19 Der fremde Freund
I
ch habe keinen Zweifel«, sagte Pieter, als Griet die Polizeiwache in der Dorpstraat
betrat.
Durch das vordere Fenster fielen Sonnenstrahlen, und man konnte die Staubpartikel in der Luft tanzen sehen. Pieter und Henk saßen bei einem koffie
im hinteren Teil des Raums über Fotos gebeugt, die auf dem Schreibtisch vor ihnen ausgebreitet lagen. Karen widmete sich an dem Tisch, der gegenüber dem Eingang stand, ihrem Frühstücksbrötchen und blätterte in der Zeitung.
»Könnte tatsächlich sein«, antwortete Henk. »Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass ein Verbrecher hier auf der Insel Zuflucht sucht.«
»Wie meinst du das?«
»Schon im Mittelalter war das so. Wer sich auf dem Festland etwas zuschulden hatte kommen lassen – Diebe, Betrüger, Mörder –, flüchtete häufig auf ein Waddeneiland,
um der Strafe zu entgehen. Damals konnte man schließlich nicht einfach mit der Fähre übersetzen, die Anreise war beschwerlich. Und Vlieland war in dieser Beziehung sozusagen ein Hotspot. Das Inselvolk hier galt als besonders eigensinnig. Man verweigerte der Obrigkeit schon mal die Steuerschuld und widersetzte sich auch sonst gern den Anweisungen vom vaste wal, also vom Festland.«
»Ich wusste gar nicht, dass du auch Historiker bist«, bemerkte Griet und trat neben Henk.
Er blickte zu ihr auf und lächelte verschmitzt. »Ich weiß gern, worauf ich mich einlasse. Also hab ich mich ein wenig schlaugemacht, über die Insel und ihre Einwohner, bevor ich den Dienst antrat.«
Griet deutete mit einem Nicken auf die Fotos. »Gibt’s was Neues?«
»Ein paar Leute haben sich das Erinnerungsvermögen auf der Feier im Oude Veermann
nicht restlos weggesoffen«, erklärte Henk. »Drei Gäste bezeugen unabhängig voneinander, dass sie Luuk de Jong mit dem Fremden gesehen haben.«
»Zwar konnte keiner von ihnen sagen, wie lange die beiden auf der Feier waren«, fügte Pieter hinzu. »Aber sie konnten das Aussehen des Mannes beschreiben … und ihre Angaben stimmen mit dem Bild überein, das der Fotograf für Henk rausgesucht hat.«
Er reichte Griet ein Foto, auf dem Luuk de Jong mit einem anderen Mann zu sehen war. Sie standen in einer Ecke an der Theke und prosteten sich zu. De Jong hielt ein pilsje
in der Hand, der Fremde ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit. Obwohl der Mann halb im Schatten stand, konnte man ihn einigermaßen gut erkennen. Er war hager, fast einen Kopf größer als de Jong, hatte eine Glatze, und sein Gesicht war von tiefen Falten durchzogen.
»Keiner unserer Zeugen kennt den Mann«, sagte Henk, »und ich habe ihn auch noch nie auf der Insel gesehen. Daher würde ich davon ausgehen, dass Luuk ihn zu der Feier eingeladen hat.«
»Und das bedeutet, wenn de Jong nicht an Gedächtnisschwund leidet, hat er uns seinen Freund tatsächlich wissentlich vorenthalten.« Griet runzelte die Stirn. »Fragt sich, warum.«
»Vielleicht habe ich eine Erklärung«, sagte Pieter und zog unter den Fotos einen Ausdruck hervor. »Der Kollege in Baarle ist ins Archiv hinabgestiegen und hat sich die alte Akte von dem Banküberfall angesehen. Das hier hat er mir heute Morgen gemailt.«
Griet nahm das Blatt in die Hand. Es war eine Phantomzeichnung.
