21 Das Mädchen
A
m nächsten Morgen hatte der Wind nachgelassen, und Nebelschwaden zogen über die Insel. Die Luft war kühl und feucht. Griet hörte Pieter auf dem Fahrrad neben sich keuchen, als sie eine weitere Anhöhe in Angriff nahmen. Sie waren vom Ferienhaus aus dem Kantonnierspad
gefolgt, einem Schotterweg, der direkt hinter den Dünen verlief und immer wieder leicht anstieg, bevor es in schneller Fahrt bergab ging.
Griet hatte sich kurz vor Mitternacht zurück ins Ferienhaus geschlichen, und bislang hatten Noemi und Pieter davon abgesehen, Fragen zu stellen.
Sie gelangten an eine Gabelung und hielten an. Der Weg ging entweder geradeaus oder links weiter, allerdings betrug die Sicht keine fünfzig Meter, sodass man nicht ausmachen konnte, wohin er führte. Pieter kramte die Karte aus der Jacke.
»Wir sind ungefähr hier«, erklärte er und tippte mit dem Finger auf eine bestimmte Stelle. Um sich zu vergewissern, blickte er sich noch einmal um, stutzte, deutete dann auf eine andere Stelle und meinte: »Wir … könnten aber auch hier sein.«
»Gib her«, sagte Griet und zog ihm die Karte aus der Hand. »Siehst du die roten Sträucher da drüben?« Sie deutete auf ein Feld in der weiten Heidelandschaft links von ihnen.
»Was ist damit?«
»Das sind Cranberrys. Also ist das die Cranberryvlakte. Wir folgen jetzt links dem Pad van Dertig, und dann kommen wir beim Campingplatz raus.«
Griet steckte die Karte ein und trat in die Pedale.
»Das nächste Mal nehmen wir wieder das Auto«, hörte sie Pieter hinter sich schimpfen.
Henk war mit dem Polizeijeep auf dem Weg zu Marc Martens, um ihn auf die Wache zu bringen. Bevor sie sich mit ihm unterhielt, wollte sich Griet noch um jemand anderen kümmern: Tim Janssen. Trotz mehrmaliger Versuche war es ihr nicht gelungen, Noemi zu erreichen. Sie landete immer auf der Mailbox. Das Gleiche bei Noor. Griet wusste daher nicht, was aus Noemis Vorhaben geworden war, die Surfschuhe von Tim Janssen in der Forensik untersuchen zu lassen. Davon unabhängig, wollte sie zunächst das Naheliegendste tun, nämlich sich mit dem Jungen unterhalten und klären, ob er ein Alibi für die Mordnacht hatte.
Nach einem knappen Kilometer erreichten sie eine Baumgruppe. Aus dem Nebel schälte sich ein kleines Haus aus braunen Backsteinen mit weißen Fensterläden, daneben ein Schild mit der Aufschrift: Kampeerterrein Bontekoe.
Sie stellten die Fahrräder ab und klingelten an der Haustür. Eine kräftige Frau in Cargohose, Gummistiefeln und Wollpullover öffnete ihnen.
»Goedemorgen«,
sagte sie.
»Sie betreiben den Campingplatz?«, fragte Griet.
Sie und Pieter zeigten ihre Dienstausweise.
»Ja. Habe ich etwas verbrochen?«
»Nein, wir würden uns nur gern mit Tim Janssen unterhalten. Er soll hier bei Ihnen wohnen.«
»Dat klopt –
das stimmt.« Die Frau trat einen Schritt aus der Tür heraus. »Sein Trailer ist gleich dort drüben. Der bunte.«
Sie wies über die Wiese hinter dem Haus, die im Sommer offenbar als Zeltplatz genutzt wurde, zu einer Reihe von Campinganhängern, die am Waldrand geparkt standen. Die meisten von ihnen waren wie üblich weiß, beigefarben oder grau, lediglich einer war von bunten Blumen und Symbolen übersät.
»Sind die anderen auch bewohnt?«, fragte Pieter.
»Nein. Ich vermiete eigentlich nur in den Sommermonaten. Für Tim mache ich eine Ausnahme.«
»Warum wohnt der Junge hier und nicht bei seinen Eltern?«
»Er ist achtzehn, also kann er wohnen, wo er will.«
Griet schenkte der Frau einen Blick, der klarmachte, dass sie sich mit dieser Antwort nicht zufriedengeben würde.
»Hey, ich interessiere mich nicht für das Privatleben meiner Gäste«, verteidigte sich die Frau genervt. »Soviel ich weiß, hatte er Stress zu Hause. Ich lass ihn in Ruhe.«
»Sie wissen nicht zufällig, ob er vergangenen Freitagabend hier war?«, fragte Pieter.
»Keine Ahnung, abends brennt eigentlich immer das Licht in seinem Wohnwagen. Wird auch da so gewesen sein …« Die Frau hielt kurz inne und fuhr dann fort: »Ja … doch, klar war er hier. Das müsste doch der Abend gewesen sein, wo er sich mit seiner Freundin gestritten hat.«
»Er hat eine Freundin?«, fragte Griet.
»Na ja, das Mädchen besucht ihn jedenfalls seit ein paar Wochen hin und wieder.«
»Wissen Sie, wer sie ist?«
»Nein, interessiert mich auch nicht.«
»Sie werden aber ihr Gesicht mal gesehen haben«, sagte Griet.
