24 Artemis
Leeuwarden, zwei Wochen später
Noemi Bogaard: … Sie müssen mir glauben, es war wirklich nicht meine Absicht, ihn zu töten.
Lieke Dijkstra (Dezernat Interne Ermittlungen): Bitte beruhigen Sie sich. Der Zweck unseres Gesprächs ist es, zu klären, wie es zu der Situation kommen konnte, in der Sie von der Schusswaffe Gebrauch gemacht haben. Ich schlage vor, wir gehen noch mal einen Schritt zurück … Also – warum waren Sie und Ihre Kollegen an jenem Tag am Fähranleger, um Tim Janssen festzuhalten?
Bogaard: Es gab einen hinreichenden Tatverdacht. Wir hatten Tim Janssen gebeten, sich zu unserer Verfügung zu halten. Und dann kaufte er sich ein Ticket für die nächste Fähre.
Dijkstra: Das führte Sie zu der Annahme, dass er sich absetzen wollte?
Bogaard: Richtig. Ich meine, er widersetzte sich unserer Anweisung. Das kam doch einem Schuldeingeständnis gleich …
Dijkstra: Hm, dazu kommen wir gleich. Beschreiben Sie mir bitte, was dann geschah.
Bogaard: Tim Janssen flüchtete, wir folgten ihm. Henk van der Waal war am dichtesten dran. Ich war ein Stück weiter hinten. Griet Gerritsen und Pieter de Vries konnten uns nur mit Abstand folgen. Der Junge war schnell. Er lief in den Wald. Wegen des dichten Nebels konnte ich nicht viel sehen. Ich hörte aber die Stimme von Henk van der Waal. Dann kam ich zu einer Aussichtsplattform. Ich rannte die Treppe hoch … und dann … (schluchzt)
Dijkstra: Lassen Sie sich Zeit, mevrouw Bogaard. So etwas ist für keinen von uns leicht.
Bogaard: Ich … ich sah die beiden auf der Plattform stehen. Tim Janssen hatte ein Messer gezogen. Es war so ein Springmesser. Er hatte Henk damit am Bauch erwischt, Henk blutete. Tim hielt das Messer vor sich ausgestreckt und wollte erneut auf Henk losgehen.
Dijkstra: Wie weit war er von dem Kollegen entfernt?
Bogaard: Ich weiß nicht genau … schätzungsweise zwei Meter, würde ich sagen.
Dijkstra: Und Sie konnten erkennen, dass Tim Janssen die klare Absicht hatte, den Kollegen erneut mit dem Messer zu verletzen?
Bogaard: Es … ging alles so schnell. Aber doch, er blickte kurz zu mir herüber, und da war dieser Ausdruck auf seinem Gesicht. Es war ihm ernst. Und was dann geschah … lief irgendwie automatisch ab. Ich zog meine Waffe und schoss.
(Stille)
Dijkstra: Mevrouw Bogaard, Sie sagten, es hätte hinreichende Beweise für eine Tatbeteiligung von Tim Janssen gegeben. Worum handelte es sich dabei genau?
Bogaard: Da war zunächst sein Alibi. Es bedurfte noch der genauen Prüfung, aber er hatte am Abend der Tat einen Streit mit der Stieftochter des Opfers. Er hielt sich danach im Dorf auf, hätte also vermutlich die Möglichkeit gehabt, die Tat zu begehen …
Dijkstra: Hm, hatten Sie sein Alibi überprüft?
Bogaard: Nein, das stand noch aus.
Dijkstra: Verstehe. Da war doch etwas, lassen Sie mich sehen … hier: Sie hatten ein Paar Schuhe sichergestellt, die zu Spuren vom Tatort passen. Ist das korrekt?
Bogaard: Ja … das stimmt.
Dijkstra: Und Sie haben die Schuhe in einem Verschlag gefunden, den Tim Janssen nutzte?
Bogaard: Ja.
Dijkstra: Hatten Sie einen Durchsuchungsbeschluss?
Bogaard: Ich hatte die Schuhe eher durch Zufall entdeckt, und die Spuren waren eindeutig …
Dijkstra: Hatten Sie einen Durchsuchungsbeschluss?
Bogaard: … nein.
