8 Das gebrochene Siegel
H enk trat die Zigarette aus, reichte Griet die Hand und half ihr an Land, nachdem das Boot festgemacht hatte. Der Jachthafen von Vlieland lag noch im Dornröschenschlaf. Wo sich in den Sommermonaten die Segler dicht an dicht drängten, dümpelten lediglich ein paar Jachten verlassen im Winterquartier. Das einzige bewohnte Schiff schien ein mittelgroßer Zweimaster auf der gegenüberliegenden Seite des Hafenbeckens zu sein, aus dessen Schornstein Rauch aufstieg.
Jenseits der Hafenmole war einen guten Kilometer entfernt Oost-Vlieland zu erkennen.
Hinter Griet stolperte Noemi unbeholfen an Land und setzte sich auf eine Bank. Sie brauchte wohl noch einen Moment, um sich von der Überfahrt zu erholen. Griet trug ihr auf, sich im Hafen umzusehen, sobald es ihr besser ging. Der Hafenmeister konnte ihr vielleicht eine Aufstellung geben, wer von den Einwohnern ein Boot besaß und ob in der Nacht, als Bakker ermordet worden war, Boote von Touristen im Hafen gelegen hatten.
Henk führte Griet und Pieter um das Hafengebäude herum, einen uniformen Kastenbau mit Supermarkt, Restaurant, sanitären Anlagen und dem Hafenbüro. Direkt dahinter erstreckte sich ein Gewerbegebiet mit Lagerhallen.
»Dem Linnenexpress gehören insgesamt drei Hallen«, erklärte Henk. »Eine davon hatte Vincent Bakker gemietet.«
»Wer betreibt den Linnenexpress? «, fragte Griet.
»Rinus Willemzon.«
»Er weiß Bescheid?«
»Ich hab ihm den Durchsuchungsbeschluss gezeigt. Er war aber ohnehin sofort einverstanden, dass wir uns umsehen. Emma Bakker ist ebenfalls informiert.«
Der Linnenexpress lag am Ende einer Reihe von baugleichen Lagerhallen. In der Halle auf der rechten Seite befanden sich die Wäscherei und das Lager für die Bettwäsche, wie Henk erklärte, auf der linken Seite das Büro der Firma und die Eckhalle von Bakker. Griet sah, dass Noor und die anderen Kriminaltechniker bereits an der Arbeit waren.
Aus dem Büro des Linnenexpress trat ein untersetzter Mann in weißem Kittel.
»Hoi, Henk«, begrüßte er den Inselpolizisten und schüttelte ihm die Hand.
»Rinus, das ist Griet Gerritsen von der Districtsrecherche. «
»Vielen Dank, dass wir uns bei Ihnen umsehen dürfen«, sagte Griet.
Rinus Willemzon fuhr sich mit der Hand über die Glatze. »Wirklich schlimme Sache, das mit Vincent.«
»Seit wann hatte er die Halle gemietet?«, fragte Griet.
»Seit über einem Jahr.«
»Nutzte er sie allein?«
»Überwiegend. Wir haben dort nur ein paar Sachen untergestellt, die wir nicht allzu oft brauchen.«
»Wissen Sie, ob meneer Bakker am Freitagabend in der Halle war?«
»Ja. Er war jeden Freitagabend hier«, antwortete Willemzon.
»Haben Sie ihn am letzten Freitag selbst gesehen?«
»Wir haben uns im Vorbeigehen gegrüßt.«
»Wann war das?«
»So gegen neunzehn dreißig. Ich drehe ab achtzehn Uhr immer meine letzte Runde über die Insel und bringe die bestellten Wäschepakete zu den Ferienhäusern. Ich kam gerade von der Tour zurück, als ich das Licht in der Halle sah.«
Das grenzte den Zeitpunkt der Tat weiter ein. Mei, die Rechtsmedizinerin, hatte geschätzt, dass Bakker zwischen siebzehn Uhr und Mitternacht gestorben war. Um neunzehn Uhr dreißig war er also noch am Leben gewesen, wenn der Wäschereibesitzer die Wahrheit sagte. Das ließ ein Zeitfenster von rund vier Stunden für den Mord.
»Wie lange sind Sie abends für gewöhnlich hier?«, fragte Griet.
