18 Das Medaillon
G riet genoss die frühe Morgensonne, die hell und warm durch das Plexiglas des Windschutzes auf ihr Gesicht fiel. Sie saß auf der Terrasse des reetgedeckten Ferienhauses, eine Bangkirai-Konstruktion, an die eine Wiese grenzte. Dahinter begann der Wald. Auf der anderen Seite erstreckten sich die langen, geschwungenen Dünen. Aus der Ferne war das Rauschen der Wellen zu hören. Nur vereinzelt standen Schäfchenwolken hoch am Himmel, dennoch wehte der Wind kräftig und verteilte die Brotkrumen, die Griet ausgestreut hatte. Einige Hühner und ein Fasan stolzierten um das Haus, offenbar daran gewöhnt, dass vom Tisch der Urlaubsgäste etwas für sie abfiel.
Griet schloss die Augen. Auf einer ähnlichen Terrasse eines ähnlichen Ferienhauses hatte ihre Karriere einmal begonnen. Sie sah sich wieder an jenem nasskalten Wintertag vor zwanzig Jahren neben den abmontierten Dielen einer Holzterrasse stehen, den Blick erschrocken in das Loch gerichtet, das die Kriminaltechniker darunter ausgehoben hatten. Dort lagen die Überreste eines fünfjährigen Mädchens. Suske Melis. Den Namen würde Griet nie vergessen.
Die Eltern hatten das Kind vermisst gemeldet. Griet war das jüngste Mitglied des Team Grootschalige Opspooring, das in der Sache ermittelte.
Angeblich war die Mutter mit der Kleinen auf dem Spielplatz gewesen. Sie achtete einen Moment nicht auf das Mädchen, und als sie wieder hinsah, war es verschwunden. Die unmittelbar eingeleitete Suche blieb erfolglos.
Dass etwas an der Sache nicht stimmte, war von Beginn an klar gewesen. Erstens verschwanden Kinder nicht einfach so. Entgegen den üblichen, von Filmen, Fernsehserien und Büchern geprägten Vorstellungen kamen Kindesentführungen in einem Land wie den Niederlanden äußerst selten vor, einfach deshalb, weil sie für Verbrecher unattraktiv waren. Die Chance, mit der Sache aufzufliegen, war zu groß. Wer es dennoch versuchte, schnappte sich in den wenigen Fällen, die es gab, die Kinder vermögender Eltern, ein Kriterium, das auf die Familie Melis nicht zutraf.
Vermisste Kinder tauchten gewöhnlich schnell wieder auf, hatten sich verlaufen oder waren von zu Hause ausgerissen. War dies nicht der Fall, konnte man ein Verbrechen nicht ausschließen, wobei der Täter dann oft aus dem familiären Umfeld kam.
Und so richteten sich ihre Ermittlungen bald gegen die Eltern von Suske Melis. Denn obwohl der Spielplatz, auf dem das Mädchen angeblich verschwunden war, in einem belebten Viertel lag und gut besucht wurde, ließen sich keine Zeugen finden, die Suske und ihre Mutter zur betreffenden Zeit dort gesehen hatten.
Es war Griet, die schließlich den entscheidenden Hinweis entdeckte. Die Eltern vermieteten ein Ferienhaus in Ouddorp auf der Insel Goeree-Overflakkee. Und offenbar hatten sie, kurz bevor sie ihre Tochter vermisst meldeten, die Gartenterrasse neu verlegt …
Am Hals der Kinderleiche, die sie ausgruben, fanden sie Würgemale. Die Mutter gestand schließlich. Ihr waren die Sicherungen durchgebrannt, als Suske in einem Trotzanfall nicht mit dem Weinen aufgehört hatte.
Ere wie ere toekomt, hatte Griets Teamleiter gesagt, Ehre, wem Ehre gebührt, woraufhin ihr Gesicht in den darauffolgenden Tagen landesweit die Nachrichten schmückte.