Dijkstra: Mhm. War Ihre Vorgesetzte, Commissaris Gerritsen, mit Ihrem Vorgehen einverstanden?
Bogaard: Nein … das war sie nicht. Aber verstehen Sie doch, die Schuhe, das fragwürdige Alibi, seine Flucht …
Dijkstra: Mevrouw Bogaard, ich bitte Sie um eine ehrliche Einschätzung. Haben Ihre Kollegen die Beweislage – wenn wir denn von einer solchen sprechen wollen – ebenfalls dahin gehend gedeutet, dass Tim Janssen an der Tat beteiligt war und dass man ihn mit allen Mitteln festhalten musste?
Bogaard: Nun ja, davon bin ich ausgegangen.
Dijkstra: Das heißt, es wäre vielleicht auch möglich, dass es sich um eine, sagen wir, sehr persönliche Auslegung der Sachlage Ihrerseits handelt, was schließlich zu einer Überreaktion Ihrerseits führte, was Tim Janssen betrifft?
(Stille)
Dijkstra: Mevrouw Bogaard?
Bogaard: Ich … ich weiß es nicht … kann sein.
Griet hörte das Klicken der Maus, mit dem Wim Wouters, ihr Chef, die Wiedergabe des Verhörs, das die Interne Ermittlerin mit Noemi geführt hatte, auf seinem Computer beendete. Sie stand mit dem Rücken zu ihm am bodentiefen Fenster seines Büros in Leeuwarden und blickte nach draußen. Der Regen klatschte gegen das Glas und lief in kleinen Bächen daran herab. Auf den Straßen waren nur wenige Menschen zu sehen, hier und dort ein Radfahrer, dick eingepackt in wasserfeste Kleidung. Autos und Lastwagen rauschten durch große Pfützen, die sich auf dem Asphalt gesammelt hatten.
»Ich brauche dir vermutlich nicht zu sagen, in welchen Schlamassel du dich und dein Team da hineinmanövriert hast.« Wouters’ Stimmlage machte klar, dass es keiner Antwort bedurfte.
In den vergangenen Wochen hatte Griet alles ein zweites Mal durchlebt. Alles war wie damals gewesen. Die Internen Ermittler, die Fragen, der Druck, der Argwohn … und es war noch nicht vorüber.
Wouters erhob sich und trat zu ihr ans Fenster. Er sah starr nach draußen. »Eine äußerst fragwürdige Beweissicherung«, sagte er, »eine Interpretation der Sachlage, die an Fantasterei grenzt, ein toter Verdächtiger, eine junge Kollegin, die ein Fall für den Therapeuten ist …«
»Mir ist durchaus bewusst …«, hob Griet an, doch Wouters wandte sich ihr zu und unterbrach sie mit erhobenem Zeigefinger.
»Nein«, sagte er, »dir ist gar nichts bewusst. Das hier war deine Ermittlung, dein Team, deine Verantwortung, und du hast es verbockt.«
Griet erwiderte nichts. Sie blickte zu Boden.
Wouters hatte vermutlich recht. Als leitende Ermittlerin hätte sie Noemi enger an die Leine nehmen müssen. Sie dachte an das Gespräch, das sie mit Pieter geführt hatte: Wir sollten ihr helfen, den rechten Weg zu finden, hatte er gesagt. Das wäre ihre Aufgabe gewesen. Schon die Sache mit den Schuhen hätte sie ihr nicht durchgehen lassen dürfen. Doch die junge Frau erinnerte sie zu sehr an sich selbst. Sie hatte ihr dieselbe Rückendeckung zuteilwerden lassen wollen, die sie früher selbst von ihrem Chef erfahren hatte.
War sie deshalb Noemis These über Tim Janssen zu leichtfertig gefolgt? Was, wenn er nichts von den Schuhen in seinem Schuppen gewusst hatte und sie ihm untergeschoben worden waren? Was, wenn Neeltje das Alibi des jungen Mannes bestätigte? Was, wenn er gar nicht hatte fliehen wollen, sondern aus einem anderen Grund aufs Festland fahren musste? Der Junge war etwas schwer von Begriff gewesen, denkbar also, dass er die Konsequenzen nicht vor Augen gehabt hatte, als er sich ihren Anweisungen widersetzte. Und war es wirklich notwendig gewesen, gleich in voller Teamstärke am Fähranleger aufzutreten und ihn damit in Panik zu versetzen?
