9 De Oude Veermann
S
eine Schneidezähne zerteilten den Mantel aus brauner Panade, gruben sich in das Fleischpüree darunter, dann schlossen sich seine Lippen, und Pieter de Vries entfuhr ein Laut des Entzückens.
»Fantastisch! Genau, was ich brauchte.«
Griet beobachtete ihn amüsiert. Sie hatte selten jemanden mit derartigem Genuss bitterballen
essen sehen.
»Greif zu.« Pieter schob den Teller mit den kleinen frittierten Bällchen aus Fleischpaste mit Panade in die Mitte des Tischs. Dazu gab es Weißbrot und Senf.
»Bedankt.«
Griet zeigte mit der Gabel auf den Salat vor sich. »Aber ich esse kein Fleisch.« Selbst nach all den Jahren kam es ihr noch so vor, als müsse sie sich für ihre Essgewohnheiten ständig entschuldigen.
Pieter hielt im Kauen inne. »Pardon, das wusste ich nicht …« Er sagte das in jenem Tonfall, mit dem man jemandem sein Beileid ausdrückt, der einem gerade eröffnet hat, dass er an einer unheilbaren Krankheit leidet.
»Ist doch in Ordnung, bleibt mehr für dich …«, sagte Griet.
Noch vor ein paar Jahren hatte sie gegen ein ordentliches Steak oder eine frikandel special
nichts einzuwenden gehabt. Ein kurzer Halt bei der frituur
gehörte zum Polizeialltag dazu. Doch dann hatte eine Ermittlung sie in einen Schlachthof geführt, wo sich herausstellte, dass der Sturz eines Arbeiters in den Fleischwolf alles andere als ein Unfall gewesen war. Als sie die Zustände in dem Betrieb gesehen hatte, war ihr der Appetit auf Fleisch für alle Zeit vergangen.
Griet saß mit Pieter an einem Ecktisch im Oude Veermann,
jener Kneipe, die Vincent Bakker am Abend seines Todes besucht hatte. Durch das Fenster blickte sie auf die von Bäumen gesäumte Dorpstraat hinaus. Das Badhotel
befand sich nur wenige Häuser entfernt. Vermutlich war der Oude Veermann
aber nicht nur deshalb Vincent Bakkers Lieblingslokal gewesen, sondern weil er eine so gemütliche Mischung aus Kneipe, Café und Restaurant war, ein Ort, an dem man den ganzen Tag verweilen konnte.
Die lange vergangene goldene Epoche der Niederlande wurde hier wieder sehr lebendig. Alles in dem Lokal erinnerte an die Seefahrt und die Zeit der VOC
, der Verenigde Ostindische Compagnie.
Tische und Stühle waren aus dunkelbraunem Eichenholz. Fischernetze hingen an der Decke, ein Steuerrad, Wanten und Tafeln mit Seemannsknoten an den Wänden. Die Bogenfenster mit Milchglas hinter der Theke erinnerten mit ihren weißen Holzsprossen an die Fenster im Heck eines alten Rahseglers. Statt Tischdecken lagen Teppiche als Unterlage auf den Tischen.
Auf dem Gemälde direkt hinter Griet und Pieter war eine Seeschlacht abgebildet. Ein kleines Schild neben dem Bild informierte darüber, dass es sich um eine Darstellung von Holmes’ Bonfire
handelte, einem Gefecht während des zweiten Englisch-Niederländischen Krieges, das sich 1666 vor Vlieland zugetragen hatte und bei dem die halbe niederländische Flotte von den Engländern aufgebracht worden und in Flammen aufgegangen war.
Griet war mit Pieter vom Hafen hierhergelaufen, eine viertelstündige Wanderung entlang des Watts.
Noemi holte noch Erkundigungen im Hafen ein, und Henk hielt sich bei Noor und den Kriminaltechnikern auf. Er zeigte verständlicherweise großes Interesse an der Spurensicherung, immerhin gehörte dieser Teil der Ermittlung nicht zu seiner täglichen Arbeit auf der Insel.
Griet und Pieter hatten Luuk de Jong in seinem Büro aufsuchen wollen, das direkt neben dem Gebäude der Touristeninfo des VVV
gegenüber dem Fähranleger lag. Von einer jungen Aushilfe hatten sie erfahren, dass er sich gerade mit einer Gruppe Touristen auf dem Vliehors
befand. In ungefähr einer Stunde würde er zurück sein und eine zweite Tour unternehmen. Startpunkt war der Strandpavillon De Lutine,
den Marc Martens betrieb.