»Selten länger als zwanzig Uhr. Letzten Freitag bin ich sofort nach Hause. Meine Frau und ich hatten mit Nachbarn eine Verabredung zum Skatspielen.«
Griet bedankte sich bei dem Mann und ging mit Pieter und Henk hinüber zu der Halle, die Bakker angemietet hatte. Während sie die Schutzkleidung anlegten, blickte sie sich um. Die Gebäude waren alle aneinandergebaut, kein Weg führte zwischen ihnen hindurch. In der Richtung, aus der sie gekommen waren, verlief die Straße bis zum Hafen, in der anderen endete sie an einem grasbewachsenen Erdwall.
»Eine Sackgasse«, sagte Pieter.
»Ja, keine gute Lage, wenn man eine Leiche am Hals hat.«
Griets Blick fiel auf einen Trailer, der rechts neben dem Eingangstor von Bakkers Halle geparkt stand. Es handelte sich um eine mobile frituur, eine Frittenbude, wie man sie im Sommer an den Stränden fand. Auf der Seite stand in roten Lettern auf weißem Untergrund geschrieben: Verse kibbeling en lekkerbekkje.
Hinter dem Trailer ragte der Rand eines kleinen Schilds hervor, das an der Halle angebracht war. Griet stutzte und ging um die frituur herum.
»Sieh an«, sagte sie.
Auf dem Schild war eine stilisierte Kamera abgebildet. Darunter der Hinweis: Gebouw onder cameratoezicht – Dieser Bereich wird videoüberwacht.
Sie drehte sich um und sah zum Dach des gegenüberliegenden Gebäudes hinauf. Dort war tatsächlich eine Kamera montiert, das Objektiv wies auf den Eingangsbereich der Halle.
»Seid ihr so weit?«, hörte sie hinter sich die Stimme von Noor. »Dann könnt ihr reinkommen.«
***
Der Geruch von Holz, Farbe und Lack drang Griet in die Nase, als sie in Schutzkleidung die Halle betraten. Der Raum war hoch, das Dach aus Wellblech. In der linken Hälfte der Halle stand das Plattboot, an dem Vincent Bakker gearbeitet hatte, aufgebockt auf ein Ständerwerk. Der Mast lag abmontiert auf dem Boden neben dem Schiffsrumpf, den man über eine Leiter betreten konnte. Das Holz des Schiffs war rundherum abgeschliffen und zur Hälfte bereits neu gestrichen, der Boden unter dem Schiff mit Plastikplanen abgedeckt.
Die rechte Seite der Halle wurde vom Linnenexpress in Beschlag genommen. Zwei Anhänger und ein ausgemusterter Pritschenwagen standen dort.
»Bisher keine Blutspuren, keine Hinweise auf einen Kampf, keine Patronenhülsen, keine Tatwaffe«, fasste Noor das Ergebnis ihrer Untersuchung zusammen. »Aber zwei interessante Sachen haben wir doch entdeckt.«
Sie führte Griet, Pieter und Henk zu den Abdeckplanen unter dem Schiff. Sie waren mit Farbklecksen und Holzspänen übersät.
»Die Spuren, die wir gestern an der Leiche festgestellt haben, sind zur weiteren Analyse beim NFI «, erklärte Noor. Das NFI war das Nederlands Forensisch Instituut, mit dem die Kriminaltechniker der Polizei häufig zusammenarbeiteten. »Ich hatte aber kurz Zeit, mir die Substanzen anzusehen, die wir auf der Plane und an der Kleidung des Opfers sichergestellt haben …« Sie unterbrach sich, um einen Blick auf den Ausdruck zu werfen, den sie in der Hand hielt. »Es handelte sich um Aluminiumlack und Phenol-Resorcin-Formaldehyd-Kleber. Beides wird im Schiffbau verwendet – zum Beispiel bei der Restauration alter Holzboote.«
Sie kniete sich hin und deutete auf die Flecken, die auf den Planen unter dem Boot zu sehen waren. »Reste von Lacken und Klebstoffen. Ich gehe jede Wette ein, dass sie übereinstimmen.«
»Das würde bedeuten, dass Bakker aller Wahrscheinlichkeit nach hier getötet wurde«, sagte Griet.
»Würde ich auch so sehen. Und da ist noch etwas. Kommt mit …« Noor erhob sich und ging um das Schiff herum zu einer Stelle, wo mehrere Farbeimer standen. Einer davon war umgefallen und ausgelaufen. In der dunkelbraunen Lache, die sich ausgebreitet hatte, war deutlich das Profil einer Schuhsohle zu erkennen.
