Henk zuckte die Schultern, blieb dann abrupt stehen. »Mir fällt gerade ein … Ich war gestern Abend kurz im Oude Veermann zur Jubiläumsfeier, die halbe Insel war dort. Ich stand an der Theke und unterhielt mich mit jemandem. Vincent Bakker war ebenfalls da – und er hatte einen recht heftigen Streit mit Luuk de Jong.«
»Hast du mitbekommen, weshalb?«
»Nein, es war kurz, aber heftig, der Wirt ist dazwischen- gegangen«, sagte Henk. »Ich konnte nicht so lange bleiben.«
»Interessant, vielleicht sollten wir uns einmal mit Luuk de Jong unterhalten«, meinte Griet und wünschte sich erneut, dass solch wichtige Informationen ihrem Inselkollegen nicht tropfenweise in den Sinn kämen. Dennoch fand sie immer mehr, dass es hilfreich war, wenn er ihr zur Seite stand. »Die Leute hier scheinen dich zu mögen«, stellte sie fest. »Wie lange bist du schon auf der Insel?«
»Länger als ich sollte.«
»Wie meinst du das?«
»Üblicherweise wechselt die Leitung der Wache alle zehn Jahre«, erklärte Henk, »damit der Kontakt zwischen Polizei und Einheimischen nicht zu freundschaftlich wird, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Leuchtet mir ein.«
»Ich bin seit 2005 hier. Damals riss sich niemand um den Job auf der Insel, ich war der einzige Bewerber. Daran hat sich nicht viel geändert. Man hat sich also nach Ablauf der üblichen Dienstzeit entschieden, meinen Aufenthalt noch einmal um weitere fünf Jahre zu verlängern.«
Griet rechnete kurz nach. »Das bedeutet, dass du nicht mehr lange hier sein wirst.«
»So sieht es aus, in einem Monat ist dann wirklich Schluss«, sagte Henk. »Ich werde Vlieland vermissen, es ist wunderschön hier: die unberührte Natur, der ellenlange Strand, die Ruhe. Mit den Einheimischen ist das eine andere Sache …« Er lachte, was ihm etwas Jungenhaftes verlieh, und warf ihr einen Seitenblick zu. »Die sind wirklich eine verschworene Truppe. Ich habe sogar nach all den Jahren noch keinen wirklichen Einblick, was hier hinter den Kulissen genau vor sich geht.«
Griet lächelte höflich, nahm sich aber vor, die Zusammenarbeit mit Henk nicht zu vertraulich werden zu lassen. »Dann wird es Zeit, dass wir das herausfinden.«
***
Wenig später erreichte Griet den Fähranleger. Pieter war zum Ticketschalter gegangen, um Fahrkarten zu besorgen, Noemi stand an der Mole und telefonierte. Griet schlenderte ein Stück die Straße hinunter, bis sie an das mächtige Fluttor kam, das den Anfang der Dorpstraat bildete und den kleinen Ort vor Überschwemmungen schützte. Dünner Nebel war aufgezogen und kroch über den Deich ins Dorf hinein, umhüllte die gelben Laternen, die in einer langen Reihe die Straße säumten, und tauchte alles in ein diffuses Licht. Ruhe lag über dem Ort, außer den letzten Fährgästen war niemand mehr unterwegs. Auf dem bewaldeten Hügel über dem Ort thronte wie ein stiller Wächter der Leuchtturm und schickte seinen kreisenden Lichtstrahl in regelmäßigen Abständen über das dunkle Watt. Der Wind rauschte in den Bäumen, die Luft war kühl und feucht.
Griet blickte die kopfsteingepflasterte Dorpstraat hinunter und konnte an ihrem entfernten Ende das Badhotel sehen. Schwer vorstellbar, dass sein Besitzer in einer solchen Idylle gewaltsam ums Leben gekommen war. Dennoch verhielt es sich so. In merkwürdigem Widerspruch dazu stand, dass sein Tod den nächsten Angehörigen offenbar wenig zusetzte. Alle schienen schnell wieder zur Tagesordnung zurückgefunden zu haben.
Selbst wenn Vincent Bakker ein allseits beliebter und angesehener Mann gewesen war, wie alle behaupteten, hatte dennoch jemand einen Grund gehabt, ihn zu töten. Vielleicht hatte die Sache mit dem Neubau des Hotels zu tun, der, wie der Concierge gesagt hatte, die Gemüter erhitzte. Und warum hatte sich Vincent Bakker mit Luuk de Jong in der Kneipe gestritten? Gab es einen Grund, dass Marc Martens den Tod seines Cousins fast zu begrüßen schien? Wie stand es um die Ehe zwischen Vincent und Emma? Und warum hatte Neeltje de Jong den Namen ihres Stiefvaters nicht länger tragen wollen? Warum musste Vincent Bakker sterben?
Griet war sich sicher, sein Mörder befand sich hier auf der Insel.
Und sie würde ihn finden.