17 Assepoester
U
nd das soll Polizeiarbeit sein!?« Pieter starrte Griet an, das Gesicht vor Wut gerötet. »Wir sind doch hier nicht im Märchen … Assepoester
– Aschenputtel – oder so, wo wir einfach ausprobieren, wem der Schuh passt. Es gibt Regeln, die wir beachten müssen!«
Neben ihm am Tisch saß Noemi, das Gesicht ebenfalls hochrot. »Interessant, dass gerade du dich auf die Vorschriften berufst!«
»Das tut hier jetzt nichts zur Sache.«
»Oh, vielleicht interessiert sich …«
Griet wusste weder, worauf Noemi anspielte, noch, worauf die Diskussion hinauslief, und es war ihr im Moment auch egal. Sie brachte die beiden mit einer Geste zum Verstummen.
Noemi und Pieter saßen ihr am Schreibtisch gegenüber. Griet blickte über die Schulter kurz zu Henks Assistentin Karen hinüber, die mit einem Rentner beschäftigt war, der sich über die laute Musik seiner Nachbarn beklagte, und den Streit nicht bemerkt hatte.
Griet beugte sich vor und sagte ruhig: »Ein Vorschlag. Ich hole mir einen koffie.
Ihr beiden beruhigt euch in der Zwischenzeit.«
Sie nahm ihre Kaffeetasse und machte sich auf den Weg in die Küche. Die Wache auf Vlieland mochte derzeit keine Heizung haben, eines hatte sie aber: Im Gegensatz zu den meisten anderen Dienststellen gab es hier statt einem Kaffeevollautomaten eine italienische Siebträgermaschine, die hervorragenden koffie
erzeugte. Während das Gerät seinen Dienst tat, genoss Griet die kurze Auszeit. Noemi und Pieter hatten sich bereits in den Haaren gehabt, als sie in die Wache gekommen war. Es ging um den Surfschuppen hinter Marc Martens’ Strandpavillon. Noemi hatte ihn unter die Lupe genommen. Und Pieter hatte sich über ihr eigenmächtiges Vorgehen aufgeregt.
Nach dem Gespräch mit Marc Martens war Noemi zu diesem Schuppen hinter dem Strandpavillon gegangen. Darin befanden sich Surf- und Kiteboards, Segel für das Windsurfen, Surfschuhe und andere Utensilien, die man für den Sport brauchte. Noemi hatte einen Ausdruck des Schuhabdrucks vom Tatort dabeigehabt. In dem Schuppen hatte sie ein halbes Dutzend Schuhe vorgefunden, die meisten davon Halbschuhe oder Neoprenstiefel. Lediglich ein Paar hatte sich von allen anderen unterschieden. Noemi hatte es in einer Ecke neben einem verpackten Kitesegel entdeckt. Es waren Wasserschuhe einer bekannten Marke, mit einem Muster aus schwarz-neongelben Zacken und mit einer konturierten Sohle. Sie hatte das Profil der Schuhe mit dem Profil aus dem Labor verglichen. Auf den ersten Blick schienen sie identisch. Zudem befanden sich an den Sohlen der Schuhe Farbreste.
Mit einer Tasse frisch gebrauten koffie
setzte sich Griet wieder an den Schreibtisch.
Pieter lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Nur mal angenommen, es wären tatsächlich die Schuhe, die wir suchen. Dir ist schon klar, dass wir einen Durchsuchungsbeschluss brauchen, wenn wir sie als Beweis verwerten wollen?«
Griet, die noch immer nicht nachvollziehen konnte, warum Pieter sich derart aufregte, unterbrach ihn: »Noemi hat sich den Schuppen auf meine Anweisung hin angesehen.«
Pieter hob eine Augenbraue und erwiderte mit ironischem Unterton: »Ach so. Dann …«
»Also« – Griet ignorierte ihn und nickte Noemi zu –, »was hast du noch in Erfahrung gebracht?«
Noemi berichtete, dass sie sich am Strand mit einer Gruppe von Wind- und Kitesurfern unterhalten hatte. Sie hatten erklärt, dass in dem Schuppen das Surfequipment von Tim Janssen lagere, dem Gehilfen von Marc Martens, den sie bei ihrem Besuch im De Lutine
getroffen hatten. Er betätigte sich in seiner freien Zeit als Surflehrer.
