11 Alte Wunden
D as letzte Licht des Tages schwand, und am Himmel schienen die ersten Sterne auf. Der Pflasterweg führte vom Strand aus an Ferienbungalows vorbei in ein Waldstück. Griet nahm das Rauschen der Baumkronen wahr, als sie auf dem Fahrrad in den Wiegetritt wechselte, um eine Anhöhe hinaufzugelangen. Das Dünengebiet hier im Norden der Insel war sehr wellig, und sie stellte fest, dass ihre Kondition noch immer nicht wieder die alte war, nachdem sie bei dem Einsatz mit Bas angeschossen worden war. Als der Wald sich lichtete, hielt sie an. Vor ihr lag ein gutes Dutzend Ferienhäuser verstreut im Dünengebiet, fast alles einfache Holzbauten in verschiedenen Farben, deren Dächer mit Reet gedeckt waren. Hier und dort brannte Licht, doch der überwiegende Teil der Siedlung lag verlassen da.
Das Haus, das sie mit Noemi und Pieter bewohnen würde, war leicht auszumachen. Henks wuchtiger Geländewagen mit der Aufschrift Politie stand vor dem Eingang. Ihre Unterkunft befand sich am Ende des Wegs auf einer Dünenkuppe und duckte sich hinter einen niedrigen, mit Strandhafer bewachsenen Hügel. Seine Holzfassade war blau gestrichen, die Fenster zierten weiße Schlagläden.
Henk räumte gerade das Gepäck aus dem Kofferraum, als Griet das Fahrrad unter dem Vordach abstellte – sie hatten ihm ihre Sachen am Morgen im Hafen überantwortet.
»Der Inselaufenthalt scheint dir gut zu bekommen.« Henk warf ihr einen anerkennenden Blick zu, während er Noemis blauen Seesack aus dem Wagen wuchtete.
Griet spürte, wie ihre Wangen vom kalten Fahrtwind glühten.
»Ja, ich glaube … es gefällt mir ganz gut hier«, sagte sie, noch immer außer Atem.
»Du wärst nicht die Erste, die sich in Vlieland verliebt.«
Er wandte sich ab, um Pieters Koffer vors Haus zu tragen, und Griet fragte sich, ob es nicht tatsächlich genau das war, was gerade mit ihr geschah. Für einen Moment hielt sie den Atem an, lauschte dem Rauschen der Brandung hinter den Dünen und dem Wind in den Bäumen. Kein anderes Geräusch drang an ihre Ohren. Kein von Autos oder Flugzeugen oder von Menschen verursachter Lärm.
Den überwiegenden Teil ihres Lebens hatte sie in der Stadt verbracht. War sie überhaupt schon einmal an einem Ort wie diesem gewesen? Die Ruhe, die sie durchdrang, war vollkommen, und sie empfand etwas, wonach sie sich immer gesehnt, was sie aber nie gefunden hatte: einen tiefen inneren Frieden.
Vielleicht war sie wirklich dabei, sich in diese Insel zu verlieben. Doch bevor sie spontan zum Landei mutierte, riss sie sich von dem Gedanken los und griff nach ihrer Sporttasche, die noch im Kofferraum stand. Als sie die Tasche hochhob, spürte sie einen altbekannten, stechenden Schmerz in ihrer linken Seite. Sie fuhr zusammen und ließ die Tasche fallen. Sofort legte sich Henks kräftige Hand stützend an ihre Schulter.
»Alles in Ordnung?«
»Ja … geht schon.«
»Was ist los?«
»Nichts … eine alte Verletzung.«
Griet hängte sich die Tasche über die Schulter und ging ins Haus. Dabei presste sie eine Hand auf die Stelle am Rippenbogen, wo die Kugel eingedrungen war und nicht nur einen Teil ihrer Innereien zerfetzt, sondern auch noch einigen anderen Schaden in ihrem Leben angerichtet hatte.
***
Nachdem sie das Abendessen beendet hatten, breitete Noemi einen Bauplan auf dem Tisch aus. Sie hatte das Jackett abgelegt, trug aber immer noch Anzughose und Hemd. Es hatte geroerbakte tahoe gegeben, ein Gericht aus Surinam, der Heimat von Noemis Eltern, wie die junge Kollegin ihnen erklärt hatte. Noemi hatte das Einkaufen und Kochen übernommen, und Griet fand die Kombination aus Tofu, einer Tüte roerbak groente, Zwiebeln, Ingwer, einem Schuss Sojasoße sowie Curry und Kardamom durchaus schmackhaft. Pieter hingegen hatte etwas von »Kaninchenfutter« gemurmelt, war an den Kühlschrank gegangen und kurz darauf mit einem puntje, einem weichen Brötchen, zurückgekommen, das er mit filet americain bestrich, einer feinen, mettartigen Paste. Gleich nach dem ersten Bissen hatte sich seine Miene aufgehellt.