»Es gab wohl damals eine Zeugin«, erklärte Pieter. »Sie führte ihren Hund spazieren. Die Männer kamen aus der Bank gerannt, stürmten zum Auto, einer von ihnen wurde von dem Wachmann ins Bein geschossen. Sie retteten sich in den Wagen und fuhren los. Kurz bevor sie mit der Frau auf gleicher Höhe waren, riss sich der Kerl auf dem Beifahrersitz, bei dem es sich sehr wahrscheinlich um den Verletzten handelte, allerdings die Skimaske vom Kopf.«
Griet betrachtete die Zeichnung. Phantombilder waren grundsätzlich mit Vorsicht zu behandeln, da sie auf den Beschreibungen und Beobachtungen von Zeugen basierten. Die menschliche Wahrnehmung konnte erstaunlich präzise sein, manchmal neigte das Gedächtnis aber auch dazu, Ungenauigkeiten und Lücken in der Erinnerung mit Fantasie zu füllen. Es war immer fraglich, wie genau ein Zeuge die Person, die er beschrieb, tatsächlich gesehen hatte. Und so war es auch in diesem Fall ein kleines Wunder, dass die Frau überhaupt etwas hatte erkennen können. Der Schreck über einen Schusswechsel, der sich in ihrer unmittelbaren Nähe zugetragen hatte, ein vorbeirasender Fluchtwagen, mögliche Spiegelungen auf den Scheiben des Autos … Es gab viele Faktoren, die ihre Wahrnehmung verzerren konnten. Und wie so oft konnten sie nach so langer Zeit, und ohne die Zeugin persönlich zu kennen, auch nicht wissen, ob es sich bei ihr um jemanden handelte, der sich wichtigmachen wollte.
Im Gegensatz zu dem Mann auf dem Foto, das von dem Abend im Veermann
stammte, hatte der Mann auf der Phantomzeichnung kurze Haare, und an den Schläfen zeigten sich deutliche Geheimratsecken. Das Gesicht war füllig, wenngleich nicht dick. Das Kinn und die Wangen waren glatt rasiert. Die Augenpartien mit den balkenförmigen Brauen ähnelten einander, wenngleich sich die leblosen Augen auf dem Phantombild leider nicht mit dem ausdrucksstarken Blick des Mannes auf dem Foto vergleichen ließen.
»Hm«, machte Griet und sah auf das Foto von der Feier im Oude Veermann,
»sieht aus wie Bruce Willis in jungen Jahren.«
Sie legte das Foto neben die Zeichnung. Es bedurfte einiger Fantasie, den Bankräuber vor ihrem inneren Auge altern zu lassen: Haarausfall, deutlicher Gewichtsverlust, ein hartes Leben, das seine Spuren im Gesicht hinterließ. Was sich nicht geändert hatte, waren die markanten Augenbrauen.
Doch, es war möglich. Der Mann auf dem Phantombild konnte de Jongs unbekannter Freund sein.
»Da ist noch ein Detail, das uns überzeugt hat, dass wir es mit demselben Mann zu tun haben«, sagte Henk. »Zwei unserer Zeugen aus dem Oude Veermann
konnten sich daran erinnern, dass der Mann hinkte.«
»Das könnte zwar alle möglichen Ursachen haben«, fügte Pieter hinzu, »es wäre aber durchaus möglich, dass es sich um Spätfolgen der Schussverletzung bei dem Banküberfall handelt.«
Mit den beiden Bildern in der Hand schritt Griet nachdenklich zum Fenster, das zum Hinterhof hinausführte. Auf dem Deich kämpften zwei Radfahrer gegen den Wind an. In Gedanken reihte sie die Informationen aneinander. Wenn der Bankräuber und der Fremde im Oude Veermann
ein und dieselbe Person waren, dann hatte Luuk de Jong möglicherweise mit ihm vor mehr als zwei Jahrzehnten eine Bank überfallen. Dabei war etwas schiefgelaufen; nach den beiden wurde gefahndet. De Jong hatte Hals über Kopf die Koffer gepackt und sich auf Vlieland versteckt. Da die Scheine des erbeuteten Geldes nicht gekennzeichnet waren, hatte er sich damit auf der Insel ein neues Leben aufbauen können. Und dass die Inselbewohner nicht nachfragten, wenn ihnen jemand einen Batzen Bargeld in die Hand drückte, war nicht weiter verwunderlich. Von da an lief es gut für Luuk de Jong. Er fand eine nette Frau, bekam eine Tochter mit ihr und baute sich mit dem Vliehorsexplorer
ein Geschäft auf.
Und dann kam ihm Vincent Bakker in die Quere.
Griet drehte sich um. Pieter und Henk blickten sie erwartungsvoll an.
»Nehmen wir mal an, das stimmt. Und nehmen wir außerdem an, dass de Jong Vincent Bakker aus den bekannten Gründen tatsächlich hätte umbringen wollen«, sagte sie, wobei sie sich noch immer nicht sicher war, ob sie Luuk eine solche Tat überhaupt zutraute, »dann wäre es möglich, dass ihm sein alter Freund zu Hilfe gekommen ist. Entweder haben die beiden ihm gemeinsam das Licht ausgedreht, oder de Jong hat seinen Freund das erledigen lassen …«
Pieter nickte. »Korrekt.«
»Eines solltet ihr noch wissen …« Griet berichtete von den Ergebnissen der Obduktion und dass der Täter einen speziellen Munitionstypus gewählt hatte. Die Frage war, ob de Jong in der Lage gewesen wäre, sich eine Waffe und die betreffende Munition zu besorgen.