»Und das bedeutet«, schloss Noemi, »dass die Wasserschuhe im Schuppen Tim gehören. Die Farbreste passen zu denen vom Tatort. Jede Wette, dass die kriminaltechnische Analyse das bestätigt. Wir haben unseren Täter!«
Griet hob die Tasse an die Lippen, genoss den Duft frischen Kaffees und trank einen Schluck.
Pieter verdrehte die Augen. »Wenn Tim Surflehrer ist, könnten die Schuhe auch jemandem gehören, den er unterrichtet. Das beweist gar nichts. Außerdem wissen wir nicht, ob der Junge ein Motiv hatte. Also immer schön der Reihe nach …«
Während Pieter der jungen Kollegin in wenigen Sätzen die Grundzüge der Ermittlungsarbeit erklärte, nahm Griet einen Kugelschreiber vom Schreibtisch und drehte ihn zwischen den Fingern hin und her. Als Pieter seine Predigt beendet hatte, meinte sie: »Trotzdem sollten wir uns den Jungen mal genauer ansehen. Finden wir heraus, was er in der Mordnacht getrieben hat und ob er etwas mit Vincent Bakker zu schaffen hatte.«
»Da wäre noch etwas …«, sagte Noemi. »Als ich vom Strand zurückging, kam ich wieder an Martens’ Strandpavillon vorbei. Und in dem Moment rannte Tim Janssen zum Hinterausgang hinaus. Er schien es ziemlich eilig zu haben. Ich bin um das Haus herum, und vor dem Eingang sah ich dann den Jeep von Henk stehen.«
Pieter rückte seine Schiebermütze zurecht. »Was soll das jetzt wieder heißen? Dass Tim Janssen vor Henk getürmt ist?«
»Vielleicht …«
»Ich frage Henk«, sagte Griet. Sie hatte ohnehin versprochen, ihn später über den Stand der Ermittlungen zu informieren.
»Okay, wenn sonst nichts mehr ist, werde ich jetzt mal das Alibi von Marc Martens checken«, sagte Noemi.
Sie stand auf, ging vorbei an Karen den Bosch, die den aufgebrachten Rentner inzwischen mit einem koffie
zur Räson gebracht hatte, und verließ die Wache.
»Prima.« Pieter seufzte resigniert, als Griet schließlich mit ihm allein war. »Jetzt kann ich endlich das Mittagessen nachholen. Kommst du mit? Dann erzähle ich dir, was ich über Luuk de Jong herausgefunden habe. Der Mann hat definitiv eine Leiche im Keller.«
***
Schräg gegenüber der Polizeiwache befand sich in einem Häuschen aus weißen Backsteinen eine frituur.
Am frühen Nachmittag waren sie die einzigen Gäste und saßen an einem Tisch am Fenster. Es roch nach Frittenfett. Der Besitzer des Ladens blätterte im Nebenzimmer in der neuesten Ausgabe des Algemeen Dagblad.
»Schmeckt es?«, fragte Griet, während sie Pieter dabei zusah, wie er eine frikandel special
mit Curryketchup und Zwiebeln verschlang, als hätte er die vergangenen drei Wochen im Kerker bei Brackwasser und Schimmelbrot verbracht.
»Vorzüglich«, antwortete er mit vollem Mund, tupfte sich mit der Papierserviette über die Lippen und machte sich dann mit unverminderter Inbrunst auch noch über das patatje joppie
her, Pommes frites mit Currymayonnaise und Zwiebeln. Kauend deutete er mit der gelben Plastikgabel in Griets Richtung: »Tut mir übrigens leid … hab gar nicht dran gedacht, dass du hier nicht viel findest, was du essen kannst. Is’ trotzdem gut?«
»Ganz prima.« Griet spießte ein paar Pommes auf und tunkte sie in die Soße. Überraschenderweise servierte man in der Vlieländer Frittenbude vegane Satésoße, die hervorragend schmeckte.