Andererseits gab es etwas, das Griet daran glauben ließ, dass Noemi doch auf der richtigen Fährte gewesen und Tim zumindest auf die ein oder andere Weise in die Tat verstrickt gewesen war: Er hatte sehr heftig auf ihre Verdächtigungen reagiert und nicht versucht, sich aus der Sache herauszureden, sondern war gleich aufs Ganze gegangen. Und dann das Messer. Damit einen Polizisten zu attackieren, das kam einem letzten verzweifelten Akt gleich. Jemand mit einem reinen Gewissen handelte nicht so.
Wie auch immer, die Sache hatte eine unerwünschte Entwicklung genommen. Und Wouters hatte recht, wenn er ihr die Schuld gab, weil sie das Team geleitet hatte.
»Ich werde mit dem Polizeichef reden«, sagte Wouters, zog seinen Anzug glatt und setzte sich hinter den Schreibtisch. »Wir werden sehen, wie wir in diesem Fall weiter verfahren, die Ermittlungen ruhen vorerst – um Disziplinarmaßnahmen kommen wir nicht herum. Du bist bis auf Weiteres vom Dienst suspendiert. Wenn ich bitten darf …«
Er hob die rechte Hand und öffnete sie.
Griet übergab ihm ihre Dienstmarke und Waffe. Dann verließ sie ohne ein weiteres Wort das Büro. Als sie den Gang hinunterlief, sah sie vor ihrem inneren Auge noch einmal den Gesichtsausdruck von Wouters. Es war die Miene eines Mannes, der sein Ziel erreicht hatte.
***
Sie ließ die bernsteinfarbene Flüssigkeit in dem Glas kreisen, trank einen Schluck und spürte, wie ein wohliges Brennen durch ihre Kehle bis in den Magen lief. Griet entkorkte die Whiskyflasche, die Ruud Seedorf ihr geschenkt hatte, und goss sich ein weiteres Glas ein.
Sie saß auf der zerschlissenen Eckbank im Salon ihres Plattboots. Der Regen, der seit Tagen unaufhörlich niederging, prasselte in dicken Tropfen auf das Deck. Die betagte Heizung kam kaum gegen die klamme Feuchtigkeit an, die sich auf alles gelegt hatte. Die Bullaugen waren von innen beschlagen, die Beleuchtung so spärlich, dass es auch nachmittags um drei Uhr so düster war wie in den frühen Abendstunden. Sie hatte das Gefühl, sich in einer Höhle zu befinden.
Vor Griet auf dem Tisch lagen neben der Whiskyflasche ein Blatt Papier und ein geöffneter Briefumschlag. Die Post stammte von ihrem Ex-Mann Fleming. Er war der einzige Mensch, den Griet kannte, der noch handgeschriebene Briefe verschickte, einer der Spleens, die er als Schriftsteller kultiviert hatte. Griet nahm den Brief abermals in die Hand und überflog die Zeilen.
… und so hoffe ich, dass du in deinem neuen Leben gut angekommen bist. Hier geht derweil alles seinen Gang. Die Arbeit am neuen Buch ruht, ich nehme mir viel Zeit für Fenja. Sie kommt in der Schule gut zurecht. Ich schmiere ihr morgens das Pausenbrot, übe nach der Schule immer noch ein wenig mit ihr, und abends kochen wir zusammen. Wir sind ein gutes Team. Unsere Trennung scheint sie überwunden zu haben. Natürlich fragt sie oft nach dir, und ich habe ihr versprochen, dass sie dich besuchen kann, sobald du dich dort oben in Friesland eingerichtet hast.
Ich denke, dass wir die richtige Entscheidung getroffen haben. Es ist immer besser, ehrlich miteinander zu sein. Wir haben beide bemerkt, dass es so nicht weitergeht.
Es ist schade, dass du nicht dieselbe Freude am Elternsein gefunden hast wie ich. Aber wer wäre ich, dir deshalb böse zu sein? Auf gewisse Weise kann ich es nachempfinden – die Kommissare in meinen Büchern haben ja schließlich auch immer familiäre Probleme, und nicht selten ist eine alte Familiengeschichte am Ende der Grund für den Mord. Also alles nicht so einfach mit dem Familienleben.