Und so hatte sie schließlich Fleming, ihren Ex-Mann, kennengelernt.
Fleming war damals noch Journalist gewesen und hatte für das Wochenmagazin Elsevier gearbeitet. Er wollte sich einen Jugendtraum erfüllen und einen Kriminalroman schreiben. Für seine Recherchen suchte er einen Kontakt bei der Polizei, und die junge, gut aussehende Ermittlerin, die gerade das Verschwinden von Suske Melis aufgeklärt hatte, schien ihm eine vielversprechende Quelle zu sein.
Sie trafen sich regelmäßig, und ihre Gespräche verließen bald die rein sachliche Ebene. Mit sportlicher Statur, krausen schwarzen Haaren und Vollbart war Fleming nicht der Typ, den man von der Bettkante stieß. Doch es war nicht sein Äußeres gewesen, sondern die braunen Augen hinter der runden Stahlgestell-Brille, die sie neugierig musterten und nie losließen, wenn sie von sich und ihrem Beruf erzählte. Fleming gehörte zu den wenigen Männern, die sich auf die Kunst des Zuhörens verstanden.
Sie waren das perfekte Team, zumindest fühlte es sich eine ganze Weile so an. Griet erzählte Fleming von ihren Erlebnissen, die er in seinen Büchern verarbeiten konnte, die allesamt Bestseller wurden. Im Gegenzug brachten Griet seine analytischen Überlegungen, wenn sie ihm von einem Fall berichtete, manchmal auf eine neue Fährte.
Sie warteten nicht lange mit der Hochzeit, doch als Fleming sich schließlich Kinder wünschte, vertröstete Griet ihn. Mit jedem Tag, der aus Leidenschaft eine Gewohnheit machte, realisierte sie, dass etwas mit ihrer Beziehung nicht stimmte. Fleming war ein charmanter Mann, der sie auf Händen trug und der sich für ihr Leben interessierte. Doch sein Interesse kratzte immer nur an der Oberfläche. Er verstand nie wirklich, was das, was Griet in ihrem Beruf erlebte, mit ihr machte. Und das konnte sie ihm nicht einmal übel nehmen. Fleming wusste schließlich nicht, wie es war, vor den verwesenden Überresten eines Menschen zu stehen, der einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war. Er hatte noch nie die Aussage einer Frau aufnehmen müssen, die kurz zuvor vergewaltigt worden war. Er musste sich nicht an Orte begeben, von denen man nicht wusste, ob man sie lebend wieder verlassen würde. Und er konnte nicht nachempfinden, wie es war, eine entsicherte Waffe auf einen Menschen zu richten, bereit, auf ihn zu schießen, wenn es sein musste.
Griet hatte sich schon damit abgefunden, dass sie solche Probleme mit sich selbst ausmachen musste.
Und dann hatte sie Bas getroffen.
Bas, der wusste, wie es war.
Bis dahin hatte Griet es immer für esoterisches Geschwätz gehalten, doch als Bas sie an jenem Abend nach dem Erlebnis im Apartment 12b in der Oranje-Nassaustraat in seinem Bett in den Arm nahm, hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl gehabt, ihren Seelenverwandten gefunden zu haben.
Sie hatten Pläne geschmiedet für ein gemeinsames Leben, ein freieres Leben. Griet war sogar bereit gewesen, Fleming zu verlassen. Doch dann hatte sie die Träume zusammen mit Bas beerdigen müssen.
***
Griet schlug die Augen auf und blinzelte gegen die Sonne. Sie richtete sich auf und trank einen Schluck koffie, der inzwischen kalt geworden war. Dann versuchte sie, ihre Gedanken wieder auf das Hier und Jetzt zu richten.