»Sag mal«, fragte sie, »was ist eigentlich zwischen dir und Noemi los?«
Er fuhr sich über den grau melierten Bart. »Ich schätze mal, du und ich sind ungefähr im selben Alter. Weißt du noch, wie es war, als wir angefangen haben?«
Ihr erster Arbeitstag bei der Polizei lag schon eine ganze Weile zurück, und die Zeit war schneller vergangen, als Griet es sich jemals hatte vorstellen können. Die Anfangsjahre waren ihr dennoch im Gedächtnis geblieben, die Wochen und Monate am Fuß der Leiter, die Scheißjobs, die niemand machen wollte.
»Wir mussten uns erst beweisen«, fuhr Pieter fort. »Heute wird es den jungen Leuten zu leicht gemacht, weil alle froh sind, wenn sich überhaupt jemand für den Polizeidienst bewirbt.«
»Wie lange ist Noemi schon dabei?«
»Jedenfalls nicht lange genug, um bereits bei der Districtsrecherche zu arbeiten. Sie hat zweifellos Talent, keine Frage. Und faul ist sie auch nicht, im Gegenteil. Ich finde nur, sie ist … übereifrig, verrennt sich schnell in Ideen. Ein oder zwei weitere Jahre auf der Straße hätten ihr gutgetan, um die nötige Erfahrung zu sammeln.«
Griet hatte schon öfter erlebt, dass ein junger Kollege auf einen Posten befördert wurde, der noch eine Nummer zu groß für ihn war. »Du meinst, Noemi kennt jemanden, der jemanden kennt?«
»Man munkelt so manches.« Pieter wiegte den Kopf hin und her. »Weißt du, was sie mal zu einer Kollegin gesagt hat? Ich hab’s zufällig mitbekommen: Sie meinte, in spätestens zehn Jahren will sie die Abteilung leiten und in zwanzig Polizeichefin sein.«
»Klingt zumindest, als hätte sie einen Plan.«
»Ich will dem Mädchen ja nichts Böses. Manchmal muss man aber Klartext reden. Wir sollten ihr helfen, den rechten Weg zu finden: immer schön nach den Regeln spielen, Ruhe und Überblick bewahren, nicht gleich mit dem Kopf durch die Wand gehen.«
»Verstehe.« Zumindest war er bereit, der jungen Kollegin eine Chance zu geben. Allerdings beruhte die Abneigung wohl auf Gegenseitigkeit. Noemi schien ihrerseits einen bestimmten Grund für die Aversion gegen Pieter zu haben. Und Griet hätte ihn zu gern erfahren.
»Luuk de Jong …« Pieter knüllte die Papierserviette zusammen, legte sie in die leere Pommesschale und schob das Tablett zur Seite. »Ich habe mir das Melderegister angesehen und ein paar interessante Details über die Vergangenheit unseres Freundes herausgefunden.«
»Und die wären?«
»De Jong hat in Baarle Nassau gewohnt, bis er 1992 sehr spontan umzog.«
Griet kannte Baarle Nassau. Der Ort Baarle lag geografisch zwar vollständig auf niederländischem Gebiet in der Nähe zur belgischen Grenze, dennoch bestand er aus dem niederländischen Teil Baarle Nassau und dem belgischen Teil Baarle Hertog. Der Grenzverlauf war innerhalb des Ortes ziemlich unübersichtlich, ging stellenweise mitten durch die Häuser, sodass die Küche in den Niederlanden, das Wohnzimmer aber schon in Belgien liegen konnte. Was den Ort für ihre Arbeit so interessant machte: Unter Polizisten gab es das ungeschriebene Gesetz, dass man in Belgien alles bekommen konnte, was man für kriminelle Machenschaften im Allgemeinen brauchte. Wenn man bei der politie
arbeitete, hatte man daher immer mal wieder in einem der beiden Baarles zu tun.