Ich hoffe, dass du dort oben im Norden findest, was du suchst.
Über eines solltest du dich jeden Tag freuen:
Wir beide haben eine wunderbare Tochter – die dich über alles liebt.
Griet ließ das Blatt sinken. Sie hatte gehofft, dass sich hier oben alles zum Guten entwickeln würde, dass sie sich ein neues Leben aufbauen konnte und Fenja sie bald besuchen würde. Wie es aussah, würde sie auf das Wiedersehen aber noch etwas länger warten müssen. Auch wenn sie keine gute Mutter war, wollte sie den Kontakt zu ihrer Tochter nicht völlig verlieren. Sie wollte sehen, wie sie heranwuchs – obwohl sie sich natürlich davor fürchtete, dass eines Tages der Moment kam, an dem sie Fenja die ganze Wahrheit über ihre Herkunft würde offenbaren müssen.
Griet griff nach dem Whiskyglas und wollte einen weiteren Schluck trinken, da klopfte jemand gegen den Rumpf des Schiffs.
Sie kletterte den Niedergang hoch, schob das Luk zur Seite und spähte hinaus. Auf der Wiese vor dem Schiff stand ein Mann mit Regenschirm. Er trug eine hellbraune Umhängetasche und hatte den Kragen seines Trenchcoats hochgeschlagen. Erst als er seine Schiebermütze ein Stück zurückschob und zu ihr hochblickte, erkannte Griet sein Gesicht. Es war Pieter.
»Goedendag«, sagte er. »Erlaubnis, an Bord zu kommen?«
»Erteilt.«
Er klappte den Regenschirm zusammen und folgte ihr ins Innere des Schiffs. Kurz darauf saßen sie bei einen koffie am Tisch des Salons.
»Ein ganz entzückendes Schiff«, bemerkte Pieter.
»Das war es jedenfalls mal. Im Moment bin ich eher froh, wenn ich morgens aufwache und der Kahn über Nacht nicht mit mir abgesoffen ist.«
Pieter blickte sich um. »Das ein oder andere ist sicher zu tun, aber das ist bei einem Schiff immer so. Ich kenne ein paar Leute, die dir helfen könnten. Und ganz ungeschickt bin ich selbst auch nicht – oder zumindest war ich das früher nicht …«
»Tja, sieht leider gerade nicht so aus, als würde ich noch lange hierbleiben.«
»Ja …« Pieter war, anders als Noemi und Griet, im Dienst geblieben, da er an dem Geschehen, das zu Tims Tod geführt hatte, nicht direkt beteiligt gewesen war.
»Hast du was von Noemi gehört? Als ich sie zuletzt gesprochen habe, ging es ihr nicht gut.«
»Hat sich nicht geändert. Sie hat tägliche Therapiesitzungen. Sie macht sich große Vorwürfe. Nach den Befragungen durch die Interne glaubt sie inzwischen, doch einen Unschuldigen in den Tod getrieben zu haben.«
»Und du, glaubst du das auch?«
»Sagen wir so: Dass er mit dem Messer auf Henk los ist, spricht nicht gerade für ihn.«
Von Henk wussten sie inzwischen, dass die Verletzung, die Tim Janssen ihm zugefügt hatte, schnell und problemlos verheilt war. Griets Gedanken kreisten daher ganz um den Jungen.