»Wir haben einen Abdruck genommen«, sagte sie. »Aber versprecht euch nicht zu viel davon. Hier in der Halle läuft auch das Personal vom Linnenexpress herum. Es muss also nicht zwangsläufig der Schuhabdruck unseres Täters sein.«
Griet nickte und deutete dann auf die Leiter, die an das Boot gelehnt war. »Wart ihr schon oben?«
Noor legte den Kopf schief. »Nein. Du darfst dich gern umsehen, wenn du vorsichtig bist.«
Griet umrundete das Plattboot und stieg über die wackelige Metallleiter an Deck. Das Innere des Schiffs war genauso kahl wie sein Äußeres. Die Bodenplatten und die Wandverkleidungen waren herausgenommen worden. Überall sah man Elektro-, Gas- und Wasserleitungen, die an den Wänden oder zwischen den Spanten verliefen. Die Eingeweide des Schiffs glichen dem Innenleben eines menschlichen Körpers mit all seinen Knochen, Adern, Sehnen und Muskeln. Griet musste unwillkürlich an die Obduktionen denken, denen sie beigewohnt hatte, eine unangenehme Erfahrung, die sie vermied, wann immer das möglich war.
Sie ging langsam bis zum Bug vor und betrachtete von oben die Plastikplanen, die auf dem Boden verteilt lagen. Sie kniff die Augen zusammen und runzelte die Stirn.
»Das solltet ihr euch mal ansehen«, sagte sie nach einem Moment und wies auf die Stelle direkt unter dem Schiff.
»Da ist nichts.« Henk sah fragend zu ihr hinauf.
»Genau das ist es ja«, meinte Pieter.
Die Planen um das Schiff herum waren alle mit Farbklecksen und Holzspänen übersät. Lediglich die beiden direkt unter dem Schiffsbug sahen anders aus. Auch sie waren mit Holzschnitzeln bedeckt. Was aber völlig fehlte, waren die Farbkleckse. Jemand hatte an dieser Stelle offenbar die benutzten Planen durch neue ersetzt und ein paar Späne darauf verteilt.
Griet ging zurück zur Metallleiter, wobei sie den Blick durch die Halle schweifen ließ. »Wohin führt die Tür dahinten?«
»Scheint ein Notausgang zu sein«, antwortete Noor. »Dort waren wir noch nicht, also pass auf.«
Griet stieg die Leiter hinunter und ging raschen Schrittes an den Kriminaltechnikern vorbei zum anderen Ende der Halle.
Sie öffnete die Tür und trat ins Freie.
Ein schmaler gepflasterter Weg führte hinter der Halle über eine Wiese zum Hafenbecken, das in weniger als fünfzig Metern Entfernung lag.
Vor Griets innerem Auge fügten sich die einzelnen Teile des Puzzles zu einem ersten groben Ablauf zusammen:
Freitagabend. Vincent Bakker arbeitet an seinem Plattboot. Er ist vorher kurz auf der Feier im Oude Veermann gewesen, wo er sich mit Luuk de Jong gestritten hat. Bakker trägt Arbeitskleidung, er ist am Rumpf des Schiffs beschäftigt.
Der Täter kommt zu ihm.
Er weiß, dass Bakker um diese Zeit in der Halle ist. Und er kennt die Arbeitszeiten des Linnenexpress. Er hat gewartet, bis Willemzon und seine Leute weg sind. Es wird zwischen zwanzig und einundzwanzig Uhr sein, nicht später, da der Täter damit rechnen muss, dass Bakker dann nicht mehr in der Halle arbeitet.
Der Täter geht auf Bakker zu, lässt ihm keine Chance zur Gegenwehr und zieht sofort eine Pistole. Ein Schuss. Direkt ins Herz.
Bakker fällt zu Boden, ist auf der Stelle tot.
Der Täter schlägt die Leiche in die Plastikplane ein, auf der sie liegt. Er ersetzt die Plane durch eine neue, verstreut ein paar Holzspäne, damit niemand den Unterschied bemerkt, vergisst aber, etwas Farbe darauf zu verteilen.
Er schafft den leblosen Körper über den Weg hinter der Halle zu einem Boot im Hafen. Er wird die Leiche auf hoher See über Bord werfen. Vincent Bakker soll im Meer versinken, damit es so aussieht, als wäre er einfach spurlos verschwunden.
Griet wandte sich um, um wieder hineinzugehen, blieb dann aber stehen und stutzte. Ein Polizeisiegel klebte von außen auf Höhe der Klinke an der Tür. Es war zerrissen. Das Türschloss zeigte auf dieser Seite deutliche Spuren eines Einbruchs.
Henk und Pieter kamen aus der Halle.
»Henk, hast du das Siegel hier angebracht?«, fragte Griet und wies auf die Stelle an der Tür.
