12 Familiensache
D
er rot-weiße Leuchtturm von Vlieland schickte seinen Strahl in die Dämmerung über dem Wattenmeer hinaus. Einundfünfzig Treppenstufen, Griet hatte mitgezählt, waren es bis hinauf zur Spitze der Vuurboetsduin
am östlichen Ende des Dorfes, wo das vollautomatische Leuchtfeuer seinen Dienst tat. Der Blick von hier oben war atemberaubend. Im Osten stieg die Morgensonne am Horizont über den Watteninseln empor, die wie an einer Perlenschnur aufgereiht im Meer lagen, und der Himmel färbte sich in unterschiedlichen Schattierungen von Bordeauxrot bis Orange. Im Süden war dort, wo sich Himmel und Wasser berührten, als schwarzer Strich das Festland zu erahnen. Griet atmete tief ein und spürte die Kraft des Windes, der ihre Haare in alle Richtungen verwirbelte.
Direkt unter ihr, am Fuß der Düne, lag Oost-Vlieland. Die Häuschen standen dicht an dicht, mit der Dorpstraat als breitester der schmalen Gassen. Gut möglich, dass das Badhotel
bereits bei seiner Erbauung das höchste Gebäude gewesen war, auf jeden Fall überragte es die umstehenden Häuser um mindestens ein Geschoss.
Sein Besitzer, Vincent Bakker, war einer der ersten Bürger des Ortes gewesen, beliebt und erfolgreich, einer, der sich um die Geschicke der Insel verdient gemacht hatte. So lautete zumindest die offizielle Version, an der Griet mittlerweile jedoch ihre Zweifel hegte. Was für ein Mensch war Vincent Bakker wirklich gewesen? Griet wusste, wer ihr mehr über Bakker und seine Familie würde erzählen können. Dazu musste sie dem Badhotel
erneut einen Besuch abstatten.
Sie ließ den Blick über den Ort schweifen, während sie die Treppe langsam wieder hinabstieg. Als einzige Siedlung der Insel wirkte das Dorf beinahe verloren in der Unendlichkeit der See, die es umgab. Griet stellte sich vor, wie die Bewohner in früheren Zeiten gegen Sturmfluten und Stürme gekämpft, Kriege, Hungersnöte und andere Plagen überstanden hatten. Eine verschworene Gemeinschaft mussten sie gewesen sein – und waren es vermutlich auch heute noch. Jeder kannte jeden, jeder beobachtete jeden. Sosehr sie die raue Natur der Insel mochte, sie würde in einer solchen Enge nicht leben wollen. Doch für ihre Untersuchungen konnte sie diese nutzen: Dinge sprachen sich schnell herum. Der Mord und die Anwesenheit des Ermittlerteams sorgten sicherlich für Gesprächsstoff im Dorf. Wie auch in anderen Fällen würde das jene, die etwas zu verbergen hatten, nervös machen. Und nervöse Menschen begingen Fehler.
Griet hoffte, dass das auch bei Luuk de Jong der Fall sein würde, dessen Aussage Noemi mit der Hilfe von Karen den Bosch auf der Wache protokollieren würde. Üblich war das nicht. Eine unterschriebene Aussage oder gar eine offizielle Vernehmung waren eigentlich erst dann angebracht, wenn der Betreffende ein wichtiger Zeuge, ein Tatverdächtiger oder jemand war, gegen den etwas Konkretes vorlag. So weit waren sie mit Luuk de Jong noch lange nicht, doch sie wollte den gehörnten Ehemann spüren lassen, dass sie ihn beobachteten.
Dazu gehörte auch die Überprüfung seines Alibis.
Direkt gegenüber der Vuurboetsduin
stand ein einzelnes Haus mit gepflegtem Garten und weißem Zaun. Es gehörte Evert van Basten. Griet hatte nicht warten wollen, bis er im Laufe des Vormittags sein Lokal öffnete, und hatte daher beschlossen, ihn zu Hause aufzusuchen. Es brannte Licht, und als sie klingelte, öffnete Evert auch gleich die Tür.