»Nein, sie trägt immer eine Jacke mit einer großen Kapuze, die sie tief ins Gesicht zieht – wie das beim Jungvolk heute eben so üblich ist.«
»Und die beiden haben sich vergangenen Freitag also gestritten?«
»Ich hab im Fernsehen Boer zoekt vrouw
geguckt und bin in die Küche, um mir noch ein pilsje
zu holen. Der Kühlschrank steht neben dem Fenster. Da habe ich es mitbekommen.«
»Was haben Sie mitbekommen?« Griet wurde langsam ungeduldig.
»Die Tür vom Campingwagen flog auf … Tim rannte raus. Das Mädchen rief ihm irgendwas hinterher.«
»Um welche Uhrzeit war das?«
»Keine Ahnung, nach zwanzig Uhr jedenfalls.«
»Wo ist er hin?«
»Er ist mit dem Rad in Richtung Dorf.«
»Und das Mädchen?«
Die Frau zuckte die Schultern. »Die ist hinter ihm her.«
»Haben Sie gesehen, wann Tim zurückgekommen ist?«
»Keine Ahnung, hat mich nicht interessiert. Ich bin früh ins Bett, so um zehn. Da brannte jedenfalls kein Licht in seinem Wohnwagen.«
Griet bedankte sich und ging über die Wiese auf den Wohnwagen zu. Schon von Weitem war laute Rockmusik zu hören.
»Ich hasse die Red Hot Chili Peppers«, knurrte Pieter.
»War mal eine meiner Lieblingsbands«, entgegnete Griet.
»Denkst du dasselbe wie ich?«
»Ich weiß nicht, woran denkst du denn – Essen?«
»Nein, ich habe doch gerade erst gefrühstückt«, sagte Pieter. »Ich meine, das Küken könnte am Ende doch auf eine interessante Spur gestoßen sein.«
»Hängt davon ab, was die Untersuchung der Schuhe ergibt und was der Junge gemacht hat, nachdem er an dem Abend hier abgehauen ist. Dass man sich mit seiner Freundin streitet und anschließend ins Dorf fährt, ist an sich ja nicht strafbar.«
Griet klopfte an die Tür des Wohnwagens. Als sich niemand rührte, versuchte sie es mit der Faust. Die Musik wurde leiser gedreht, und Tim Janssen streckte den Kopf mit den zerzausten blonden Haaren zur Tür heraus. Sein Oberkörper war nackt, sodass seine Tattoos zu sehen waren, die fast die gesamte Haut bis zum Hals bedeckten. Aus dem Wohnwagen roch es nach Gras.
»Smerissen –
Bullen!«, sagte er. »Habt ihr euch verlaufen?«
»Pass auf, was du sagst, Jochie
«, zischte Pieter. »Sonst buchten wir dich wegen Beleidigung ein.«
»Wir haben nur ein paar Fragen«, erklärte Griet. »Und wenn du ehrlich antwortest, bist du uns schnell wieder los.«
»Wo warst du vergangenen Freitagabend?«, fragte Pieter.
»Ich … ich denke, ich war hier.«
»So, das denkst du also«, meinte Pieter. »Den ganzen Abend?«
»Schon, ja.«
»Warst du allein?«
»Kann sein. Warum ist das wichtig?«
»Falls du Besuch hattest, könnte der deine Aussage bestätigen«, machte Griet ihm klar. Der Junge schien etwas störrisch.
»Bevor du deine Fantasie zu sehr anstrengst«, sagte Pieter, »deine Vermieterin behauptet, dass ein Mädchen bei dir war. Ihr hättet euch gestritten, und du seist abgehauen. Stimmt das?«
Tim fuhr sich mit der Hand durch die Haare und blickte zu dem Haus der Campingplatzbesitzerin hinüber. Dabei trat er nervös von einem Fuß auf den anderen. »Ja … ja, könnte so gewesen sein.«
»Was ist passiert?«, fragte Griet.
Tim grinste. »Wie genau willst du es wissen?«
»Den Teil, wo ihr gebumst habt, kannst du weglassen«, sagte Pieter. »Wo bist du nach dem Streit hin?«
»Ich … ich bin mit dem Fahrrad durch die Gegend gefahren, um wieder runterzukommen.«
»Du bist nicht zufällig am Hafen gelandet?«, fragte Griet.
»Nee … wie kommt ihr denn darauf?«
Griet ging nicht auf seine Frage ein. »Deine Freundin ist dir angeblich hinterher.«
»Ja.«
»Und was dann? Lass dir nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen, Jochie!
« Pieter bekam ein rotes Gesicht.
»Wir sind zu den Schrebergärten unten am Deich … und dann haben wir uns versöhnt, wenn ihr wisst, was ich meine.« Tim grinste.
»Wie heißt deine Freundin?«
»Hä … das spielt doch echt keine Rolle, Leute.«
»Natürlich tut es das.« Ohne Vorwarnung packte Griet den Jungen mit der rechten Hand am Kragen seines Sweatshirts und zog ihn zu sich heran. »Wir ermitteln hier in einem Mordfall. Wenn deine Kleine also deine Geschichte bestätigen kann, solltest du uns ihren Namen nennen. Und« – Griet schnupperte – »du möchtest sicher nicht, dass ich am Ende noch auf die Idee komme, deine Kifferbude zu filzen!«
Tim hob beide Hände und stolperte rückwärts die Stufen des Wohnwagens hinauf, als Griet ihn losließ. »Hey, hey, bleibt mal cool, Leute. Ich sag’s euch ja!«
»Also, wie heißt deine Kleine?«
»Ihr Name ist … Neeltje.«