Griet würde mitfahren. Bis dahin hatten sie allerdings noch ein wenig Zeit, die sie, wie Pieter vorschlug, am besten damit verbringen konnten, ihren Hunger zu stillen – der bei ihm selbst wohl am größten war, zumindest hatte Griet seinen Magen mehrere Male vernehmlich knurren hören. Da der Oude Veermann
direkt um die Ecke lag, konnten sie das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden und sich nebenbei erkundigen, was es mit dem Streit zwischen Luuk de Jong und Vincent Bakker in der Mordnacht auf sich hatte.
Pieter schob sich einen weiteren bitterball
in den Mund. »Siehst du deine Familie eigentlich noch oft?«
Seine Frage kam so unvermittelt, dass Griet sich beinahe verschluckte. »Wie … kommst du jetzt darauf?«
»Entschuldige, wenn ich zu direkt bin.« Er deutete auf ihre rechte Hand, mit der sie die Gabel hielt. »An deinem Ringfinger ist ein weißer Abdruck, dort, wo man gewöhnlich den Ehering trägt. Es ist noch nicht lange her, dass du den Ring abgelegt hast.« Pieter tauchte den halb angebissenen bitterball
in Senf und zeigte damit auf Griets mobieltje.
»Und das blonde Mädchen auf deinem Sperrbildschirm … könnte natürlich eine Nichte oder sonst wer sein … aber bei der Ähnlichkeit tippe ich mal darauf, dass sie deine Tochter ist.«
Griet war sprachlos. Ihr neuer Kollege hatte wirklich eine gute Beobachtungsgabe.
»Sie heißt Fenja«, erwiderte sie nach einem Moment. »Sag mal … was hat jemand mit deiner raschen Auffassungsgabe eigentlich bei den ungelösten Fällen zu suchen?«
Pieter behielt den bitterball
ein paar Sekunden vor dem Mund in der Schwebe, bevor er hineinbiss. »Wir machen alle mal Fehler«, nuschelte er dann.
Es blieb ihnen keine Zeit, um die Vergangenheit des jeweils anderen zu erkunden.
Der Wirt trat zu ihnen an den Tisch.
»Alles nach Wunsch?«, brummte er.
Der Mann musste über eins neunzig groß sein und glich aus Griets sitzender Perspektive einem Riesen. Sein Gesicht war aufgedunsen, die breite Nase von Äderchen durchzogen und die halb langen Haare fettig und ungekämmt. Er stand breitbeinig und mit verschränkten Armen da.
»Alles bestens«, sagte Griet. Sie wies auf den freien Stuhl am Kopfende des Tischs und präsentierte ihren Dienstausweis. »Setzen Sie sich doch zu uns. Wir hätten ein paar Fragen zu Ihrer Feier vergangenen Freitag, meneer
…«
»Evert van Basten.« Er machte keine Anstalten, Platz zu nehmen. »Was wollen Sie?«
»Wir ermitteln im Todesfall von Vincent Bakker.«
»Darüber weiß ich nichts.«
»Hier fand vorgestern Abend eine Jubiläumsfeier statt?«
»Korrekt.«
»Vincent Bakker war da«, stellte Griet fest.
»Er war hier, hat ein paar pilsjes
getrunken, dann ist er gegangen. Klaar is Kees
– mehr war nicht. Ich wünsche einen schönen Tag.«
»Vincent soll in einen Streit verwickelt gewesen sein …«
Van Basten hatte ihnen bereits den Rücken zugewandt, drehte sich nun aber noch mal um. »Hab ich nicht mitbekommen.«
»Jemand, der auf der Feier war, hat mir davon erzählt.«
»Die Leute reden viel.«
Griet rückte an die Kante der Sitzbank und sprach leise, sodass sich van Basten zu ihr hinunterbeugen musste. »Genauer gesagt, weiß ich es von Henk van der Waal. Sie kennen ihn bestimmt, er ist der Inselpolizist. Und ich sage Ihnen noch etwas …« Sie lächelte freundlich und wies auf die Gäste, die an einem langen Tisch vor der Theke saßen. »Ich wüsste zu gern, wie schnell es sich herumspricht, wenn ich Sie hier und jetzt offiziell zu einer Vernehmung vorlade, und zwar nicht auf die Polizeiwache nebenan, sondern ins politiehoofdkantoor
nach Leeuwarden.«
Van Basten warf einen Blick über die Schulter zu dem Tisch.
»Ersparen Sie uns doch die Unannehmlichkeiten«, fuhr Griet fort. »Parken Sie Ihren Arsch auf dem Stuhl und bringen Sie Ihre Erinnerung in Gang.«
Van Basten folgte ihrer Anweisung, und plötzlich spielte ein Lächeln um seine Mundwinkel. Er zeigte mit dem Finger auf Griet. »Sie haben Haare auf den Zähnen. Das mag ich. Eine wie Sie könnt ich hier gut gebrauchen.« Mit einem Nicken deutete er zur Theke hinüber, wo eine Frau Gläser spülte.