Er hielt eine Tasse Kaffee in der Hand. »So früh schon unterwegs?«
»Ich war gerade in der Nähe«, sagte Griet, »und hätte noch eine Frage.«
»Und die wäre?«
»Wann war Ihre Feier am Freitagabend vorbei?«
»Sie stellen Fragen … Soweit ich mich erinnern kann, hat sich der harte Kern irgendwann in den frühen Morgenstunden verabschiedet.«
»Gehörte Luuk de Jong dazu?«
»Möglich, weiß ich nicht mehr so genau.«
»Kann sich vielleicht Ihre Frau erinnern?«
»Hören Sie, wir haben im Lokal keine Stechuhr …«
»Es wäre nett, wenn Sie sie fragen könnten«, unterbrach Griet ihn.
Van Basten sah sie einen Moment mürrisch an, dann rief er über die Schulter: »Jolanda!«
Seine Frau erschien im Morgenrock hinter ihm.
»Hallo, Griet«, sagte Jolanda.
»Weißt du noch, wie lange Luuk auf der Feier war?«, fragte van Basten sie.
»Natürlich«, antwortete Jolanda ohne Umschweife. »Er ist als einer der Letzten gegangen. Er hatte doch diesen Kerl dabei … der den ganzen Abend über keinen Tropfen Alkohol getrunken hat. Ich hab mich gefragt, wie er es trotzdem so lange in einer Kneipe aushält.«
»Wer war der Mann?«, fragte Griet.
Jolanda zuckte die Schultern. »Wohl ein Freund von Luuk. Verstanden sich ziemlich gut, die beiden. Er ist ihm nicht von der Seite gewichen.«
»Das heißt, Sie kannten den Mann nicht?«
»Nein.« Jolanda blickte ihren Mann an.
Van Basten schüttelte den Kopf. »Sie hat recht, da war dieser Typ … aber er war nicht von der Insel.«
»Haben die beiden das Lokal zwischendurch mal verlassen?«
»Wie gesagt«, meinte van Basten und zuckte die Schultern, »keine Stechuhr, die Leute kommen und gehen, wann sie wollen.«
Das bedeutete, Luuk de Jong konnte die Feier verlassen haben und später zurückgekommen sein, ohne dass jemand davon Notiz genommen hatte. Vielleicht hatte er aber auch die Wahrheit gesagt und war bis in die frühen Morgenstunden in der Kneipe gewesen. Aber warum hatte er dann Griet gegenüber den Fremden nicht erwähnt, der ihm ein perfektes Alibi geben könnte? Vielleicht würde er sich in der Befragung durch Noemi daran erinnern.
Griet verabschiedete sich, stieg auf das Fahrrad, das sie am Fuß der Vuurboetsduin
abgestellt hatte, und fuhr ins Dorf.
Der Weg führte auf einer kleinen Anhöhe an einer mittelalterlichen Kreuzkirche vorbei, an die ein von hohen Platanen gesäumter Friedhof angrenzte. Die meisten der Grabsteine waren schon stark verwittert. An der Ecke, wo die Molenstraat hinunter zur Dorpstraat abbog, hielt Griet vor einem Kreuz mit einer Jesusfigur an. Ihre Aufmerksamkeit galt allerdings nicht dem Heiland, sondern vielmehr dem Mann, der sich auf dem Friedhof einem der Gräber näherte, das noch nicht so verfallen war, also jüngeren Datums zu sein schien. Er legte Blumen auf das Grab, zündete eine Kerze an. Dann blieb er noch einen Moment stehen, bevor er sich abwandte und zum Ausgang des Friedhofs ging. Als er sich umdrehte, um das schmiedeeiserne Tor hinter sich zuzuziehen, erkannte Griet sein Gesicht. Es war Marc Martens. Sie fragte sich, wessen Grab er da gerade so früh besucht hatte.