In der Hand hielt Griet ein Papier mit Noemis Zusammenfassung ihres Gesprächs mit Willma Visser am gestrigen Nachmittag. Visser bewohnte ein Haus am Ende der Dorpstraat und hatte Noemi erst nach mehrmaligem Klingeln geöffnet. Auf die Frage, ob Marc Martens am Freitagabend bei ihr gewesen war, hatte sie zunächst gezögert, es dann aber bestätigt.
Wesentlich weiter brachte die Angabe der Frau sie nicht. Dass Willma, wie Henk gesagt hatte, eine Prostituierte war, war eine gute Erklärung dafür, warum Martens so zögerlich mit der Sprache herausgerückt war. Welcher Mann gab schon gern zu, dass er für Sex bezahlen musste. Dennoch war fraglich, wie viel ein solches Alibi wert war. Jemand, der sich für Sex bezahlen ließ, verkaufte eventuell auch Alibis.
Griet legte das Papier zur Seite. Ihre Gedanken kreisten in Wahrheit um etwas anderes. Sie wunderte sich noch immer, was tags zuvor in sie gefahren war: Sie hatte Henks Einladung zum Abendessen angenommen. Trotz ihrer guten Vorsätze und nur, weil sie sich von ihm angezogen fühlte. Andererseits war es lediglich ein gemeinsames Essen, und mehr musste gar nicht daraus werden. Sie würden sich heute Abend bei ihm zu Hause treffen.
Die Sonne hatte zwar schon Kraft, doch der böige Wind fand immer wieder einen Weg um die Plexiglasscheibe herum. Griet holte eine graue Wollmütze aus der Jackentasche und zog sie über den Kopf.
Ihr mobieltje vibrierte. Es war Mei, die Rechtsmedizinerin.
»Goedemorgen, Griet. Ich hoffe, du sitzt nicht gerade beim Frühstück.«
»Kein Problem …«
»Die Obduktion hat im Großen und Ganzen meine Annahmen bestätigt. Die Details erspare ich dir, steht dann im Bericht. Kein Wasser in der Lunge, keine Lungenballonierung, kein Schaumpilz – er ist definitiv nicht ertrunken. Auch war die Waschhaut erst mäßig ausgeprägt und die Leiche, abgesehen von den Treibverletzungen, in einem guten Zustand, sodass er tatsächlich nicht lange im Wasser gelegen haben kann …«
»Mei«, unterbrach Griet die Rechtsmedizinerin, »machen wir es kurz. Erzähl mir, was ich noch nicht weiß.«
»Da wären zwei interessante Dinge. Zum einen gibt es eine Verletzung im Gesicht: Die Oberlippe ist an der rechten Seite aufgeplatzt, ein Schneidezahn ist locker. Es handelt sich eindeutig nicht um Treibverletzungen, und wir können davon ausgehen, dass sie dem Opfer ante mortem zugefügt wurden.«
»Du meinst, sie könnten von einem Schlag stammen?«
»Das musst du herausfinden. Ich habe am Hinterkopf eine größere Läsion entdeckt. Sieht so aus, als ob er nach dem tödlichen Schuss nach hinten gekippt und auf den Kopf geknallt ist. Wäre er mit dem Gesicht aufgeschlagen, wären die Verletzungen wohl erheblicher. Die kaputte Lippe und der lockere Zahn müssten demnach eine andere Ursache haben.«
Griet dachte an den Streit von Vincent Bakker mit Luuk de Jong im Oude Veermann, allerdings hatte bislang niemand davon gesprochen, dass die beiden sich einen Schlagabtausch geliefert hatten.