»Danke für das Angebot«, erwiderte Griet. »Aber vielleicht suchen Sie sich lieber jemanden, der nicht schon einen Job hat, in dem er sehr gut ist.«
»Also, dann kommen wir mal zur Sache«, sagte Pieter. Er kaute und schluckte den letzten Bissen runter, wischte sich den Mund ab und legte die Stoffserviette auf den Teller. »Was war vorgestern hier los?«
»Vincent und Luuk waren hier«, sagte Evert van Basten. »Sie unterhielten sich an der Theke. Plötzlich packte Luuk Vincent. Ich ging dazwischen. Dann dampfte Vincent ab. Das war’s.«
»Na, war doch gar nicht so schwer«, meinte Pieter in lobendem Tonfall. »Könnte ich vielleicht eine warme Chocomel haben? Obendrauf gern etwas slagroom.
«
Van Basten verzog die Mundwinkel und rief die Bestellung quer durch den Raum der Frau hinter der Theke zu.
»Wie spät war es, als Vincent Bakker das Lokal verließ?«, fragte Griet.
»Könnte gegen neunzehn Uhr gewesen sein. War ja Freitag, da bastelt er immer an seinem Schiff.«
»Worum ging es in dem Streit der beiden?«
»Ich belausche meine Gäste eigentlich nicht … Zwischen Vincent und Luuk ging es aber oft so laut her, dass ich es nicht überhören konnte.«
»Moment, heißt das, die beiden hatten sich öfter in den Haaren?«
»Klar, ständig, ist ja auch kein Wunder.« Van Basten lachte. »Vincent war ein Teufelskerl, er hatte einen Stich bei den meisjes.
Irgendwann ist er bei Luuks Frau Emma gelandet und hat sie ihm ausgespannt. Seitdem konnte Luuk ihn nicht mehr ausstehen.«
»Und nicht nur das.« Die Frau kam mit einem Tablett hinter der Theke hervor und stellte Pieter eine dampfende Chocomel auf den Tisch. Sie trug eine schwarze Schürze und hatte die Haare zu einem Dutt auf dem Hinterkopf festgesteckt.
»Halt dich da raus!«, brachte van Basten sie zum Schweigen.
Griet blickte der Frau nach, wie sie wieder hinter der Theke verschwand. Sie hätte gern gehört, was sie zu sagen hatte. Aber jetzt war nicht der passende Zeitpunkt.
»Meneer
de Jong war also wegen der Sache mit seiner Frau nachtragend?«, fragte Pieter.
»Kann man so sagen. Allerdings hab ich ihn noch nie so ausrasten sehen wie Freitagabend. Aber, hey, wenn Vincent mir die Frau ausgespannt hätte, hätte ich ihm schon längst die Fresse poliert.« Van Basten stand auf. »Wenn’s das jetzt war … Ich muss eine Lieferung von der Fähre abholen.«
»Ja, vielen Dank«, sagte Griet.
Van Basten zog die Lederjacke an, die an einem Haken neben der Tür hing, und verabschiedete sich von der Frau hinter der Theke, bei der es sich offenbar um seine Ehefrau oder zumindest seine Freundin handelte, was deutlich wurde, als er ihr einen schnellen Kuss gab. Dann verließ er das Lokal.
Hinter der Theke klirrten Gläser. Griet sah die Frau mit einer Kiste voller Biergläser um die Bar herumgehen. Sie verschwand durch die Seitentür in einem Hinterhof.
»Lass dir Zeit mit der Chocomel«, sagte Griet zu Pieter. »Ich muss mir mal die Beine vertreten.«
***
Griet ging zum Vordereingang hinaus und suchte einen Weg um das Gebäude herum. Eine schmale Gasse zwischen dem Lokal und dem Nachbarhaus führte an den Hinterhöfen vorbei zu einer Treppe auf den Wattendeich. Sie lief an der hüfthohen Steinmauer vorbei, die das Grundstück hinter dem Oude Veermann
begrenzte. Dahinter lag eine zur Hälfte asphaltierte Fläche, vollgestellt mit Bierfässern, Gasflaschen und diversen anderen Utensilien, die für den Betrieb einer Kneipe erforderlich waren. Der andere Teil des Hofs war mit Gras eingesät. Auf einer Wäschespinne flatterten bunte Hosen, Hemden und Socken im Wind.