***
Das Badhotel
war besser besucht, als Griet es zu dieser Jahreszeit erwartet hatte. Im Frühstücksraum, der mit einer gläsernen Flügeltür direkt an das Foyer angrenzte, waren alle Tische bis auf einen einzigen, der von einer Bedienung gerade abgeräumt wurde, voll besetzt. Das Gemurmel gedämpfter Unterhaltungen erfüllte den Raum, das Klappern von Geschirr, hier und da das Rascheln einer Zeitung, der Duft von Kaffee. Griet erblickte Neeltje de Jong, die das Frühstücksbüfett inspizierte und eine weitere Bedienung anwies, es aufzufüllen, bevor sie sich einem Gast zuwandte und sich nach seinen Wünschen erkundigte. Griet entging nicht, dass einige der männlichen Gäste Neeltje verstohlene Blicke zuwarfen. Obwohl sie ihre Sache gut machte, schien sie nicht glücklich zu sein. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen, und sie war leicht nach vorn gebeugt wie jemand, der eine schwere Last auf den Schultern trug. Vielleicht lag es tatsächlich daran, dass so viel Verantwortung auf ihr lastete. Guus van Schouten, der alte Concierge, schien sich jedenfalls eher in einer überwachenden Funktion zu sehen. Er stand, in einen makellosen Anzug gekleidet, neben der Glastür und überblickte das Geschehen. Sein Kopf bewegte sich ruckartig hin und her wie der eines Raubvogels auf der Suche nach Beute, bereit, sich sofort auf sie zu stürzen, sobald er sie erspähte. Wobei Guus’ Beute vermutlich das Personal war, das Fehler beging, die es zu ahnden galt.
Griet ging zu dem Concierge hinüber.
»Mevrouw Commissaris«,
sagte er, »es ist mir eine Freude, Sie wieder bei uns begrüßen zu dürfen. Wie kann ich Ihnen zu Diensten sein?«
»Da wären einige Dinge, über die ich gern mehr erfahren würde.«
»Sehr wohl. Ich werde mevrouw
Bakker umgehend Bescheid geben. Sie führt allerdings gerade ein wichtiges Telefongespräch – es gibt derzeit viel zu regeln, wie Sie sich sicherlich vorstellen können. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, einen Moment zu warten …« Er hielt die Hände hinter dem Rücken verschränkt und beugte den Oberkörper beim Reden leicht nach vorn. Obwohl Griet mit ihren einen Meter achtzig nicht gerade klein war, überragte der alte Mann sie.
Van Schouten wies auf den freien Tisch: »Misschien een kopje koffie, mevrouw –
vielleicht eine Tasse Kaffee? Sie dürfen sich gern setzen.«
»Graag, Guus«,
antwortete Griet.
Einen koffie
lehnte sie selten ab, besonders an diesem Morgen nicht. Sie war kurz nach Mitternacht hochgeschreckt, aufgeweckt vom Heulen des Windes, der die dünnen Wände des Ferienhauses zum Knarzen brachte. Und dann war da ein für die Uhrzeit eher ungewöhnliches Geräusch gewesen: das Geklapper einer Tastatur. Griet war in den Flur hinausgetreten und hatte die Quelle der nächtlichen Ruhestörung im Nebenzimmer ausgemacht. Noemi saß mit dem Laptop auf dem Bett. Sie fasste die bisherigen Erkenntnisse für die Ermittlungsakte zusammen. Der Ehrgeiz der jungen Kollegin kannte offenbar keine Grenzen. Griet hatte sich für den selbstlosen Einsatz bedankt, allerdings darauf hingewiesen, dass ausreichend Schlaf die Grundlage für erfolgreiche Ermittlungen war. Trotzdem hatte sie sich das Geräusch der Tasten noch eine ganze Stunde lang anhören müssen. Gegen sechs Uhr hatte es dann an ihrer Tür geklopft, und Pieter, dessen innere Uhr wohl auf Familienzeit lief, hatte sich erkundigt, ob sie ebenfalls verse brootjes
haben wollte, er würde kurz ins Dorf fahren. Griet würde an diesem Tag wohl noch mehrere kopjes koffie
brauchen, damit ihr innerer Motor nicht ins Stottern geriet.
Guus van Schouten winkte eine Bedienung herbei, wobei sein Gesicht die Freude nicht verbergen konnte, dass er endlich etwas zu tun hatte. Als der Concierge Griet zum Tisch geleiten wollte, hielt sie ihn zurück.