»Und zum anderen wäre da noch das tödliche Geschoss«, fuhr Mei fort. »Es steckte im Herz des Opfers – oder dem, was davon noch übrig war – und dürfte umgehend eine tödliche Wirkung entfaltet haben. Es handelt sich um ein Teilmantelgeschoss.«
Griet wiederholte überrascht: »Ein Teilmantelgeschoss?«
Das erklärte unter anderem, warum sie kein Blut am Tatort gefunden hatten. Ein solches Geschoss durchschlug im Gegensatz zu einem Vollmantelgeschoss üblicherweise nicht den Körper des Opfers, sondern pilzte auf, wenn es in das Gewebe eindrang. Auf diese Weise verursachte es erhebliche innere Verletzungen, die fast zwangsläufig zum Tod führten. Wollte man jemanden erschießen und auf Nummer sicher gehen, war ein solches Deformationsgeschoss eine gute Wahl. Wobei es auf legalem Weg schwer zu beschaffen war. Allerdings gab es einen ganz speziellen Abnehmerkreis.
»Mei«, fragte Griet, »um was für eine Patrone handelt es sich genau?«
»Es ist eine 9x19NP
»Godverdomme!«
Die eigentliche Bezeichnung dieser Patrone lautete Action 4, und sie stammte vom Schweizer Hersteller RUAG . Sie hatte einen Geschosskopf in der Farbe oranje, und das Kürzel NP stand für Nederlandse Politie. Es war die Einsatzmunition der Polizei.
Griet zog sich die Wollmütze vom Kopf und schleuderte sie frustriert auf den gegenüberstehenden Stuhl. Der Fall war gerade um einiges komplizierter geworden. Wenn legitimierte Waffenbesitzer die Action-4-Munition nicht im nächsten Waffenladen bekamen – und sogar im Darknet solche Spezialgeschosse eine Seltenheit waren –, wie sollten Luuk de Jong, Tim Janssen oder Marc Martens sie sich beschafft haben?
Hundegebell riss Griet aus ihren Überlegungen.
Ein schwarz-braun gescheckter Beagle kam von der Wiese auf die Terrasse gelaufen, wedelte mit dem Schwanz und blickte Griet neugierig an. Sie wandte sich um, aber weder auf der Wiese noch auf dem Weg vor dem Haus war jemand zu sehen.
Griet beugte sich vor, um den Hund zu streicheln, doch er wich zurück, schnappte sich ihre graue Wollmütze, die neben dem Stuhl am Boden lag, und lief damit auf die Wiese.
»Potverdikkie!«, zischte Griet und sprang auf. »Na warte.«
Der Hund jagte über die Wiese und verschwand, die Mütze im Maul, zwischen den Bäumen.
Griet rannte ihm in den Wald nach.
***
Obwohl der Frühling die ersten zarten Knospen trieb und zwischen den kahlen Laubbäumen nur wenige Nadelhölzer standen, wurde das Tageslicht schwächer, je weiter Griet in den Wald vordrang. Der Hund blieb immer wieder stehen und blickte sich um, ob Griet ihm noch folgte. Sobald sie auf ein paar Schritte heran war, lief er weiter. Er schien große Freude an diesem Spiel zu haben. Griet konnte nur mühsam mithalten. Früher hatten kilometerlange Joggingläufe zu ihrem Trainingsprogramm gehört. Doch nach dem Krankenhausaufenthalt und der Babypause waren andere Dinge in den Vordergrund gerückt. Sie nahm sich vor, wieder regelmäßig zu trainieren, wobei sie insgeheim bereits ahnte, dass es bei dem Vorsatz bleiben würde.
Der Beagle rannte einen moosbewachsenen Hügel hinauf. Keuchend erklomm Griet die kleine Anhöhe, doch sobald sie oben war, rannte der Hund schon wieder hinab. Unten angekommen, folgte er einem schmalen Trampelpfad.
Griet blieb stehen, stemmte eine Hand in die Seite und versuchte, zu Atem zu kommen. In den Baumwipfeln über ihr hörte sie den Seewind rauschen. Sie blickte dem Hund nach. Der Wanderweg schien zu einer Lichtung zu führen. Nach einer kurzen Verschnaufpause setzte sie sich wieder in Bewegung.
