15 Ein nasses Grab
E
in breites Wolkenband hatte den Himmel verdunkelt, und die tief stehende Nachmittagssonne war nur noch wie durch eine Milchglasscheibe zu sehen. Der Wind rauschte in den kahlen Kronen der Platanen, als Griet ihr Fahrrad am schmiedeeisernen Tor des Friedhofs abstellte. Aus der mittelalterlichen Kreuzkirche direkt daneben drangen unmelodische Töne, als würde jemand gerade die Orgel stimmen. Griet drückte die Klinke nach unten, und mit einem Quietschen schwang das Tor auf.
Die Grabsteine standen in langen, parallelen Reihen. Die vorderen waren bereits so verwittert, dass die Inschriften nur noch bruchstückhaft zu entziffern waren. Der Kies knirschte unter Griets Schuhsohlen, als sie zu den hinteren Reihen ging, wo sie Marc Martens am Morgen beobachtet hatte.
In der Mitte des Friedhofs kam sie an einer Gruppe von weißen Grabsteinen vorbei, zu denen ein Kriegerdenkmal für die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs gehörte. Es war die letzte Ruhestätte einiger Dutzend Niederländer, Amerikaner, Briten und Deutscher, die meisten von ihnen kaum älter als Anfang zwanzig, als sie gestorben waren.
Bei den neueren Grabsteinen bog Griet in die Reihe ein, wo sie Martens gesehen hatte. Sie schritt vorbei an Gräbern mit den Namen Jaap Smit, Trinneke den Drijer, Lisbeth Mol, bis sie vor einem Grab stehen blieb, auf dem frische Blumen lagen. Es war das gepflegteste in der Reihe, und auf dem Grabstein war die Inschrift eingraviert:
Coen Martens
1971–1989
Es war das Grab von Marc Martens’ älterem Bruder. Ein gerahmtes Bild, eingelassen in den Stein, zeigte das Gesicht eines jungen Mannes, der gerade an der Schwelle zum Erwachsensein stand. Die Ähnlichkeit mit Marc Martens war unverkennbar, das Gesicht ein wenig schmaler, das Kinn kantiger.
Griet bemerkte aus dem Augenwinkel, wie jemand zwischen den Grabsteinen auf sie zukam. Der Mann war in Schwarz gekleidet, und das Kollarhemd, das sich unter der Jacke über einem stattlichen Bauch spannte, wies ihn als Geistlichen aus.
»Coen gehört zu jenen Unglücklichen, die uns viel zu früh verlassen mussten«, sagte der Pfarrer, als er neben Griet an das Grab trat.
»Ich hatte gerade das Vergnügen mit seinem Bruder Marc«, entgegnete Griet.
»Ich sehe Marc fast jeden Morgen hier. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie die Polizistin vom Festland sind?«
»Neuigkeiten verbreiten sich hier rasch.«
»Allerdings«, sagte der Pfarrer und reichte ihr die Hand. »Mein Name ist Arjan.«
Griet ging in die Hocke und stellte das Windlicht wieder auf, das umgefallen war. Sie mochte Geistliche nicht, so wie sie generell jede Form von Frömmigkeit seit ihrer Kindheit verabscheute.
Ihre Mutter war Polizistin gewesen. Als sie bei einem Einsatz ums Leben gekommen war, waren Griet und ihr Vater nach Thorn zu den Großeltern gezogen, beides Calvinisten. Die sonntäglichen Kirchgänge, sterbenslangweilige Predigten, Bibelstunden, Tischgebete und die cholerischen Anfälle ihres strenggläubigen Großvaters – Griet erinnerte sich mit Schaudern daran. Einmal hatte der Großvater sie beim Knutschen mit ihrem ersten Freund erwischt und wollte ihr die Unzucht mit dem Gürtel austreiben. Das war der Tag gewesen, als ihr Vater beschlossen hatte, für sie beide ein eigenes Zuhause zu suchen.
Griet war der Meinung, jeder sollte frei und unabhängig leben und sich nicht von anderen Menschen, die meinten, im Namen eines imaginären Gottes zu sprechen, vorschreiben lassen, was er zu tun oder zu denken hatte.
Einen Glaubenssatz des Calvinismus hatte Griet allerdings verinnerlicht: den der absoluten Verderbtheit des Menschen.
Daraus war etwas erwachsen, das sie ihre realistische Vorsicht
nannte. Sie glaubte fest daran: Jeder hatte eine dunkle Seite.
Ihrem Vater und manchen Freunden war dieser Wesenszug an ihr immer suspekt gewesen, sie hielten Griet für eine misstrauische Misanthropin, die niemandem über den Weg traute. Vor allem ihr Beziehungsleben hatte darunter gelitten. Für ihren Beruf brachte diese Haltung hingegen auch Vorteile mit sich. Ihr Misstrauen hatte sie mehr als ein Mal zu einer verborgenen Wahrheit geführt.