»Was ich mir bis heute nicht erklären kann, ist, welchen Grund er gehabt haben sollte, Vincent Bakker zu töten.«
»Hm«, machte Pieter, goss sich koffie nach und griff nach der Milchtüte, die er argwöhnisch betrachtete. »Sojamilch? Hab ich ehrlich gesagt noch nie getrunken. Schmeckt die?«
Griet nickte. »Schon.«
Pieter goss sich ein wenig davon in die Tasse und probierte. »Um Himmels willen …« Er verzog das Gesicht. »Schlimmer als ausgekochte Sportsocken!«
Griet lachte. »Man muss sich dran gewöhnen. Warte, ich geb dir eine neue Tasse …«
Während sie zu dem Schapp ging, in dem das Geschirr stand, sinnierte Pieter: »Tim hatte etwas mit Neeltje. Was ist, wenn sie der Grund für den Mord an Vincent war? Ich meine, rein hypothetisch, vielleicht hatte er Streit mit ihrem Stiefvater. Soll ja vorkommen. Er ist zum Hafen, ein Wort gab das andere, und dann … bumm.«
Griet stellte ihm eine neue Tasse hin. »Glaube ich kaum. In dem Fall hätte er impulsiv und aus spontaner Wut gehandelt. Und außerdem hätte er eine Waffe dabeihaben müssen. Nein, derjenige, der Bakker ermordet hat, ist geplant vorgegangen. Und das bringe ich noch nicht mit Tim Janssen zusammen.«
»Dennoch könnte sich an dem Abend etwas zwischen Bakker und Tim abgespielt haben …«
»Moment mal«, sagte Griet, die von Pieters Sinneswandel überrascht war, »warst du nicht derjenige, der Noemi vorgeworfen hat, Tim Janssen voreilig der Tat zu verdächtigen?«
»Nun ja, es wäre schade, wenn ihre Karriere auf diese Weise enden würde. Außerdem …«
Pieter griff nach der Umhängetasche, die neben ihm auf der Bank lag, und zog ein Kuvert heraus, das er öffnete und ihr über den Tisch zuschob. »Sieh dir das mal an.«
Es war eine Kopie des Obduktionsberichts von Tim Janssen.
»Wie bist du denn da rangekommen?«
»Man kennt sich …«
Griet überflog das Dokument. Der zuständige Rechtsmediziner hatte wie zu erwarten festgestellt, dass Tim Janssen durch einen Schuss in den Brustkorb gestorben war. Ansonsten keine Besonderheiten … bis auf eine Stelle, an die Pieter einen gelben Markierungsstreifen geklebt hatte. Dort wurden die Hände des Toten beschrieben. Die rechte Hand war unauffällig, die linke wies jedoch an den Knöcheln Abschürfungen und aufgeplatzte Haut auf.
Griet blickte von der Akte auf. »Und was, glaubst du, hat das zu bedeuten?«
»Das Gespräch mit dem zuständigen Rechtsmediziner hat mich zwei Karten für das nächste Heimspiel von Heerenveen gekostet«, sagte Pieter. »Er erklärte mir, dass die offenen Stellen an der linken Hand schon einigermaßen abgeheilt waren. Er schätzt, dass sie ungefähr eine Woche alt sind – und er meinte, es seien Verletzungen, wie sie üblicherweise bei einem Schlag entstehen.«
Griet erhob sich und ging zum Navigationstisch in der Ecke. Dort lag neben einem Stapel Zeitungen und Ordnern ihr Notizbuch. Sie blätterte darin, bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte.
»Mei sagte mir damals, dass sie bei der Obduktion von Vincent Bakker neben der tödlichen Schusswunde eine Verletzung im Gesicht entdeckt hat«, rekapitulierte Griet. »Seine Oberlippe war rechts aufgeplatzt, ein Schneidezahn locker. Sie schloss nicht aus, dass die Verletzung von einem Schlag stammte.«
Pieter warf einen kurzen Blick in die Akte, stand dann auf und stellte sich vor Griet. Mit dem linken Arm vollführte er in der Luft langsam einen Haken. Seine Faust stoppte wenige Zentimeter vor Griets rechter Gesichtshälfte.
»Passt«, meinte er. »Tim Janssen war Linkshänder.«
»Noch dazu haben wir den Schuhabdruck, der beweist, dass er am Tatort war«, sagte Griet.
»Was hat das zu bedeuten? Tim geht also an jenem Abend in die Lagerhalle, wo Vincent Bakker an seinem Boot arbeitet, und schlägt ihn ins Gesicht.«
»Und dann zieht er eine Waffe und erschießt ihn?«
»Wie du schon sagtest, eher unwahrscheinlich …« Pieter schüttelte den Kopf. »Außerdem, warum sollte er sich auf eine Schlägerei einlassen, wenn er eine Waffe dabeigehabt hätte?«
Griet schritt im Salon auf und ab, wobei sie darauf achtete, nicht gegen einen der niedrigen Deckenbalken zu stoßen. »Nehmen wir an, es ist so, wie du sagst. Tim schlägt Vincent. Aus welchem Grund, das wissen wir noch nicht, vielleicht hat es etwas mit Neeltje zu tun. Dann verlässt er die Halle wieder. Bakker ist noch am Leben …«
»… und dann kommt erst der eigentliche Täter.«
Griet blieb stehen und blickte Pieter an. »Ja … so könnte es gewesen sein.«
»In dem Fall wäre der Mörder noch auf freiem Fuß.«
Griet setzte sich auf die Eckbank und ließ die Szene noch einmal vor ihrem inneren Auge ablaufen, während sie die Whiskyflasche in der Hand rollte. Ein Plan formte sich in ihrem Kopf. Sie wandte sich Pieter zu.