Noemi faltete den Plan auf. »Ich habe mich als Erstes im Hafen umgesehen«, sagte sie dann. »Die meisten Schiffe dort befinden sich im Winterlager. Eines aber ist bewohnt, die Dutch Flyer. Sie gehört einem Ruud Seedorf. Er war nicht da, aber wir sollten es noch mal probieren. Vielleicht hat er in der Mordnacht etwas im Hafen beobachtet.«
»Ruud bietet im Sommer Ausflugsfahrten mit seinem Schiff an«, erklärte Henk. »Im Winter ist er oft drüben auf dem Festland. Das wäre also ein großer Zufall, wenn er etwas gesehen hätte.«
»Wir versuchen unser Glück«, meinte Griet. »Hast du denn mit dem Hafenmeister sprechen können?«
»Ja, er sagte mir, dass in der Mordnacht keine Besucherschiffe im Hafen lagen. Im Frühjahr verirren sich nur wenige hierher.« Noemi trank einen Schluck Wasser; sie war die Einzige, die nicht ein Glas von dem Rotwein vor sich stehen hatte, den Pieter aus der slijterij, dem Spirituosenladen im Dorf, mitgebracht hatte. »Ansonsten scheint hier so ziemlich jeder ein Boot zu haben«, fuhr Noemi fort. »Es gibt ein Rettungsboot der KNRM , das Polizeiboot, das Schnellboot von Marc Martens und noch eine ganze Reihe von kleineren Schiffen …«
»Wir sind auf einer Insel«, sagte Henk. »Da lebt man buchstäblich auf dem Wasser. Die meisten dieser Boote sind übrigens nicht abgeschlossen oder anderweitig gesichert. Die Leute hier haben wenig Grund, sich vor Dieben zu fürchten.«
Pieter goss sich Wein nach. »Das heißt, so ziemlich jeder hätte sich ein Boot im Hafen schnappen und damit raus aufs Meer fahren können«, stellte er fest.
Henk nickte. »Korrekt.«
Noemi deutete auf den Bauplan, der auf dem Tisch lag. »Ich habe aber etwas anderes Interessantes entdeckt, das uns vielleicht weiterhilft.« Sie erklärte, dass die Zeichnung den neuen Hotelbau zeigte, den Vincent Bakker vorangetrieben hatte. Offenbar sollte er im Norden der Insel in den Dünen entstehen, mit direktem Zugang zum Strand. Der Komplex bestand aus einem Haupthaus und einem Nebengebäude.
»Kennst du den Plan?«, fragte Griet, an Henk gewandt.
»Nein, ist mir auch neu. Bislang gab es keinen Grund, sich damit zu befassen.«
»Seht ihr das hier?« Noemi deutete mit einem Stift auf ein kleineres Gebäude, das links vis à vis des Haupthauses eingezeichnet war.
Griet betrachtete die Zeichnung genauer. »Sieht aus wie … ein Strandpavillon oder so was.«
Henk drückte die Zigarette aus und stieß einen leisen Pfiff aus. »Könnte tatsächlich sein. Allerdings … an der Stelle steht doch längst der Pavillon von Marc Martens.«
»Den hätte Bakker wohl abreißen müssen, wenn er den Plan in der vorliegenden Form umsetzen wollte«, sagte Noemi.
»Wäre das denn so einfach möglich?«, fragte Pieter.
»Ich kenne mich mit den Eigentumsverhältnissen nicht genau aus. Bisher dachte ich immer, die Strandbude gehört Marc Martens. Dann könnte er das natürlich nicht so einfach. Andererseits …« Henk schürzte die Lippen. »Soviel ich weiß, hat Martens’ Vater den Strandpavillon aufgebaut. Später hat er dann das Badhotel übernommen. Nach seinem Tod verkaufte seine Witwe das Hotel an Vincent Bakker. Es wäre denkbar, dass auch der Strandpavillon dazugehörte …«
Griet war Marc Martens’ erste Reaktion auf den Tod seines Cousins noch gut in Erinnerung. Er war nicht allzu betrübt gewesen. Sollte Bakker tatsächlich vorgehabt haben, Martens’ Geschäft in irgendeiner Weise zu schaden, konnte das eine Erklärung sein.
Vielleicht lohnte es sich, etwas intensiver in die Geschichte des Badhotels einzusteigen.