Und dies galt auch für jene, die vorgaben, Heilige, Engel oder Wohltäter zu sein. In ihrem Beruf hatte Griet oft genug die Erfahrung gemacht, dass es auch bei Gläubigen und Geistlichen mit der Mitmenschlichkeit, die sie predigten, manchmal nicht weit her war.
Dass sie nun dem Dorfpfarrer in die Arme gelaufen war, konnte allerdings eine glückliche Fügung sein. Wenn man wissen wollte, was die Menschen einer Gemeinde bewegte, waren ihre Seelsorger neben Gastwirten, Friseuren und Postboten die besten Anlaufstellen.
»Wissen Sie, wie Coen Martens ums Leben kam?«
»Diesen Tag werde ich wohl nie vergessen«, sagte Pfarrer Arjan. »Ich hatte die Gemeinde damals gerade übernommen und war neu auf der Insel.«
»Es soll ein Unglück auf der Fähre gegeben haben.«
Der Pfarrer kniete sich neben sie.
»Das stimmt. Es war an einem Abend im Sommer 1989. Ein Sturm war aufgezogen. Ich erwartete einen Freund, der mit der letzten Fähre kommen wollte, und stand daher mit den anderen Leuten am Fähranleger. Doch das Boot tauchte nicht auf. Zu der Zeit gab es weder Internet noch Mobiltelefone. Niemand wusste, was los war.«
Der Pfarrer stand auf und schlug den Kragen hoch, um sich vor dem kalten Wind zu schützen. »Die Fähre, die damals verkehrte, war nicht mit den heutigen zu vergleichen. Das Boot war klein, anfällig für Seegang, und die Anfahrt auf Vlieland kann sehr ruppig sein.«
Griet musste an ihre eigene Überfahrt hierher denken und mochte sich nicht vorstellen, die Passage bei einem ausgewachsenen Sturm machen zu müssen.
»Irgendwann kam die Fähre dann doch, und wir erfuhren, was geschehen war«, sagte Arjan. »Ein Mann hatte sich während der Überfahrt auf dem Oberdeck aufgehalten. Als hohe Wellen das Schiff auf die Seite warfen, ging er über Bord. Die Rettungskräfte suchten die ganze Nacht. Sie fanden den Unglücklichen erst in den frühen Morgenstunden; seine Leiche war auf einer Sandbank angespült worden. Die Nordsee hatte Coen Martens in ein nasses Grab gezogen.«
Leichter Nieselregen setzte ein, und Griet zog die Kapuze über den Kopf. »Was hatte Coen bei so einem Wetter überhaupt an Deck zu suchen?«
»Ich weiß es nicht. Für solche Fragen sollten Sie lieber mit Ruud Seedorf sprechen.«
Griet erinnerte sich an den Namen, Noemi hatte den Mann nach ihrem Besuch im Hafen erwähnt. »Gehört Seedorf das große Plattboot im Hafen?«
»Ja, Ruud war damals Erster Offizier auf der Fähre.«
Der Pfarrer betrachtete das Grab von Coen Martens und sah dann zu den Nachbargräbern. Er kaute auf seiner Unterlippe: Griet hatte den Eindruck, dass ihm etwas auf der Zunge lag. Doch mehr als einen Seufzer brachte er schließlich nicht heraus.
»Sagen Sie, wie halten es die Leute hier auf Vlieland eigentlich mit dem Kirchenbesuch?«, fragte Griet.
»Oh, die Dinge sind hier noch ein wenig anders als auf dem Festland«, erklärte Pfarrer Arjan. »Was wohl daran liegt, dass wir hier vom Meer umgeben sind. Da befindet man sich bekanntlich in Gottes Hand. Im Sommer zeigt die Insel ihr liebliches Gesicht. Im Winter, wenn die Stürme kommen, werden die Menschen gottesfürchtig.«
Er schmunzelte.
»Dann kennen Sie Ihre Schäfchen vermutlich recht gut«, meinte Griet.