Auf der Lichtung stand ein kleines Haus. Dahinter endete der Wald; ein Schotterweg führte zwischen den letzten Baumreihen hinaus in eine weite Heidelandschaft.
Der Beagle lief durch das offene Tor des Lattenzauns und auf das Haus zu. Tatsächlich handelte es sich eher um eine schmale Holzhütte, insgesamt kaum drei Meter breit und sechs Meter lang. Sie war umgeben von einer Ansammlung unterschiedlichster Dinge: Bänke, Stühle, Tische, kleine Windräder, ein Ruderboot und eine bunte Lok für Kinder. Alles war aus Holz gefertigt. Die dafür nötigen Balken und Bretter lagerten in allen Formen und Größen in einem Schuppen neben dem Haus. Auf der gegenüberliegenden Seite befanden sich ein Gemüsegarten und einige Obstbäume. Eine Veranda führte vor den Eingang der Hütte, an deren Dachbalken mehrere Windspiele hingen, deren Lied im Wind erklang.
Der Hund ließ Griets Mütze vor der Tür fallen und widmete sich einer Schüssel mit Wasser, die neben dem Eingang stand. Mit schweren Schritten folgte Griet ihm und hob die Mütze auf. Mit ernstem Blick sah sie zu dem Beagle hinüber. »Ich … verhafte Sie wegen Diebstahl«, sagte sie keuchend. »Sie haben … das Recht, das Bellen zu verweigern … und Ihr Herrchen zu konsultieren.«
Vom Besitzer des Hundes war allerdings weit und breit keine Spur zu sehen.
Die Eingangstür stand einen Spalt weit offen. Griet gab ihr einen Stoß. Die Hütte war spartanisch eingerichtet. Direkt zur Rechten war eine kleine Kitchenette eingebaut, an die sich eine Schrankwand mit ausklappbarem Esstisch anschloss. Einen Fernseher gab es nicht, dafür standen auf den Regalen Bücher und ein Plattenspieler mit Radio. Eine halb offene Schublade enthielt Geschirr und Besteck. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raums befand sich ein Ecksofa. Und links neben dem Eingang vermutete Griet hinter einer verschlossenen Tür ein kleines Bad. Über allem war bis zur Hälfte des Raums eine Galerie eingezogen, zu der eine Leiter hinaufführte. Zwei übereinandergestapelte Matratzen waren dort oben zu erkennen.
Wer auch immer hier lebte, musste ein äußerst bescheidener Mensch sein.
Ein Medaillon fiel ihr ins Auge, das an einer Kette neben der Tür hing. Es war silbern, in seiner Mitte war ein Stein eingearbeitet, der von einer wabenförmigen Struktur umgeben war.
Von draußen hörte sie eine Stimme.
»Hej, Puppie«, sagte die Frau, die sich neben den Hund gekniet hatte und ihn streichelte. Sie trug einen langen grauen Regenmantel, Jeans und Gummistiefel. Hinter ihr war ein rostiges Damenrad abgestellt, an dessen Rahmen zwei Holzlatten festgebunden waren. Die Frau strich sich die grauen Haare aus dem von Falten durchzogenen Gesicht, als sie aufstand und zu Griet kam.
»Du scheinst einen Besucher mitgebracht zu haben, Puppie. «
»Tut mir leid, dass ich einfach reingegangen bin«, sagte Griet und reichte ihr die Hand. »Ich dachte, dass vielleicht jemand …«
»Ist schon gut.« Die Frau erwiderte den Händedruck und winkte ab. »Hier gibt es nicht viel Wertvolles, das zu stehlen sich lohnt. Ich bin Tinneke, schön, dich kennenzulernen. Machst du Urlaub hier?«
»Kann man nicht unbedingt sagen. Ich … recherchiere.«
»Ah, du arbeitest für eine Zeitung.«
Griet verzichtete darauf, diese Vermutung richtigzustellen. Es gab keinen zwingenden Grund, dieser Frau zu sagen, dass sie von der Polizei war, denn oft waren die Menschen zugänglicher, wenn sie es nicht wussten.
