13 Ascophyllum nodosum
Noemi Bogaard: Meneer de Jong, wie lange waren Sie am Freitagabend auf der Feier im Oude Veermann?
Luuk de Jong: So ganz genau weiß ich es nicht mehr. Es wurde ziemlich spät, bis in die Morgenstunden.
Bogaard: Kann jemand Ihre Anwesenheit dort bezeugen?
De Jong: Alle, die da waren, nehme ich an. Fragen Sie doch Evert van Basten.
Bogaard: Haben Sie die Feier zu irgendeinem Zeitpunkt verlassen?
De Jong: Na ja, als ich nach Hause gegangen bin – oder wie meinen Sie das jetzt?
Bogaard: Ich präzisiere die Frage. Haben Sie die Feier zwischendurch verlassen, vielleicht, um etwas zu erledigen, und sind später zurückgekommen?
De Jong: Ich … also, ich bin zwischendrin mal raus, um eine zu rauchen. (lacht)
Bogaard: Meneer de Jong, waren Sie allein oder in Begleitung einer anderen Person auf der Feier?
De Jong:(schweigt)
Bogaard: Meneer de Jong?
De Jong: Warum … fragen Sie das? Da waren sehr viele Menschen auf der Feier, sagte ich doch schon.
Bogaard: Es hätte ja sein können, dass Sie mit einem Freund im Veermann waren.
De Jong: Nein … wie kommen Sie darauf? Ich war allein dort.
Noemi stoppte die Aufnahme von Luuk de Jongs Aussage, die sie von ihrem mobieltje auf den Laptop gezogen hatte, und blickte Griet mit zusammengekniffenen Augen an.
»Er lügt.«
»Das werden wir ihm zwar erst noch nachweisen müssen, aber nachdrücklicher hättest du seinem Gedächtnis nicht auf die Sprünge helfen können. Er verschweigt seinen Freund bewusst.«
Nach ihrer neuerlichen Unterhaltung mit Evert van Basten hatte Griet Noemi angerufen und sie angewiesen, Luuk de Jong explizit nach seinem Begleiter zu fragen.
Es war kalt im politiebureau. Die Heizung lief noch immer nicht, und der elektrische Heizlüfter schien mit dem großen Raum überfordert. Die Morgensonne stand inzwischen zwar schon hoch am Himmel, allerdings lag die Polizeiwache im Schatten der umstehenden Häuser.
Griet wandte sich Henk zu, der soeben hereingekommen war. Nachdem de Jong seine Aussage gemacht hatte, war Henk in den Oude Veermann gegangen, um mit Evert van Basten zu sprechen.
»Und, hast du was Neues?«
»Es war etwas mühsam«, antwortete Henk, »aber ich habe mit Evert eine Gästeliste zusammengestellt. Vielleicht ist jemand dabei, der sich an Luuks Begleiter erinnern kann oder sogar mit ihm gesprochen hat. Jolanda hat mir sein Aussehen beschrieben, allerdings viel zu unpräzise, als dass uns das weiterhilft. Aber Everts Schwager ist unser Dorffotograf, er hat auf der Feier Bilder gemacht. Ich rede mit ihm. Vielleicht ist dieser fremde Kerl zufällig auf einem der Fotos.«
»Mach das.« Griet massierte sich nachdenklich die Schläfen.
Letztendlich konnte es viele Gründe für de Jongs Verhalten geben. Möglicherweise verheimlichte er ihnen seinen Freund aus einem triftigen Grund – vielleicht, weil dieser ihm geholfen hatte, Vincent umzubringen. Die beiden Männer hätten durchaus die Gelegenheit dazu gehabt. Bei einer Feier mit so vielen Menschen wäre es ein Leichtes gewesen, sich zu entfernen und später zurückzukommen, ohne dass jemand Notiz davon nahm.
Griet sah hinüber zu Pieter. Er saß an Henks Schreibtisch und hatte sich am Computer in eine Recherche vertieft. Wie er zuvor verkündet hatte, versuchte er, mehr über die Vergangenheit von Luuk de Jong herauszufinden.
Ihr mobieltje klingelte und riss Griet aus ihren Gedanken. Es war Noor, die Kriminaltechnikerin. Griet legte das Gerät auf den Schreibtisch und aktivierte den Lautsprecher, sodass alle mithören konnten.