Pieter schob sich einen Kaugummi in den Mund. »Ich habe de Jongs damaligen Vermieter ausfindig gemacht, und er erzählte mir eine interessante Geschichte. Er erhielt eines Tages einen Anruf von de Jongs Nachbarn. Sie hörten seit Tagen einen Hund in der Wohnung jaulen. Der Vermieter versuchte, de Jong zu erreichen. Ohne Erfolg. Also ließ er die Kollegen von der Streife kommen, brachte den Hund ins Tierheim. Von de Jong keine Spur. Er kündigte die Wohnung zwei Monate später auf postalischem Weg. Und seinen Hund hat er nie abgeholt.«
Griet aß die letzten Pommes. Die Satésoße war wirklich gut. Die Geschichte von Luuk de Jong war in der Tat ungewöhnlich. Wenn Leute überstürzt das Weite suchten und alles hinter sich ließen, hatte dies in der Regel einen triftigen Grund.
»Mich machten zwei Dinge an der Sache stutzig«, fuhr Pieter fort. »Da ist einmal der Hund. Der Vermieter erzählte mir, dass de Jong das Tier schon bei seinem Einzug mitbrachte, und er hat acht Jahre in der Wohnung gelebt. Eine lange Zeit, und wenn man kein Unmensch ist, entwickelt man eine enge Bindung zu so einem Tier. Wir haben selbst einen Hund, ich weiß also, wovon ich spreche. Ich würde meinen vierbeinigen Freund niemals so einfach im Stich lassen, wenn ich nicht einen sehr dringenden Grund dafür hätte.«
»Und zweitens?«
»De Jong war mit der Miete im Rückstand.«
»Aha, wie viel?«
»Sechs Monatsmieten. Und plötzlich hatte er das Geld, um die ausstehende Miete auf einen Schlag bezahlen zu können. Es war dem Umschlag mit der postalischen Kündigung beigefügt. In bar.«
Griet runzelte die Stirn. Menschen schuldeten ihren Vermietern manchmal Geld, nicht schön, aber auch nichts Besonderes. Wenn der ausstehende Betrag dann aber plötzlich in einem Briefumschlag steckte, war das zumindest bemerkenswert. 1992 hatte es zwar noch keine Onlineüberweisungen gegeben, aber de Jong hätte seine Schulden mit einer gewöhnlichen Banküberweisung begleichen können, was zweifelsohne der sicherere Weg gewesen wäre. Es sei denn … er hatte das Geld, über das er plötzlich verfügte, nicht so ohne Weiteres zur Bank bringen können.
Pieter berichtete weiter: »Im Juli jenes Jahres tauchte de Jong hier auf der Insel auf. Er kaufte sich ein kleines Häuschen, das schon lange leer stand, und renovierte es. Karen konnte mir einiges erzählen. Ihrem Vater Jeroen hat nämlich damals der Vliehorsexplorer
gehört. Er war achtundsechzig Jahre alt und überaus erfreut, als de Jong ihm das Angebot machte, das Geschäft zu übernehmen. Und noch erfreuter war er, als der Fremde die komplette Summe in bar über den Tisch schob. Stolze einhunderttausend Gulden.«
Griet hob die Augenbrauen. Das ließ die Sache wirklich dubios erscheinen. Einhunderttausend Gulden waren auch damals eine Menge Geld gewesen, vor allem für jemanden, der eben noch seine Miete nicht hatte zahlen können. Und wenn man einen solchen Betrag in bar auf den Tisch legte …
»Es kommt noch besser«, meinte Pieter. »Ich habe mit einem Kollegen gesprochen, den ich von früher kenne und der auf der Dienststelle in Baarle Nassau arbeitet. Ich bat ihn, mal im Archiv zu kramen, ob es in den Tagen und Wochen vor de Jongs Umzug in einem der beiden Baarles ungewöhnliche Vorfälle gegeben hat. Und dann hat er mir das hier geschickt.«
Pieter schob ihr den Ausdruck eines Zeitungsartikels über den Tisch. Der Bericht stammte von Ende Juni 1992. Griet überflog den Text.