Mit einigen Schritten trat Griet von der Veranda hinab auf die Wiese und blickte sich um. »Lebst du allein hier draußen?«
»Inzwischen schon. Mein Mann ist vor zwei Jahren gestorben.«
»Das tut mir leid.«
»Braucht es nicht. Er war zehn Jahre älter als ich, und mit fünfundsiebzig hat man sein Leben gelebt.«
Griet strich mit der Hand über eine der Bänke. Sie bestand aus unterschiedlichen Hölzern, die aber perfekt geschliffen und ineinandergepasst waren.
»Ist selbst gemacht«, erklärte Tinneke. »Wir … ich bin Jutter. «
»Jutter?«
»Ein Strandräuber, wenn man so will.« Tinneke lächelte. »Ich sammele alte Dinge, die am Strand angespült oder von den Leuten weggeworfen werden. Daraus baue ich neue Dinge.« Sie drehte sich im Kreis und machte eine weit ausholende Geste. »Das alles hier haben mein Mann und ich gebaut – aus Balken, Planken und allem anderen, was man am Strand so findet. Hin und wieder verkaufe ich etwas – die Bank da geht nächste Woche nach Haarlem. Ich muss noch die letzte Lackschicht auftragen.«
»Und davon kannst du leben?«
Lachfältchen bildeten sich um Tinnekes Augen. »Wenn du damit meinst, ob ich mir teure Kleider kaufen kann und ein dickes Auto fahre, ob ich immer das neueste Handy habe und drei Mal im Jahr in Urlaub fliegen kann, dann: nein. Wenn du mich fragst, ob ich mit dem, was ich habe, zufrieden bin, dann lautet die Antwort: ja.«
Wenig später verabschiedete sich Griet. Sie dachte noch über die Worte der Frau nach, als sie über den Kiesweg in den Wald ging. Genügsamkeit war eine Tugend, die sie selbst nie besessen hatte. Hätte sie sich beschieden, wäre vielleicht alles anders gekommen. Sie hätte sich mit dem Schreibtischjob begnügt, den man ihr nach der Babypause und der Sache mit Bas zugewiesen hatte. Sie hätte halbe Tage fleißig Akten sortiert, in Computerdatenbanken an der richtigen Stelle ein Häkchen in ein eckiges Kästchen gesetzt und an Besprechungen teilgenommen, in denen es immer frischen Kaffee und Plätzchen gab. Danach hätte sie sich um ihre Familie gekümmert, Babybrei gekocht, Windeln gewechselt und Grimassen geschnitten, um ihre Tochter zum Lachen zu bringen. Kurz, sie wäre eine gute Mutter gewesen, so wie es Fleming gefallen hätte.
Doch das war nicht ihre Welt gewesen.
Sie hatte wieder auf die Straße gewollt. Auf die Jagd.
Griet blieb stehen und blickte zu dem Häuschen auf der Lichtung zurück. Sie sog die frische Seeluft tief in die Lungen. Der Geruch von Harz. Das Rauschen des Windes in den Bäumen. Der Schrei der Möwen. Das ferne Tosen des Meeres. Ruhe. Frieden. Hatte sie ihr Leben lang versucht, das falsche Ziel zu erreichen? War sie überhaupt eine so gute Ermittlerin, wie sie immer gedacht hatte?
Vielleicht war es Zeit, kürzerzutreten, jemand anderen die Welt retten und gegen die bösen Jungs zu Felde ziehen zu lassen.
Vielleicht aber auch nicht.
Etwas nagte in ihrem Hinterkopf, während sie langsam über den weichen Waldboden zurück zum Ferienhaus ging.
Dann fiel es ihr ein.
Das Medaillon in Tinnekes Haus.
Griet war sich sicher, es schon einmal gesehen zu haben.