»Ich habe euch eben die Ergebnisse der Tatortuntersuchung gemailt«, dröhnte ihre Stimme etwas blechern aus dem Gerät. »Ich dachte aber, dass ihr vielleicht gern die Kurzfassung hören wollt.«
»Wir sind ganz Ohr«, antwortete Griet.
Noor erklärte, dass sich ihr Verdacht bestätigt hatte. Die Lack- und Kleberreste an der Kleidung des Opfers und der Plane, in die es eingewickelt worden war, waren identisch mit den Spuren auf den Plastikplanen in der Lagerhalle. Damit stand fest, dass Bakker in der Halle bei der Arbeit an seinem Plattboot ermordet worden war.
»Da ist noch etwas«, sagte Noor. »Ascophyllum nodosum.«
Pieter schürzte die Lippen. »Was meint sie damit? Klingt wie ein Zauberspruch von Harry Potter … lese ich unserer Jüngsten grade vor.«
Griet musste sich ein Grinsen verbeißen. Das lateinische Kauderwelsch, mit dem sich die Kriminaltechniker und Rechtsmediziner gern schmückten, war für sie oft ebenso unverständlich.
»Seetang«, erklärte Henk, der mit dem Bürostuhl zu ihnen herübergerollt war. »Einfach gesagt, handelt es sich um eine Art der Braunalge, wie sie hier in der Gezeitenzone vorkommt. Sie wächst an geschützten Stellen wie Felsen oder Mauern.«
Griets Verwunderung über sein Wissen war ihr offensichtlich anzusehen, denn Henk fügte hinzu: »Wenn du den ganzen Tag von Wasser umgeben bist, dann kennst du dich irgendwann ein bisschen aus. Geht mir zumindest so.«
»Ich habe das Zeug auf Steinen im Jachthafen, direkt hinter der Lagerhalle gefunden«, meldete sich Noor wieder zu Wort. »Und in der Plastikplane, in die das Opfer eingewickelt war, lagen ebenfalls einige Steine zur Beschwerung. Sie sind identisch mit denen aus dem Hafen, auch sie waren bewachsen mit Ascophyllum nodosum. «
»Dann ist es also so wie gedacht«, fasste Griet zusammen. »Der Täter erschießt Bakker in der Halle, packt ihn in die Plane, schleppt die Leiche in den Hafen zu einem Boot und nimmt sich ein paar Steine aus dem Hafenbecken zur Beschwerung mit.«
Aus dem Lautsprecher von Griets mobieltje drang ein Räuspern. »Eine Sache wäre da noch, wenn auch vermutlich nicht besonders aufschlussreich. Wir hatten ja die Schuhabdrücke in der Farblache gefunden. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass sie von Surf- oder Wasserschuhen stammen könnten, und zwar solchen, die ein starkes Profil haben und auch oft als Straßenschuhe getragen werden.«
Pieter seufzte und warf den Bleistift, den er in der Hand hielt, auf den Schreibtisch. »Das schränkt die Suche ja nicht gerade ein.«
»Was ist mit dem geknackten Schloss am Hintereingang?«, fragte Griet.
»Ebenfalls Fehlanzeige. Wer es aufgebrochen hat, muss Handschuhe getragen haben.«
Sie bedankten sich, und Griet beendete das Gespräch.
Im Grunde waren sie nicht viel weiter als zuvor, abgesehen davon, dass sich die Tat mit hoher Wahrscheinlichkeit so abgespielt hatte, wie sie es vermutet hatten. Und das, wurde Griet noch einmal bewusst, bedeutete, dass der Täter nicht im Affekt gehandelt hatte, sondern alles geplant haben musste.
»Entschuldigt.« Karen den Bosch kam zu ihnen herüber und hielt einen Ausdruck in der Hand. »Von der Küstenwache ist gerade der Bericht über das Frachterunglück reingekommen. Ich glaube, ihr solltet euch das mal ansehen …«
Griet nahm das Dokument entgegen und begann zu lesen. Schon nach wenigen Absätzen wurde deutlich, dass in der Mordnacht auf dem Meer vor Vlieland der Teufel los gewesen war – und das beantwortete auch die Frage, was den Täter gestört hatte. Denn genau in der Zeitspanne, als er sich mit der Leiche von Vincent Bakker auf dem Meer befunden haben musste, war der chinesische Tanker Honam direkt vor der Insel mit einem unbeleuchteten Fischerboot kollidiert. Und bei dem Boot hatte es sich nicht um ein gewöhnliches Fischerboot gehandelt …