In Baarle Hertog, dem belgischen Teil von Baarle, hatte es einen Bankraub gegeben. Eine Filiale war von zwei maskierten Männern überfallen worden. Die Sache verlief zunächst glimpflich, bis die Diebe die Bank verließen. Es gab einen Wachmann, der eine Waffe versteckt am Körper trug. Er eröffnete das Feuer, als die beiden zum Fluchtwagen rannten, und traf einen der Männer ins Bein. Dennoch gelang ihnen die Flucht. Über die genaue Höhe der erbeuteten Summe machten in dem Artikel weder die Bank noch die Polizei Angaben.
Griet ließ das Blatt sinken. »Wusste dein Kollege zufällig, um wie viel sie die Bank erleichtert haben?«
Pieter nickte und lächelte. »Eine Dreiviertelmillion Gulden. In nicht nummerierten oder anderweitig gekennzeichneten Scheinen. Von dem Geld und den Dieben fehlt bis heute jede Spur.«
***
Sie waren bis an das Ende der Welt gefahren, oder zumindest kam es Griet so vor. Das Posthuys,
wo sie mit Henk bei einem koffie
saß, befand sich am westlichen Ende von Vlieland. Sie hatten Oost-Vlieland mit dem Jeep verlassen, und damit war auch die Zivilisation hinter ihnen zurückgeblieben. Über den Postweg waren sie eine Weile direkt am Wattenmeer entlanggefahren, vorbei an einer ausgedehnten Heide- und Marschlandschaft, und dann in das Boomenland
eingetaucht, ein kleines, dichtes Wäldchen. Als sie es wieder verließen, war das Posthuys
aufgetaucht, ein modernisiertes Bauernhaus, dessen großes orangerotes Dach beinahe bis auf den Boden reichte. Das Haus stand einsam mitten im Nirgendwo, zwischen Wattenmeer und Heide. Direkt dahinter erstreckten sich die Kroon’s Polders,
ein weites Vogelschutzgebiet, das im Vliehors,
der großen Sandbank, mündete.
Griet wollte ihren Teil der Abmachung, die sie mit Henk getroffen hatte, einhalten und ihm berichten, was sie in der Mordsache Vincent Bakker bislang herausgefunden hatten. Henk hatte vorgeschlagen, dass sie sich dazu an einen ruhigen Ort zurückzogen, wo sie ungestört reden konnten. Vermutlich hätten sie das auch in der Wache oder einem Café im Dorf tun können, und so hatte Griet das vage Gefühl, dass Henk vor allem hierhergekommen war, weil er ein wenig Zeit mit ihr allein verbringen wollte. Er war ein attraktiver Mann, und sie mochte seine klare, zupackende Art. Und allein wegen der Sightseeingtour über die Insel hatte es sich schon gelohnt, seiner Einladung zu folgen.
Henk kannte den Wirt des Posthuys.
Als dieser ihnen die Getränke brachte, ließ der Mann es sich nicht nehmen, Griet ein wenig über die Historie des Hauses zu erzählen.
Schon im Goldenen Zeitalter der Niederlande war das Posthuys
die Schaltzentrale der Postroute Amsterdam–Vlieland gewesen. Kriegs- und Handelsschiffe, auf dem Weg in die unterschiedlichsten Ecken der Welt, lagen vor Vlieland auf Reede und warteten auf Order von ihren Eignern – die in der Regel nur auf postalischem Weg überbracht werden konnte. Von Amsterdam aus ritt ein Postillion nach Den Helder, von wo aus ein Postschiff die Briefe nach Texel brachte. Dort wartete bereits ein Reiter, der sich sodann auf den Weg ans östliche Ende der Insel machte, wo er die Post an einen Schiffer übergab, der von Texel aus den Vliehors
ansteuerte. Vom Posthuys aus machte sich derweil der Vlieländer Postillion auf den Weg, um den Schiffer zu treffen. Bei Wind und Wetter musste der Postillion mit Pferd und Wagen die acht Kilometer weite Strecke bis an den äußersten Zipfel des Vliehors
fahren, wo er den Postschiffer aus Texel traf. Die Post aus Amsterdam trat dann den letzten Teil ihrer Reise an. Der Postillion brachte sie nach Oost-Vlieland, von wo aus sie auf kleinen Schaluppen zu den wartenden Schiffen gelangte.