»Wie auch immer«, meinte Pieter. »Woher hast du diesen Bauplan eigentlich?«
Noemi zuckte die Schultern. Dann berichtete sie in einem Tonfall, als wäre es selbstverständlich, dass sie ins Gemeindebüro gegangen und einfach danach gefragt hatte. »Die junge Dame war ziemlich beeindruckt von meiner Marke und hat keine weiteren Fragen gestellt«, erklärte sie. »Ich hab mir gedacht, das Hotelprojekt spielte offenbar eine große Rolle für die Insel. Der Bauherr wurde ermordet. Also könnte das doch miteinander zu tun haben …«
Gegen diese Schlussfolgerung war nichts einzuwenden. Und in einer Mordsache hatten sie durchaus die Befugnis, Einsicht in die Angelegenheiten des Opfers zu nehmen. Nur wäre eine formellere Vorgehensweise angebracht, abgesehen davon, dass Griet als leitende Ermittlerin diesen Schritt nicht angeordnet hatte und es für Noemi in ihrer Position angemessen gewesen wäre, sich mit ihrer Vorgesetzten abzusprechen.
Griet entnahm Pieters Blick, dass er Ähnliches dachte und wohl der Ansicht war, dass die junge Kollegin für ihren Übereifer einen Tadel verdient hatte.
Griet überlegte. Es war nicht unbedingt wünschenswert, dass einer aus dem Team Teile der Ermittlung ohne Absprachen an sich riss. Andererseits konnte jemand, der voranpreschte, wo andere zögerten, einen Fall entscheidend weiterbringen.
Sie nickte Noemi zu. »Gute Arbeit.«
Dann stand sie auf und entschuldigte sich. Sie wollte noch einen Spaziergang machen und über das nachdenken, was sie bislang herausgefunden hatten.
Noemi erinnerte Griet mit ihrer forschen Herangehensweise an sich selbst. Auch sie hatte sich in ihren Anfangsjahren einige Freiheiten herausgenommen, und solange sie erfolgreich gewesen war, war ihr die Rückendeckung ihrer Vorgesetzten sicher gewesen. Deshalb war sie willens, es bei der jungen Frau genauso zu halten. Rückblickend hätte sie sich selbst damals allerdings ungern als Kollegin gehabt, dachte Griet.
***
Sie trat in die sternenklare Nacht hinaus und sog die kalte, frische Luft tief in die Lungen.
Henk war ihr gefolgt.
»Was dagegen, wenn ich mitkomme?«, fragte er.
Griet lächelte. »Ganz und gar nicht.«
Hinter dem Haus führte ein kleiner Trampelpfad über eine Wiese in Richtung der Dünen. Sie folgten ihm.
»Welchen Eindruck hast du eigentlich von Luuk de Jong?«, fragte Griet und erzählte Henk von ihrer Begegnung mit ihm.
»Schwer zu sagen«, erwiderte Henk, während sie über einen Sandweg auf eine der Dünen stiegen. »Er ist sicher nicht auf den Mund gefallen. Vincent Bakker war das auch nicht. Bei der Vorgeschichte der beiden kaum verwunderlich, dass sie aneinandergeraten sind. Könnte er ihn umgebracht haben? Möglicherweise. Du weißt genauso gut wie ich, dass Menschen im Zorn zu vielen Dingen fähig sind, die man ihnen unter normalen Umständen nicht zutraut.«
»Luuk sagte mir, er wäre bis Mitternacht im Oude Veermann gewesen. Kann das stimmen? Du warst doch auch dort …«
»Aber nicht sehr lange. Ich bin kurz nach dem Streit der beiden gegangen.«
Sie wanderten über den Dünenkamm zum Strand hinunter. Jetzt im Dunkeln, da nur noch das Tosen des nachtschwarzen Meers zu hören war, kam Griet die weite Sandfläche noch einsamer vor.
»Warum bist du eigentlich überhaupt auf die Insel gekommen?«, wollte Griet wissen. »Ich meine, bist du nicht noch zu jung für eine solche Stelle … Ist doch alles recht betulich hier.«
Henk schob die Hände in die Taschen und blickte nachdenklich auf seine Schuhe, die tiefe Spuren im feuchten Sand hinterließen. »Sagen wir mal so … auch ich habe eine alte Verletzung. Und ich dachte, sie würde hier auf der Insel heilen.«
»Und?«
»Hm … manche Wunden heilen nie vollständig, ganz egal, was man tut.«
Sie hatten den Saum des Meeres erreicht. Die weißen Schaumkronen der Brandung schimmerten auf den schwarzen Wellen. Draußen auf dem Meer schienen die Positionslichter von Schiffen wie Glühwürmchen im Dunkeln.
»Sag mal«, fragte sie unvermittelt, »habt ihr eigentlich einen Bericht über das Frachterunglück vor der Insel bekommen?«
»Nein, aber es sollte kein Problem sein, den anzufordern.«
»Dann tu das bitte«, sagte sie. »Ich möchte wissen, was da draußen vorgefallen ist.«