»Die meisten. Wir sind eine überschaubare Gemeinde. Ich schätze, Sie interessieren sich für jemanden Bestimmtes?«
»Vincent Bakker. Ich versuche, mir einen Eindruck davon zu verschaffen, was er für ein Mensch war … und wer einen Grund gehabt haben könnte, ihn zu töten.«
»Vincent war ein ehrbarer Mann, zweifellos wichtig für unsere Gemeinde und die Insel. Er war sehr geschäftstüchtig und, soviel ich weiß, auch ein fürsorglicher Familienvater …«
Griet konnte sich bei den salbungsvollen Worten ein Grinsen nicht verkneifen. »Ich bin zwar erst ein paar Tage auf der Insel, aber dass Vincent Bakker kein Engel war, habe ich schon herausbekommen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Er hat einem anderen Mann die Ehefrau ausgespannt, und als Geschäftsmann war er sogar bei Verwandten bereit, über Leichen zu gehen … Wenn ich mich recht erinnere, alles Dinge, die im christlichen Regelbuch nicht mit Bonuspunkten belohnt werden.«
Pfarrer Arjan fuhr sich mit der Hand über die Halbglatze und blickte sich verstohlen um, als wäre es ihm nicht recht, wenn man ihn mit der Polizistin reden sah. Dann deutete er auf die Kirche. »Wie wäre es, wenn wir uns drinnen weiter unterhalten?«
***
Es war kühl in der Kirche. Griet rieb die Hände aneinander, während sie sich umsah. Pfarrer Arjan hatte ihr im Gehen erzählt, dass die Nicolaaskerk
nicht ohne Grund als historische zeemannskerk
bezeichnet wurde. Ihre Einrichtung bestand überwiegend aus Einzelteilen und Fundstücken alter Schiffe. Die Kanzel war aus dem Holz eines gesunkenen Schiffs gefertigt, die Stützpfeiler der Kirche aus alten Masten und einige der Bänke aus Treibholz, das an den Stränden der Insel angespült worden war. Die Kirche war im frühen Mittelalter erbaut worden. Oost-Vlieland war damals lediglich eine Ansammlung von wenigen Häusern gewesen. Der Mittelpunkt des Lebens und Anlaufplatz für die Schifffahrt war damals West-Vlieland am entgegengesetzten Ende der Insel.
»Erst als jenes Dorf in den Fluten versank, entwickelte sich Oost-Vlieland und mit ihm die Nicolaaskerk, die in ihrer jetzigen Form als Kreuzkirche schon seit 1647 Bestand hat und inzwischen ein rijksmonument ist«, erklärte der Pfarrer.
Er wies sie auf die Orgel hin, die im Jahr 1780 gebaut und Ende des neunzehnten Jahrhunderts auf die Insel gebracht worden war. Eine junge Frau saß daran und übte. Als sie den Pfarrer und Griet erblickte, hörte sie auf. Pfarrer Arjan ging zu ihr hinüber und sagte etwas im Flüsterton. Die Frau stand sogleich auf und meinte leise: »Zeker, uwe genade –
natürlich, Hochwürden.« Dann verließ sie die Kirche, und der Pfarrer und Griet waren allein.
Griet verdrehte innerlich die Augen, dass sich jemand im 21. Jahrhundert noch mit uwe genade
– Hochwürden – anreden ließ.
Der Pfarrer bedeutete Griet, sich neben ihn auf eine der Kirchenbänke zu setzen.
»Für Sie mag eine solche Unterhaltung reine Routine sein«, sagte er dann. »Für mich ist sie das nicht. Die Menschen hier vertrauen mir. Ich weiß nicht, ob ich mit Ihnen so offen reden sollte …«
»Sie brauchen mir keine Beichtgeheimnisse anzuvertrauen …«
»… wir sind eine protestantische Gemeinde.«
»Wie auch immer. Das hier ist keine Vernehmung. Ich werde alles, was Sie mir sagen, diskret und vertraulich behandeln. Wir sind ganz unter uns« – Griet deutete zur Kirchendecke hinauf – ,»mal abgesehen von ihm da oben.«
Pfarrer Arjan lächelte, und genau das hatte Griet mit ihrer Bemerkung bezweckt. Amüsante Spitzfindigkeiten, die etwas mit Gott zu tun hatten, versetzten Gläubige meist in gute Laune.
»Wenn Sie es so sagen …« Er überlegte einen Moment, entschied sich dann aber offenbar, ihr zu vertrauen: »Ich kannte Vincent schon als jungen Mann. Ich war noch keine drei Tage im Amt, als er mit dem Vorschlag auf mich zukam, Kirchenführungen für die Gäste des Badhotels
zu veranstalten. Ich antwortete ihm, dass Gottes Haus ohnehin allen Menschen offen stünde. Er hatte natürlich etwas anderes im Sinn, wollte den Leuten Geld aus der Tasche ziehen.« Arjan lachte.