»Um ehrlich zu sein, Guus, ich möchte nicht mit mevrouw
Bakker sprechen. Ich bin Ihretwegen hier.«
Van Schouten hob die Augenbrauen. »Oh … das ehrt mich. Allerdings … habe ich gerade alle Hände voll zu tun. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen eine Hilfe sein kann.«
»Ich würde gern einiges über die Geschichte des Hotels erfahren, und niemand kennt den Betrieb so gut wie Sie«, sagte Griet. »Ihr Wissen könnte für meine Ermittlungen sehr wichtig sein.«
Van Schouten straffte sich. »Nun, sehr gern … aber ich weiß nicht, ob ich die jungen Herrschaften mit dem Frühstück hier allein lassen kann.«
»Guus«, fragte Griet, »waren Sie schon mal bei einem klassischen Konzert?«
Der alte Mann stutzte, schmunzelte dann aber versonnen. »Ein einziges Mal. Ich war noch sehr jung. Es war in Amsterdam. Die Herrschaften hatten mir freigegeben. Ein herrlicher Abend. Ich wünschte …«
»Sehr gut, Guus, dann wissen Sie ja, dass es in jedem Konzert diesen Moment gibt, wo der Dirigent das Orchester verlässt, um zu demonstrieren, dass die Musiker auch ohne ihn spielen können.« Griet deutete auf Neeltje. »Ich habe den Eindruck, Ihr Ensemble wäre dem ebenfalls gewachsen. Die junge Dame scheint ihr Handwerk zu verstehen.«
Der Concierge betrachtete Neeltje mit einem Lächeln.
»Das hat sie von mir gelernt. Ich habe ihr von klein auf alles beigebracht. Und es würde mich stolz machen, wenn sie das Hotel eines Tages übernimmt und die Familientradition fortsetzt.«
»Sehen Sie … und genau über diese Tradition möchte ich mit Ihnen reden, Maestro«, sagte Griet und hakte sich bei van Schouten ein. »Es gibt hier doch bestimmt einen ruhigen Ort, an dem wir uns über Vincent Bakker und seine Familie unterhalten können …«
***
Guus van Schouten führte Griet hinaus auf die Terrasse des Badhotels.
Das Gebäude befand sich auf der gleichen Straßenseite wie der Oude Veermann,
mit dem Unterschied, dass der Hinterhof, wo der Kneipier das Pferd neben den Bierfässern eingepfercht hatte, einen kleinen Garten mit einer Wiese, Blumenbeeten und einer Schaukel aufwies. Die Terrasse lag etwas erhöht, sodass man über die Deichkrone auf das Wattenmeer blickte, wo ein Fischerboot seine Bahnen zog. Möwen umschwärmten die Netze, die seitlich ausgebracht waren.
Sie nahmen auf zwei Korbstühlen Platz; ein Heizstrahler spendete ihnen Wärme. Griet nippte an ihrem koffie.
»Sagen Sie, Guus, ich habe gehört, dass das Strandlokal von Marc Martens eigentlich Vincent Bakker gehörte. Stimmt das?«
»Das ist korrekt«, antwortete der Concierge. »Er hat es damals zusammen mit dem Hotel von Roos Martens, der Mutter von Marc, erworben.«
Griet blätterte in ihrem Notizbuch. Sie hatte in der Nacht versucht, den Stammbaum von Vincent Bakkers Familie aufzuzeichnen, so wie sie ihn aus dem ersten Gespräch mit dem Concierge noch in Erinnerung hatte.