»Die Verbindung zwischen Texel und Vlieland gibt es übrigens noch heute«, beschloss der Wirt seine Ausführungen. »Von Frühjahr bis Herbst fährt ein Mal am Tag ein kleines Boot zwischen Texel und dem Vliehors
hin und her. Ist eine schöne Tour, falls Sie mal Zeit haben …«
Er wies sie noch auf die breite Auswahl an Kuchen hin, dann überließ er die beiden Gäste wieder sich selbst.
Henk gab einen Löffel Kandiszucker in seinen Earl-Grey-Tee und rührte um. »Und, seid ihr weitergekommen?«
Griet erzählte ihm, was sie inzwischen über Luuk de Jong, Marc Martens und Tim Janssen wussten.
»Tim?« Henk fuhr sich mit der Hand durch das lockige Haar. »Ich war tatsächlich vorhin beim Strandpavillon und wollte mit ihm reden.«
»Dann hatte Noemi recht, er ist vor dir weggelaufen?«
»Könnte man so sagen.«
»Worum ging es?«, fragte Griet.
»Es … wäre ganz gut, wenn das unter uns bleibt.«
Griet nickte.
»Wir haben hier im Sommer ein großes Open-Air-Festival, Into the Great Wide Open.
Es wimmelt dann auf der Insel vor hormongestörten Teens, die sich tagelang abschießen. Vergangenes Jahr habe ich Tim dabei erwischt, wie er Koks vertickt hat. Ich habe ihm zwar ordentlich den Marsch geblasen, ihn wegen der Sache aber nicht hopsgenommen. Der Junge ist nicht besonders helle, weißt du, einer, der immer wieder aus der Reihe tanzt. Er tut das, um gegen seine Eltern aufzubegehren. Ihnen gehört der Supermarkt in der Dorpstraat, zwei bodenständige Spießer, wie sie im Buche stehen. Der Junge ist leider zu blöd, um über den Tag hinauszudenken. Er sieht das schnelle Geld, versteht aber nicht, dass er sich mit so einer Nummer den Rest des Lebens versaut. Ich wollte ihm heute auf die Füße treten, ihn daran erinnern, dass ich ihn dieses Jahr nicht wieder erwischen will. Außerdem … hoffe ich, dass er mich über kurz oder lang zu demjenigen führt, der ihm das Zeug verkauft hat.«
»Glaubst du, Tim könnte etwas mit unserem Fall zu tun haben?«, fragte Griet.
Henk überlegte einen Moment. »Er ist ein kräftiger Bursche und ein Hitzkopf obendrein. Wenn bei ihm genug Druck auf dem Kessel ist … möglicherweise. Ich wüsste allerdings nicht, warum er das getan haben sollte.«
»Das werden wir wohl herausfinden müssen. Bei Marc Martens und Luuk de Jong sind wir da schon weiter. Den beiden kommt Vincent Bakkers Tod durchaus gelegen.«
»Die Sache mit Luuk ist in der Tat seltsam. Die Älteren auf der Insel erzählen sich noch heute, wie er in den Neunzigern hier auftauchte und mit Geld um sich warf. Und niemand weiß so recht, was er vorher getrieben hat.«
»Wir werden dranbleiben …«, sagte Griet. »Vielleicht helfen uns die Bilder von der Feier im Oude Veermann
weiter.«
»Ja, der Fotograf hat mir versprochen, dass er mir alle Aufnahmen raussucht, auf denen Luuk zu sehen ist. Mit etwas Glück ist sein ominöser Freund ebenfalls drauf.« Henk räusperte sich. »Was ist mit Marc Martens?«
»Scheint ein Alibi zu haben. Noemi prüft das. Er sagt, er hätte den Abend bei einer Willma Visser verbracht.«
»Willma?«
»Du kennst sie?«
»Sagen wir so … viele Männer auf Vlieland kennen Willma.«
»Ach so, verstehe. Warten wir mal ab, was sie sagt.« Griet trank einen Schluck koffie.