»Überlegt mal«, meinte Henk. »Die beiden haben bewaffnet eine Bank ausgeraubt, das heißt, sie wissen, wie man sich eine Waffe beschafft.«
Pieter stand auf. »Wir werden keine Gewissheit haben, bis wir de Jong in die Mangel genommen haben. Laden wir ihn vor!«
Griet zweifelte, ob dies der richtige Schritt war. Letztendlich hatten sie nichts Konkretes gegen den Mann in der Hand. Die ganze Sache mit dem Bankraub war lediglich eine Vermutung. Und es gab auch keinen direkten Hinweis, dass de Jong den Mord begangen hatte. Andererseits hatte er ein Motiv und belog sie hinsichtlich seines Freundes. Sie hatten nicht viele Spuren in diesem Fall, daher mussten sie dieser umso sorgfältiger nachgehen. Wobei Griet dies lieber in einem informellen Gespräch tun wollte. Bei einer offiziellen Vorladung bestand die Chance, dass de Jong einen Anwalt mitbrachte und dann die Aussage verweigerte.
»Wir reden mit ihm«, beschloss Griet, »aber nicht hier. Wissen wir, wo er gerade ist?«
»Ich habe vorhin vorsorglich in seinem Büro vorbeigeschaut«, sagte Henk. »Er ist draußen beim Drenkelingenhuisje
und kümmert sich um die Strandgutsammlung.«
Griet schlüpfte in ihren Parka. »Dann lasst uns einen Ausflug machen.«
***
»Das habe ich Ihnen doch schon erzählt«, sagte Luuk de Jong. »Ich war den ganzen Abend auf der Feier im Oude Veermann.
«
Sie standen an der umlaufenden Balustrade des Drenkelingenhuisjes,
Griet zur linken Seite von de Jong, Pieter zu seiner Rechten. Henk wartete beim Jeep.
Bislang war de Jong bei seiner Geschichte geblieben. Nun kamen sie zum interessanten Teil des Gesprächs. Griet wollte ihm eine letzte Chance geben.
»Was ich meinte, ist«, nahm Griet den Faden wieder auf, »ob es nicht vielleicht doch jemanden gibt, der mit Ihnen auf der Feier war und eventuell bezeugen kann, wie lange Sie dort waren.«
De Jong zuckte die Schultern. »Wie gesagt … fragen Sie ein paar von den Gästen.«
»Das haben wir getan, meneer
de Jong«, sagte Pieter und stieß sich von der Brüstung ab. Er zog das Foto von der Feier aus der Innentasche seiner Jacke. »Und die Leute konnten sich erinnern, dass Sie mit diesem Mann hier auf der Feier waren.«
De Jong hatte in dem Moment verloren, als er das Foto in die Hand nahm und es betrachtete. Griet hatte diese Art von Gesichtsausdruck schon zu oft gesehen, eine Mischung aus Erstaunen und der plötzlichen Erkenntnis, der Lüge überführt worden zu sein.
»Wer ist der Mann?«, fragte Griet.