»Wenn ich es recht verstanden habe, dann hat Marc Martens’ Vater den Strandpavillon aufgebaut?«
»Auch das stimmt. Jan Martens erschuf ihn buchstäblich aus dem Nichts.«
»Was ich dann nicht verstehe: Warum verkaufte Roos Martens den Strandpavillon überhaupt? Sie hätte ihn doch ihrem Sohn Marc überlassen können?«
Guus beugte sich ein wenig vor und sprach leiser. »Weil sie keine andere Wahl hatte.«
»Ich kann Ihnen nicht ganz folgen …«
Guus presste die Lippen zusammen und blickte kurz auf das Meer hinaus, bevor er sich wieder Griet zuwandte. »Ich möchte ehrlich sein … mevrouw
Bakker hat mir aufgetragen, Sie bei Ihren Ermittlungen zu unterstützen. Sie meinte, wir hätten nichts zu verbergen. Außerdem möchte sie ebenfalls wissen, wer ihrem Mann das angetan hat. Allerdings bin ich mir nicht sicher, inwieweit ich Ihnen Details der Familiengeschichte preisgeben darf …«
»Betrachten Sie es als eine Art Beichtgeheimnis. Solange das, was Sie mir erzählen, niemanden direkt des Mordes überführt, ist dies eine freundschaftliche Unterhaltung zwischen Ihnen und mir«, erklärte Griet. »Ich möchte lediglich verstehen, welchen Hintergrund der Verstorbene hatte, und ihn so etwas besser kennenlernen.«
»Sehr wohl.«
»Wie meinten Sie das also, dass Roos Martens keine andere Wahl hatte?«
»Ihre Schwester Anna …«
»… die Adoptivtochter von Roos’ Eltern?«
»Ja … Anna setzte Roos sozusagen die Pistole auf die Brust. Natürlich nur im übertragenen Sinn …«
Griet blickte erneut in ihr Notizbuch. »Anna ist doch die Mutter von Vincent. Was hat sie mit der ganzen Sache zu tun?«
»Nun, sie hat das Hotel gekauft.«
»Guus, Sie verwirren mich. Ich dachte, Vincent Bakker hat es erworben …«
»Pardon, das hat er natürlich auch, ich drücke mich missverständlich aus … Seine Mutter hat vielmehr in seinem Sinn die Vorverhandlungen mit ihrer Schwester geführt.«
Griet stellte die leere Kaffeetasse auf dem Beistelltisch ab.
»Guus, het spijt me –
es tut mir leid. Aber ich komme nicht mit …«
»Wie soll ich sagen … Anna und Roos verband leider keine einfache Geschichte. Sie arbeiteten schon als Mädchen gemeinsam im Hotel. Dabei war allerdings abzusehen, dass der Betrieb auf lange Sicht nur eine Familie würde ernähren können, was bedeutete, dass sich Aad und Sjan Koopmanns bei der Nachfolge zwischen ihren beiden Töchtern entscheiden mussten.«
»Hätten sie ihnen das Hotel denn nicht zu gleichen Teilen vermachen können?«
»Schon, allerdings hatte meneer
Koopmanns bestimmte Vorstellungen. Für ihn war immer ausgemacht, dass Roos seine Nachfolgerin sein würde.«
»Weil sie seine leibliche Tochter war.«
»Precies.
Was Anna betraf, hatte er gewisse Vorbehalte. Was sie wiederum besonders angespornt hat. Mein Eindruck war, dass Anna ihm beweisen wollte, dass sie die bessere Geschäftsfrau war.«
»Und, war sie das auch?«
»Nun … Roos war sicher ein fleißiges, zuvorkommendes Mädchen, allerdings galt ihre Liebe eher der Literatur und der Musik. Sie konnte in ihrem Dachzimmer viele Stunden mit Üben verbringen oder sich bis tief in die Nacht in ein Buch versenken, aber sich über die Zahlen zu beugen, das schien ihr immer eine gewisse Pein zu bereiten. Anna hingegen stand mit beiden Füßen auf dem Boden. Sie war ehrgeizig und clever. Roos hätte einem hungrigen Gast das Abendessen vor lauter Mitleid gratis überlassen, Anna hätte ihm in seiner Not den doppelten Preis abverlangt.«
»Klingt nach einer guten Geschäftsfrau …« Griet winkte die Bedienung heran und bestellte noch einen koffie.
»Das war sie in der Tat, wie sich bald herausstellte. Anna heiratete Thijs Bakker. Thijs gehörte ein kleiner Fahrradverleih im Ort, und Anna half ihm dabei, das Geschäft zu vergrößern. Außerdem wandelte sie das Haus seiner verstorbenen Eltern in ein Ferienhaus um, was sich zu einem recht einträglichen Betrieb entwickelte. Ihre große Hoffnung galt jedoch weiterhin dem Hotel … Roos heiratete zwischenzeitlich Jan Martens. Und Jan war ein Mann nach dem Geschmack ihres Vaters. Er hatte sich mit dem Strandpavillon eine eigene Existenz aufgebaut. Dann brachte Roos im Abstand von ein paar Jahren zwei Söhne zur Welt, Coen und Marc. Damit war sie der ganze Stolz ihres Vaters.«
Griet verzog die Mundwinkel. »Langsam begreife ich, warum es zwischen den Schwestern nicht zum Besten stand.«
»Es dauerte dann in der Tat auch nicht mehr lange, und meneer
Koopmanns übertrug Roos das Badhotel.