»Mittlerweile glaube ich jedenfalls, dass es mit Vincent Bakker kein Unschuldslamm erwischt hat.«
»Wie meinst du das?«
Griet erzählte ihm von ihrem Gespräch mit Emma Bakker und dem, was sie über das freizügige Liebesleben des Verstorbenen in Erfahrung gebracht hatte.
»Tja, in der Beziehung gehörte Vincent sicherlich eher zu dem Typ Mann, den ich nicht mag«, erklärte Henk. »Er war einer von denen, die glauben, dass alle Frauen es toll finden, wenn sie von ihm in den Arm genommen oder ungefragt geküsst werden. Ich vermute mal, du weißt, was ich meine.«
»Schon.« Griet schmunzelte. »So einem habe ich mal die Nase gebrochen, als ich seinen Kussversuch mit einem Kopfstoß erwidert habe.«
»Das ist Vincent vermutlich nie widerfahren. Er machte es immer auf eine charmante Art, deshalb war ihm selten eine Frau böse, wenn er sie in den Arm nahm und dabei zufällig ihre nackte Schulter oder ihren Hintern berührte. Auffällig war es trotzdem, das habe ich gleich bei meiner Ankunft bemerkt, als ich bei ihm zu Gast war. Er schäkerte immer mit einem Zimmermädchen oder den weiblichen Gästen.«
»Du hast mal bei ihm im Hotel übernachtet?«
»Ja, ich hatte dort für zwei Wochen ein Zimmer, als ich neu auf der Insel war und mir eine Bleibe suchen musste.« Henk nippte an seinem Tee.
»Wo warst du eingesetzt, bevor du auf die Insel kamst?«
»Amsterdam. Bei der Sitte.«
»Da hattest du dir aber ein heißes Pflaster ausgesucht.« Griet hatte in ihrer Ausbildungszeit ebenfalls dort Dienst getan und erinnerte sich noch lebhaft an die Arbeit im Rotlichtmilieu.
»De Wallen
kannte ich später besser als mein Wohnzimmer. Auf Dauer mochte ich allerdings nicht dort bleiben.«
Griet fragte nicht weiter nach, warum er weggegangen war. Sie konnte nachvollziehen, wenn jemand den Job nicht bis an sein Lebensende ertrug. Auch Bas hatte sich von der Sitte wegversetzen lassen wollen, an einen anderen Ort, wo sie gemeinsam ein neues Leben hätten beginnen können.
Henk erinnerte sie in gewisser Weise an Bas. Das kantige Kinn, der bestimmte, aber doch auch verständnisvolle Blick, seine ausgeglichene Art. Sie schätzte, dass er ein oder zwei Jahre jünger war als sie, doch die kleinen Furchen und Falten in seinem Gesicht erzählten von seiner Lebenserfahrung.
»Und du, bist du schon lange bei der Districtsrecherche?«, fragte Henk.
»Nein, tatsächlich habe ich gerade erst angefangen. Ich war zuvor in Rotterdam«, sagte Griet. »Ich bin mir noch nicht ganz sicher, ob ich das Stadtleben und die Arbeit dort vermisse. Fehlt dir der Stadttrubel nicht?«
»Nein, ich mag es hier«, sagte er und lächelte. »Und warum hat es dich ausgerechnet in den entlegensten Winkel unseres Landes verschlagen?«
»Ist ’ne längere Geschichte …«, erwiderte sie ausweichend und hoffte, er würde verstehen, dass sie im Moment nicht darüber sprechen wollte.
Henk schien seine Worte abzuwägen, als er schließlich sagte: »Hättest du vielleicht Lust, mir bei Gelegenheit bei einem Abendessen davon zu erzählen?«