»Arbeitete Vincent zu der Zeit mit Coen Martens im Badhotel
?«
»Ja, die beiden waren in der Ausbildung. Und ein schnelles Geschäft war ihnen in der freien Zeit immer willkommen. Manchmal waren ihre Ideen … verwegen. Ich weiß noch, dass Coen einmal den Vorschlag machte, im Sommer ein Musikfestival auf der Insel zu veranstalten, um auch junge Besucher nach Vlieland zu locken. Die Alteingesessenen verwarfen den Gedanken zunächst, aus Angst, damit vielleicht ›zwielichtiges Gesindel‹ anzulocken. Doch Vincent antichambrierte wochenlang, und schließlich gab es doch ein Festival. Und es war sogar sehr erfolgreich.« Pfarrer Arjan schürzte die Lippen. »Wie Sie vielleicht wissen, haben wir heute jedes Jahr ein großes Musikfestival hier auf der Insel, Into the Great Wide Open.
Alle profitieren davon, niemand fühlt sich von so etwas noch gestört. Coen und Vincents Idee war also wegweisend. Bemerkenswert, wenn man bedenkt, was für grundverschiedene Charaktere die beiden waren.«
»Wie meinen Sie das?«
»Coen war ein bodenständiger Mensch. Man sah ihn auch spätabends noch am Schreibtisch über den Zahlen sitzen. Vincent war … anders. Er war immer zur Stelle, wenn irgendwo angepackt werden musste. Doch er war auch der Ansicht: Wer tüchtig arbeitet, muss tüchtig feiern. Wenn es ein feestje
oder ein lekker pilsje
gab, war Vincent nie weit. Das machte ihn bei den Leuten beliebt.«
»Hm, einem lekker meisje
war er auch nie abgeneigt, wie ich gehört habe.« Allmählich fand Griet es doch ein wenig ermüdend, dass alle Vincent Bakker als den Heiligen darstellten, der er ganz offensichtlich nicht gewesen war.
Pfarrer Arjan errötete und rutschte hin und her, als wäre ihm seine Kirchenbank plötzlich zu hart. »Nun ja … er war dem anderen Geschlecht durchaus … zugeneigt.« Er verzog die Lippen zu einem schmalen Strich. »Ich weiß nicht. Ich möchte Ihnen gern bei Ihren Nachforschungen helfen, doch ich fühle mich wirklich nicht wohl dabei, in dieser Form über einen Verstorbenen zu sprechen.«
Das sieht man dir an, dachte Griet, und ich möchte zu gern wissen, was der Grund für dieses Unwohlsein ist.
»Uwe genade,
das ist doch nur allzu verständlich«, sagte sie. »Allerdings ist ein Mensch ermordet worden, und der Täter befindet sich auf dieser Insel. Ein Wolf, vor dem Sie Ihre Herde schützen sollten. Dabei wäre ich Ihnen gern behilflich. Allerdings geht das nur, wenn ich auch die Schwächen des Verstorbenen kenne.«
»Natürlich, Sie haben ganz recht. Wir … haben alle unsere Schwächen. Wobei Vincent im Herzen ein guter Mensch war.«
Pfarrer Arjan räusperte sich. »Ihren Fragen entnehme ich, Sie haben die Gerüchte gehört?«
»Ich habe allerhand gehört. Was genau meinen Sie?«
»Nun … schon damals munkelten die Leute, dass Vincent sehr umtriebig war, was … was das Körperliche anging.«
»Ja, so weit waren wir schon.«
»Angeblich übertrieb er es bei den weiblichen Hotelgästen und dem Personal manchmal mit der Freundlichkeit – wenn Sie verstehen, was ich meine. Aber wie gesagt, alles nur Gerüchte.«
»Verstehe«, sagte Griet.
Mit anderen Worten war Vincent Bakker schon als junger Mann ein Schürzenjäger gewesen, der alles begrapscht hatte, was bei drei nicht auf dem Baum war. Sogar im Hotel hatte er die Finger nicht bei sich behalten können.
»Gehe ich recht in der Annahme, dass sich seine Angewohnheiten nicht wesentlich zum Besseren verändert haben?«
»Ich vermute, mit dieser Einschätzung könnten Sie richtigliegen.«
»Wissen Sie, was seine Frau darüber dachte?«
»Das entzieht sich nun wirklich meiner Kenntnis.« Pfarrer Arjan erhob sich. »Ich glaube … ich habe Ihnen genug erzählt.«
»Sie haben mir sehr geholfen«, sagte Griet, reichte dem Pfarrer die Hand. »Und wie Sie eben sagten, Gottes Haus steht jedem offen. Ich werde bei Gelegenheit mal wieder vorbeischauen.«
Als sie durch das Mittelschiff zur Kirchentür ging, spürte Griet den Blick des Geistlichen in ihrem Nacken.
Ihre realistische Vorsicht
sagte ihr, dass Pfarrer Arjan ihr etwas verschwieg. Ihrem ersten Kirchenbesuch seit vierzig Jahren würde bald ein zweiter folgen.