Es war natürlich ihr Mann Jan, der das Geschäft führte, während die eigentliche Besitzerin sich den Künsten widmete. Jan trieb das Hotel zu neuer Blüte. Mit behutsamen Renovierungen bewahrte er den alten Charme des Hauses, schaffte aber Platz für zusätzliche Zimmer, und Mitte der Siebziger besuchten bald mehr Gäste das Haus als je zuvor.«
»Und Anna Bakker? Das muss ihr doch alles ziemlich gegen den Strich gegangen sein.«
»Sicherlich. Sie kümmerte sich um den Laden ihres Mannes. Zudem spezialisierte sie sich darauf, älteren Herrschaften ihre Grundstücke für wenig Geld abzukaufen und Ferienhäuser darauf zu bauen.«
»Ihre Geschäftstüchtigkeit scheint sie jedenfalls ihrem Sohn Vincent vererbt zu haben, wenn ich das richtig sehe.«
»Durchaus …« Der alte Concierge lachte in sich hinein. »Das galt aber auch für seinen Cousin Coen, Marc Martens’ älteren Bruder. Trotz der Feindschaft ihrer Mütter waren Vincent und er als Jungen ein unzertrennliches Gespann, und jeder bewies sein geschäftliches Talent auf seine Weise. Sie besserten sich ihr Taschengeld damit auf, dass sie im Sommer mit einem Bauchladen über den Strand zogen und den Touristen Eis und Souvenirs verkauften. Coen kümmerte sich um die günstige Beschaffung der Waren und führte genau Buch. Vincent hatte hingegen das seltene, aber sehr nützliche Talent, den Menschen mit vielen Worten Dinge anzudrehen, die sie eigentlich gar nicht brauchten. Die Besuche am Strand waren für ihn zudem eine wunderbare Gelegenheit, sich den meisjes
zu nähern – er hatte vor allem eine Schwäche für Besucherinnen aus Deutschland. Was das eine oder andere Mal zu Streit zwischen ihm und Coen führte. Wissen Sie, Vincent hatte die Angewohnheit, gegenüber seinem Cousin mit seinen neuesten weiblichen … Eroberungen zu prahlen. Ich weiß noch, wie ich die beiden bei einer Kabbelei trennen musste. Sie hatten sich in den Haaren wegen einer blonden Schönheit mit blauen Augen und üppigem …« Er räusperte sich schmunzelnd. Doch dann schlich sich ein Ausdruck von Wehmut in seinen Blick, und er sah für einen Moment still auf das Meer hinaus. »Es war alles auf einem so guten Weg mit dem Hotel«, sagte er und seufzte. »Schwer zu begreifen, dass es sie nun beide nicht mehr gibt.«
Griet wartete einen Moment. »Was ist aus Coen Martens geworden?«
Der Concierge faltete die Hände und blickte zu Boden. »Tja … als Coen und Vincent die Ausbildung im Hotel begannen, war schnell abzusehen, dass sie die Geschäfte bald von Jan Martens übernehmen könnten. Oder ihm zumindest viel abnehmen würden. Das wäre dringend nötig gewesen, weil der arme meneer
Martens, der ohnehin ein schwaches Herz hatte, völlig überarbeitet war.«
»Aber?«
»Es gab einen Unfall auf der Fähre. Coen starb.« Van Schouten schüttelte nachdenklich den Kopf, als könne er diesen Umstand bis heute nicht begreifen.
Griet hätte gern gewusst, was Coen Martens genau zugestoßen war, allerdings sagte ihr ihr Instinkt, dass jetzt vielleicht nicht der richtige Moment war. Sie fürchtete, dass es mit der Redseligkeit des alten Mannes vorüber sein könnte, wenn sie allzu sehr nachbohrte.