»Ich … also … ich habe ihn erst an dem Abend kennengelernt.«
»Er hat Ihnen aber doch bestimmt seinen Namen verraten?«
»Na ja … daran kann ich mich nicht mehr erinnern.«
»Erzählen Sie keine Geschichten«, fuhr Pieter ihn an. »Die Gäste haben ausgesagt, dass Sie beide sich den ganzen Abend unterhalten haben, außerdem kennt niemand anderes den Mann. Sie haben ihn also mit zu der Feier gebracht.«
Er tat einen Schritt auf de Jong zu. »Ich möchte Ihnen eine kleine Geschichte über den Mann erzählen. Er hat 1992 eine Bank in Baarle Hertog ausgeraubt. Mit einem Komplizen. Dabei wurde er angeschossen, weshalb er noch heute hinkt. Das Ganze ereignete sich übrigens nur wenige Tage vor Ihrem übereilten Umzug von Baarle Nassau nach Vlieland, wo Sie sich mit hohen Summen Bargeld ein neues Leben aufgebaut haben …«
»Also, hören Sie mal …« De Jong war sichtlich bemüht, einen empörten Gesichtsausdruck zu zeigen. »Wollen Sie damit etwa sagen, dass ich … Das ist doch wohl die Höhe!«
»Meneer
de Jong.« Griet legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter und führte ihn ein paar Schritte von Pieter weg. »Versetzen Sie sich in unsere Lage. Wir wissen, dass Ihnen der Tod von Vincent Bakker nicht ungelegen kam – Sie mochten ihn aus nachvollziehbaren Gründen nicht besonders. Sie waren an dem Abend, als er getötet wurde, auf der Feier. Gut, aber die hätten Sie auch jederzeit verlassen und später wieder zurückkommen können. Und dann ist da dieser Mann, den Sie uns aber verschwiegen haben und der noch dazu vor Jahren eine Bank überfallen hat … Sie verstehen, dass das alles sehr verdächtig auf uns wirkt.«
Sie blieben stehen. De Jong schüttelte langsam den Kopf. In seinen Augen lag Verzweiflung, und seine Stimme war schwach, als er sagte: »Nein, bitte … ich habe nichts mit dem Überfall zu tun.«
Griet stutzte. Sie hatte soeben angedeutet, dass sie ihn des Mordes an Vincent Bakker verdächtigte, doch seine größte Sorge schien dem Bankraub zu gelten.
»Meneer
de Jong. Ich bin hier, um einen Mord aufzuklären. Sie sind auf dem besten Weg, unser Hauptverdächtiger zu werden. Sollten Sie allerdings nichts mit der Sache zu tun haben, kann ich Ihnen eines versichern: Ich interessiere mich nicht für einen Banküberfall, schon gar nicht für einen, der mehr als zwanzig Jahre zurückliegt.«
»Und der inzwischen übrigens verjährt ist, so leid mir das auch tut«, ergänzte Pieter, der ihnen nachgegangen war.
Luuk de Jong stützte sich mit beiden Armen auf dem Geländer ab und senkte den Kopf, sodass ihm die blonden Locken in die Stirn fielen.
»Ja, ist ja gut«, seufzte er schließlich, »ich kenne den Mann.«
»Mal so unter uns …«, sagte Pieter. »Das hätten Sie uns besser gleich erzählt. Wenn Sie kein so großes Geheimnis darum gemacht hätten, hätten wir gar nicht weiter nachgeforscht.«
»Genau davor hatte ich ja Angst! Ich wollte nicht, dass Sie in meiner Vergangenheit herumstochern.«
»Darf ich das so interpretieren, dass Sie bei dem Bankraub dabei waren?«
De Jong presste die Lippen aufeinander. »Ja.«
»War Ihnen denn nicht klar, dass die Sache längst verjährt ist und wir Ihnen deshalb nichts anhaben können?«
»Darum ging es doch nicht. Ich hatte Angst, dass Sie die alte Sache ans Licht zerren und alle hier Wind davon bekommen. Wissen Sie, wie das auf einer Insel ist? Wenn so was bekannt würde … Mein Ruf wäre ruiniert. Und mein Geschäft gleich mit.«
»Wie gesagt, der Mord. Uns interessiert lediglich der Mord. Von allem anderen muss niemand erfahren«, erklärte Griet.
»Legen Sie die Karten auf den Tisch«, forderte Pieter ihn auf. »Warum war Ihr Komplize von dem Bankraub in der Mordnacht bei Ihnen?«
»Ich hatte ihn lange nicht gesehen. Wir hatten seit dem Überfall keinen Kontakt mehr. Irgendwie hat er mich trotzdem gefunden, ich schätze, übers Internet bekommt man heute alles raus. Er stand jedenfalls plötzlich vor meiner Tür. Offenbar hatte er über die Jahre die ganze Beute aus dem Bankraub mit Alkohol durchgebracht. Jetzt wollte er neu anfangen, hatte einen Entzug hinter sich. Und er brauchte Geld. Deshalb war er da.«
»Wie ist sein Name?«, fragte Griet.
»Vlam Hendriks.«
»Und, haben Sie ihm Geld gegeben?«
»Nein, ich habe Schulden, und die gedenke ich zurückzuzahlen. Das habe ich gestern Abend auch Emma gesagt. Sie wollte mir den Rest erlassen, nun, da Vincent … aber das will ich nicht.« Er machte eine Pause. »Ich habe Vlam auf der Feier meine Lage lang und breit erklärt. Er hat verstanden, dass es mir nicht viel besser geht als ihm.«
»Und er hat Ihnen nicht zufällig angeboten, Vincent Bakker gegen Bezahlung aus dem Weg zu räumen?«
»Nein, das müssen Sie mir jetzt echt glauben.« Er sah abwechselnd zu Griet und Pieter. »Ich hab Sie angelogen, okay, tut mir leid. Aber nur, weil ich nicht wollte, dass die alte Sache rauskommt. Vlam und ich waren die ganze Zeit im Oude Veermann.