Griet war einigermaßen verdutzt, als hinter der Mauer plötzlich der Kopf eines Pferds zum Vorschein kam.
Es war ein braunes Shetlandpony mit weißer Mähne. In dem Hof befanden sich die Tränke und der Futtertrog für das Tier. Das Pferd senkte den Kopf und versuchte, die Nase in der Tasche von Griets Parka zu vergraben.
»Tut mir leid, mein Kleiner«, sagte sie und streichelte seinen Kopf. »Ich hab leider nichts für dich.«
»Lass das!« Van Bastens Frau kam heran und drückte den Kopf des Pferds zur Seite. Dann machte sie mit dem Zeigefinger eine kreisende Bewegung an der Schläfe. »Weißt du, mein Alter will eine Pferdezucht anfangen.«
»Hier im Hinterhof?«
Sie winkte ab. »Nein, die Nachbarn würden ihm was pfeifen. Er hatte den Gaul oben auf der Wiese hinter den Dünen stehen. Aber da soll jetzt das Hotel gebaut werden. Deshalb muss er sich einen anderen Platz für das Vieh suchen. Es ist hier nur zwischengeparkt.« Sie streckte Griet die Hand entgegen. »Jolanda.«
Griet ergriff die Hand und stellte sich ebenfalls vor. »Sprichst du von dem Hotel, das Vincent Bakker bauen wollte?«
»Kloppt
– stimmt.«
»Scheint so, als würde er mit dem Vorhaben hier einigen Leuten auf die Füße treten.«
»Kommt ganz drauf an«, meinte Jolanda. »Für die Insel wär das Hotel vermutlich ein Segen. Mehr zahlende Gäste, verstehst du.«
»Ich hatte nicht den Eindruck, dass hier Mangel an Touristen herrscht …«
»Tja, die Ferienhäuser werden nach und nach von reichen Schnöseln aus den Großstädten kauft. Die vermieten aber nicht. Und sie selbst kommen nur ab und zu hierher. Und geizig sind sie obendrein.« Jolanda begann damit, die Wäsche abzuhängen, während sie sprach. »Evert und ich haben noch Glück. Wir verdienen an den Einheimischen genug. Aber wer auf das Geschäft mit den Touristen angewiesen ist, muss sehen, wo er bleibt.«
»So wie Luuk de Jong mit dem Vliehorsexplorer?
«
»Zum Beispiel. Der mault schon lange, dass jedes Jahr weniger Leute mit ihm fahren.«
»Dann hätte er sich über das neue Hotel von Vincent Bakker doch eigentlich freuen müssen.«
»Der und sich über etwas von Vincent freuen?« Jolanda zog die Augenbrauen hoch. »Vergiss es, da friert eher die Hölle zu.«
»Du hast vorhin angedeutet, dass die beiden sich nicht nur wegen einer Frau in den Haaren lagen.«
Jolanda stellte den Wäschekorb auf der Mauer ab. »Man munkelt so manches … zum Beispiel, dass Luuk Schulden hat.«
»Bei wem? Vincent?«
»Vermutlich bei seiner Ex-Frau Emma.« Jolanda griff in die Hosentasche und holte eine Rolle Pfefferminz hervor, von denen sie sich eins in den Mund schob. »Ist schon was länger her, aber als sein Geländewagen vor vielen Jahren den Geist aufgab, hat er sich Geld bei ihr geliehen.«
»War er zu dem Zeitpunkt noch mit ihr verheiratet?«
»Nein. Sie war schon mit Vincent zusammen. Aber sie fühlte sich Luuk verpflichtet – vielleicht, weil sie ihn hat sitzen lassen oder weil sie eine gemeinsame Tochter haben. Jedenfalls meinen manche, das Geld, das sie ihm geliehen hat, stamme aus ihrem eigenen Vermögen. Andere meinen aber, sie hätte sich bei ihrem neuen Ehemann bedient. Wie auch immer, Vincent ließ es sich nicht nehmen, Luuk regelmäßig an seine Schulden zu erinnern … und zwar so, dass es alle mitbekamen.«
Griet fuhr dem Pony mit den Fingern durch die Mähne. Über ihren Köpfen schrie eine Möwe, die scheinbar schwerelos im Wind segelte.
Offenbar hatte es gleich mehrere Gründe gegeben, weshalb Luuk de Jong nicht gut auf Vincent Bakker zu sprechen gewesen war. Und in ihrer Laufbahn war Griet schon Menschen begegnet, die aus weniger guten Gründen einem anderen nach dem Leben getrachtet hatten.
Griet sah auf die Uhr. Zeit, sich auf der Fahrt mit seinem Vliehorsexplorer
mit Luuk eingehend zu unterhalten.