»Ja.« Er trat zu ihr.
»Wann?«
»Gleich gestern Abend«, sagte er. »Das eine hier, das andere am Vordereingang.«
»In der Mordnacht war es also noch nicht an der Tür«, überlegte Griet laut. »Euch ist klar, was das bedeutet?«
Pieter nickte. »Jemand ist gestern Nacht in diese Halle eingebrochen.«
***
»Nein, davon haben wir nichts bemerkt«, versicherte Rinus Willemzon. »Henk hat uns ja angewiesen, uns von der Halle fernzuhalten.«
Sie standen im Büro des Linnenexpress vor dem Schreibtisch von Willemzon, dem die Sache ohne Zweifel sehr unangenehm war. Schweißperlen waren auf seine Stirn getreten.
»Vielleicht hat es jemand von deinen Leuten nicht so genau genommen«, meinte Henk.
»Kann ich mir nicht vorstellen. Ich habe allen gesagt, die Halle ist tabu.«
Damit blieb nur noch die Möglichkeit, dass es sich tatsächlich um einen Einbruch in der vergangenen Nacht handelte, denn Noor hatte sich in der Zwischenzeit vergewissert, dass keiner ihrer Techniker aus Versehen das Siegel gebrochen hatte.
»Vielleicht geben uns die Aufzeichnungen der Überwachungskamera Aufschluss«, sagte Griet. »Ich hoffe, sie ist keine Attrappe.«
»Oh, sie ist natürlich echt«, antwortete Willemzon. »Die Aufzeichnungen werden für einen Monat gespeichert.«
»Wo?«
»Alles läuft auf ein … na, wie heißt das Ding noch gleich? Auf so einen Speicher. Er steht im Abstellraum der Halle.«
Griet starrte Willemzon ungläubig an. Das durfte doch wohl nicht wahr sein.
***
Als sie wenige Minuten später in dem Kabuff standen, das sich in einer Ecke der Halle hinter dem aufgebockten Pritschenwagen verbarg, war klar, welchem Ziel der Einbruch gegolten hatte.
Die Festplatte der Überwachungsanlage fehlte. Ein loses USB -Kabel ragte an der Stelle heraus, wo sie sich befunden hatte.
»Godverdomme«, raunte Henk.
»Jij zegt het  – du sagst es«, stimmte Griet ihm zu.
Wer auch immer Vincent Bakker ermordet hatte, war sicher gewesen, dass ihn die Überwachungsanlage aufgezeichnet hatte. Vielleicht hatte er von der Kamera zunächst nichts gewusst oder sie in dem Moment der Tat vergessen. Dummerweise hatte er seinen Fehler später bemerkt und war in der darauffolgenden Nacht zurückgekehrt, um ihn zu beheben.
Griet wandte sich an Willemzon: »Gibt es noch mehr Kameras hier auf dem Gelände?«
»Nein, es ist die Einzige.«
»Wer wusste von der Kamera?«
»Nur Vincent und ich.«
»Warum hast du sie eigentlich installiert?«, wollte Henk wissen.
»Das war Vincents Idee.« Willemzon tupfte sich mit dem Stofftaschentuch die Stirn ab. »Erinnerst du dich noch an den Brand vor einem halben Jahr, Henk?«
»Natürlich.«
»Worum ging es da?«, hakte Griet nach.
Henk zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief. »Es gab einen kleineren Brand an der Halle«, sagte er. »Es ist nichts Schlimmes passiert, das Feuer wurde rechtzeitig bemerkt. Wir gingen davon aus, dass es ein Dummejungenstreich war. Im Gewerbegebiet gibt es im Sommer ein Open-Air-Kino. Und abends hängen dann hier schon mal die Jugendlichen herum.«
»Vincent dachte anders über die Sache«, sagte Willemzon. »Er war der festen Überzeugung, dass Brandstiftung vorlag. Deshalb hat er mir wochenlang wegen einer Überwachungskamera in den Ohren gelegen. Das alte Plattboot hier war ihm heilig. Ich sagte ihm, er kann tun und lassen, was er will, solange er die Kosten trägt.«
»Gab es jemanden, den Bakker damals wegen des Brands in Verdacht hatte?«, fragte Griet.
»Nun ja …« Willemzon zögerte. »Ich will niemanden in Schwierigkeiten bringen.«
»Es geht um Mord, meneer Willemzon, also bitte.«
Er presste die Lippen zusammen, sagte dann aber schließlich: »Er dachte, es wäre der Ex-Mann seiner Frau gewesen. Luuk de Jong.«