»Hör zu«, sagte sie. »Du bist unbeschadet aus der Sache rausgekommen. Außerdem hast du Familie. Ich würde also verstehen, wenn du meinem Vorschlag nicht folgst … Aber ich will diesen Fall aufklären. Nur geht das natürlich nicht auf dem offiziellen Weg …«
Pieter hob eine Hand. »Schon gut. Die Arbeit an den ungelösten Fällen war in den vergangenen Jahren nicht gerade spannend, und es ist ziemlich lange her, dass ich mal einen Fall aufgeklärt habe. Vermutlich würde ich das ohnehin nicht bis zur Rente durchstehen.«
»Es ist riskant, Pieter.«
»Du kannst auf mich zählen.«
»Und auf mich ebenfalls.« Die Stimme kam vom Niedergang. Es war Noemi. Sie hatte das Luk zur Seite geschoben und schaute zu ihnen hinab.
»Wie lange stehst du schon da?«, fragte Pieter.
»Und woher weißt du, wo ich wohne?«, schob Griet nach.
»Erstens: War nicht schwer, dich zu finden. Die Kollegin, die auf einem Plattboot wohnt und gleich bei ihrem ersten Fall suspendiert wurde, ist im Dezernat bekannt wie ein bunter Hund. Zweitens: Ich stehe hier lange genug, um zu wissen, was ihr vorhabt. Und ich würde den Typen von der Internen gern beweisen, dass ich nicht durchgedreht bin. Ich hab noch zu viele Jahre vor mir, um sie in der Asservatenkammer zu verbringen.«
»Du bist dir aber im Klaren, was das bedeutet«, sagte Griet. »Wenn wir auffliegen, ist es endgültig vorbei.«
»Wir werden nicht auffliegen.«
Und das sagt mir die Frau, die vor Kurzem einen Verdächtigen erschossen hat, in einer Ermittlung, die ihr und mir völlig aus dem Ruder gelaufen ist, dachte Griet. Ich muss verrückt sein, diese Nummer durchzuziehen. Andererseits hatte sie nichts zu verlieren. In ihr altes Leben konnte sie nicht zurück, und ihr neues löste sich gerade in Luft auf.
»Also gut«, sagte Griet. »Stellt sich nur die Frage, wie wir auf die Insel gelangen, ohne für allzu großes Aufsehen zu sorgen.«
Natürlich hatte die Presse über die Geschehnisse berichtet, und Griets Gesicht war in den Zeitungen gewesen. Wenn sie sich jetzt in einem Ferienhaus oder einem Hotel einquartierten, würde bald die ganze Insel davon wissen.
»Na ja …«, meinte Pieter und blickte sich um. »Wie ich schon mal sagte, lange her, dass ich einen Segeltörn gemacht habe. Und da wir sowieso beurlaubt sind … also, ich hätte Lust.«
Noemi, die inzwischen zu ihnen heruntergestiegen war, sah ihn mit großen Augen an. »Du willst mit diesem Boot auf die Insel? Die Mühle ist doch nur noch Schrott.«
»Vertraut mir. Ich bin schon mit Schlimmerem gesegelt. Sie wird das aushalten«, beschwichtigte Pieter sie. »Außerdem werden wir im Jachthafen unsere Ruhe haben. Da ist um diese Zeit nichts los. Übrigens, wie heißt dein Schiff eigentlich?«
»Artemis«, sagte Griet.
»Das fasse ich als gutes Omen auf.«
»Warum?«
Pieter schmunzelte. »In der griechischen Mythologie ist Artemis die Göttin der Jagd.«