In den frühen Morgenstunden sind wir dann zu mir nach Hause. Vlam ist auf dem Sofa eingepennt, ich hab’s noch ins Schlafzimmer geschafft. Am nächsten Mittag hatten wir beide einen fetten Kater, und er ist mit der Nachmittagsfähre wieder aufs Festland zurück. Mit Vincents Tod haben wir beide nichts zu tun!«
»Ich möchte Ihnen gern glauben«, sagte Griet. »Fürs Erste zumindest. Ich hoffe, dass wir nicht noch auf weitere Ungereimtheiten stoßen.«
»Ehrlich, ich hab Ihnen jetzt alles gesagt.« Er hob die Hände. »Und wenn man dem Gerede im Dorf glaubt …«
»Was redet man denn so?«, fragte Pieter.
»Na ja … man redet über Marc Martens.«
»Nämlich?«
»Man hat Sie bereits ein paarmal mit ihm sprechen sehen, und er war wohl auch schon zur Aussage auf der Wache. Man munkelt, dass er endlich getan hat, was er nach Meinung vieler schon längst hätte tun sollen.«
»Und das wäre?«
»Sich für den Tod seines älteren Bruders rächen.«
»Sie meinen Coen Martens?«
»Ja. Manche sind der Ansicht, Vincent Bakker wäre daran schuld.«
»Wer ist manche?
«, fragte Griet.
»Na, zum Beispiel Ruud Seedorf. Er war damals Erster Offizier auf der Fähre.«
»Meneer
de Jong, jetzt haben Sie uns vielleicht doch noch geholfen.«
Griet nickte Pieter zu, und sie setzten sich in Bewegung. Ruud Seedorf, der auf einem Boot im Hafen wohnte und den Noemi bei ihrem ersten Besuch nicht angetroffen hatte, stand ohnehin auf der Liste der Leute, die sie noch befragen mussten.
Sie stiegen die Treppe hinunter und gingen in Richtung des Jeeps. Griet musste sich gegen den Wind stemmen, der so stramm von vorn wehte, als hätte er die Absicht, sie in die entgegengesetzte Richtung zu schieben. Mit jedem Schritt sanken ihre Stiefel in den weichen Sand ein. Sie mochte sich nicht vorstellen, wie es früher für die Schiffbrüchigen gewesen war, die bei Nacht und Sturm hier draußen hatten Schutz suchen müssen, weil sie auf dem Vliehors
gestrandet waren.
Pieter hatte einen Anruf entgegengenommen und telefonierte einige Schritte hinter ihr, als sie beim Jeep ankamen. Henk lehnte an der Kühlerhaube und rauchte.
»Na, du siehst ja entspannt aus«, sagte Griet und folgte seinem Blick. Die weite Sandbank verschmolz am Horizont mit dem Meer, wo die tief stehende Nachmittagssonne Wolkentürme in Gelb- und Orangetönen anstrahlte.
»Weißt du«, erwiderte Henk, »etwas zieht mich immer wieder hier auf den Vliehors.
Vielleicht ist es das Nichts. Ich meine, hier ist einfach nichts.
Wenn irgendwo auf der Welt ein Ort existiert, an dem die Unendlichkeit greifbar ist, dann hier.«
Er schwieg einen Moment und hing seinen Gedanken nach. Dann fragte er: »Und … müssen wir Luuk jetzt festnehmen?«
»Nein«, sagte Griet, »er war es nicht.«
Henk nickte. Dann setzte er ein Lächeln auf und blickte Griet an. »Wir sehen uns nachher?«
Sie erwiderte das Lächeln. »Sicher. Und du kochst?«
»Wie versprochen.«
Pieter kam mit hochrotem Kopf angetrabt und hielt das Handy ausgestreckt in der Hand. »Das war Noemi! Sie ist auf der Fähre … Sie ist jetzt völlig durchgedreht.«
»Was macht sie auf der Fähre?«
»Sie will ins Labor … zur Kriminaltechnik.« Er keuchte und schüttelte den Kopf. »Sie hat die Surfschuhe aus Tim Janssens Schuppen geklaut.«
»Godverdomme!«,
fluchte Griet.