»Ein schwerer Schlag«, fuhr er fort. »Seine Mutter verzweifelte darüber. Und Jan Martens, er …« Nun brach der alte Concierge tatsächlich in Tränen aus, die er rasch mit einem Stofftaschentuch abtupfte, das er aus der Tasche seines Jacketts zog. »Excuses
… es tut mir leid, mevrouw
…«
»Das braucht es nicht«, entgegnete Griet mit sanfter Stimme. Sie erinnerte sich an den Schmerz in ihrer Brust, als sie vor gar nicht allzu langer Zeit vom Tod ihres Vaters erfahren hatte. Sie war mit Bas beim Abendessen gesessen, als der Anruf kam. Der Hafenmeister hatte ihren Vater tot auf seinem Schiff gefunden. Griet hatte vorgehabt, ihn in wenigen Tagen zu besuchen. Dass sie nun nie wieder ein Wort mit dem Mann wechseln würde, der ihr Leben wie ein Fixstern begleitet hatte, ihn nie wieder in den Arm nehmen, ihm nie wieder einen Kuss auf die Wange drücken würde, kam ihr noch immer unwirklich vor, und sie war sich sicher, dass ein Teil des Schmerzes über seinen Tod niemals verschwinden würde. Sie konnte sich ausmalen, was Guus van Schouten empfand – das Badhotel,
die Martens, die Bakkers, das war so etwas wie seine Familie, seine Heimat.
»Guus«, sagte sie nach einer Weile, »Sie deuteten an, dass Anna Bakker ihre Schwester mehr oder weniger zum Verkauf des Hotels genötigt hat. Hatte das mit dem Unfall zu tun?«
»Letztendlich schon. Nach dem Tod seines Sohns stürzte sich Jan Martens noch mehr in die Arbeit. Und eines Abends fand Roos ihn leblos an seinem Schreibtisch. Ein Herzinfarkt.« Guus seufzte. »Roos war es klar, dass sie das Hotel nicht würde allein führen können.«
»Da erkannte Anna Bakker ihre Chance.«
»Genau. Sie überredete Roos, den Betrieb an Vincent zu übertragen. Das war auch sinnvoll, schließlich war er eingearbeitet, und das Hotel würde in der Familie bleiben – Marc Martens war damals noch viel zu jung. Anna schlug vor, Roos eine Ablösesumme zu zahlen, mit der Roos bis an ihr Lebensende ausgesorgt hatte. Allerdings musste sie den gesamten geschäftlichen Besitz an Vincent übertragen.«
»Wozu auch der Strandpavillon gehörte?«
»Richtig. Roos willigte ein, und Vincent übernahm die Geschäfte.«
Griet lehnte sich zurück. Vlieland war ein wahres Idyll, aber auch hier kämpften die Menschen ganz offensichtlich mit harten Bandagen. Reichtum und Erbfolgen hatten schon so manche Familie zerrüttet. Und sie wusste, was es mit Menschen machte, wenn sie wie Anna Bakker zeit ihres Lebens von den Eltern zurückgesetzt wurden und nie Anerkennung erfuhren. Dennoch gehörte ein ordentliches Maß an Verschlagenheit dazu, das Schicksal eines Menschen derart auszunutzen.
»Eine letzte Frage, Guus«, sagte sie. »Nun, da Vincent Bakker tot ist, wird das neue Hotel noch gebaut werden?«
Er hob ratlos die Hände. »Tja … schwer zu sagen. Mevrouw
Bakker setzt gerade alle Hebel in Bewegung, damit das geschieht. Die Sache ist die: Meneer
Bakker konnte mit seiner Tatkraft sehr überzeugend sein, und es ist ihm zu verdanken, dass sich Investoren für das Projekt interessiert haben. Ob sie nach seinem Tod an Bord bleiben, steht in den Sternen.«
Griet erhob sich und legte dem alten Mann die Hand auf die Schulter. »Sie haben mir wirklich sehr weitergeholfen, Guus.«
Sie verabschiedete sich und ging die Treppe der Terrasse hinunter in den Garten. Ein kleines Tor führte hinaus auf einen schmalen Schotterweg zum Deich.
Griet stieg den Deich hinauf und blickte auf das Meer. Links konnte sie den Fähranleger sehen. Etwas weiter lag der Jachthafen. Davor die Sandbank, auf der die Leiche von Vincent Bakker angespült worden war.
Sie fragte sich, wie es Marc Martens ergangen war. Hatte er irgendwann erkannt, welches Erbe er verloren hatte, als seine Mutter ihren Besitz an Vincent Bakker verkauft hatte?