25 Verbotene Liebe
Z wei Tage später stand Griet vor dem Badhotel, dessen weiße Fassade im Schein der Sonne strahlte, die immer wieder zwischen den schnell ziehenden Wolken hindurchschien. In dem schmalen Blumenbeet vor dem Haus streckten die ersten Schneeglöckchen die Köpfe aus der Erde. Das Foyer des Hotels war von Gästen bevölkert. Einige checkten an der Rezeption ein, ein Pärchen ließ sich von Guus van Schouten, dem Concierge, auf einer Karte etwas erklären, andere saßen bei einem kopje koffie of thee im Wintergarten. Die Saison hatte unwiderruflich begonnen. Griet mischte sich mit einem Basecap auf dem Kopf unter die Gäste und hielt Ausschau nach Neeltje de Jong.
Sie waren tags zuvor mit der Artemis in Leeuwarden aufgebrochen und über den Van Harinxmakanaal nach Harlingen gefahren. Pieter hatte zufrieden festgestellt, dass das Herz des alten Schiffs, der Motor, noch schnurrte wie ein Kätzchen. Lediglich der Ölfilter musste ausgetauscht werden, was Pieter in Harlingen erledigte, wo sie die Nacht im Hafen verbracht hatten.
Heute Morgen waren sie in aller Herrgottsfrühe ausgelaufen, um mit dem ablaufenden Wasser in Richtung der Inseln zu fahren. Und nun lag die Artemis im Hafen von Vlieland, ohne dass jemand von ihrer Ankunft Notiz genommen hatte.
Pieter und Noemi sprachen auf dem Schiff alle Informationen, die sie in dem Fall gesammelt hatten, noch einmal durch und überprüften, ob ihnen vielleicht etwas entgangen war.
Bislang hatte Griet davon abgesehen, Henk über ihre Anwesenheit zu informieren. Sobald er erfuhr, dass sie die Ermittlungen inoffiziell weiterführten, wäre er gezwungen, Wim Wouters zu verständigen – sie vertraute zwar darauf, dass er dies nicht tun würde, allerdings wollte sie ihn lieber gar nicht erst in diese Zwickmühle bringen.
Sie mochte Henk sehr, trotzdem hatte sie sich in den vergangenen Tagen, fern von der Insel, mehr als ein Mal die Frage gestellt, ob ihre ursprüngliche Intuition nicht doch richtig gewesen war und sie die Grenze zwischen Beruf und Privatem nicht wieder überschreiten sollte.
Griet durchquerte das Foyer. Das Badhotel war nicht unterkellert wie vermutlich die meisten Häuser auf der Insel. Die Küche, das Lager und alle anderen Räumlichkeiten, die dem Alltagsgeschäft dienten, lagen daher im Erdgeschoss. Bei ihrem letzten Besuch hatte Griet bereits registriert, dass sich in den oberen Etagen ausschließlich Gästezimmer befanden, abgesehen vom Dachgeschoss mit den Büros. Von dort würde sie sich aber fernhalten, um nicht Emma Bakker in die Arme zu laufen.
Vom Foyer aus bog sie in den Gang ab, der zum Speiseraum führte. Sie fand ihn verlassen vor. Mit wenigen Schritten war sie bei der Tür zur Küche, schob die Schwingtür einen Spalt weit auf und spähte hinein. Zu ihrer Rechten stand ein Mann in Kochkleidung am Herd. Er hatte ihr den Rücken zugewandt. Links befand sich eine Tür, die zu einer Vorratskammer führte. Griet schätzte, dass es nur wenige Meter bis dorthin waren. Unbemerkt schlich sie hinüber und verschwand in dem angrenzenden Raum.
Es gab keine Fenster. Eine flackernde Neonröhre beleuchtete zwei Kühltruhen und eine Regalwand voller Konserven und anderer Vorräte. Von dem Raum zweigte ein schmaler Gang ab. Griet folgte ihm und fand sich im Freien wieder, in der Gasse zwischen dem Badhotel und dem gegenüberliegenden Haus. Kartons, Getränkekisten und Fässer waren an der Wand gestapelt. Ein Lieferwagen parkte rückwärts in der Gasse. An der Fahrertür stand eine junge Frau, die dem Lieferanten auf einem Tablet etwas quittierte. Als der Mann einstieg und den Motor anließ, drehte sich die Frau um. Es war Neeltje.
»Was wollen Sie hier?«, fragte sie, als sie Griet erkannte. »Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ich mit Ihnen sprechen werde. Sie haben meinen Freund erschossen.«
Griet tat einen Schritt auf sie zu. Aus der Nähe konnte sie die dunklen Schatten unter Neeltjes Augen sehen.
»Was geschehen ist, tut mir sehr leid.«
»Das macht Tim nicht wieder lebendig. Er war kein Mörder.«
Neeltje begann, die angelieferten Kisten an der Hauswand neben den anderen zu stapeln.
»Für mich ist die Sache noch nicht beendet«, sagte Griet. »Wenn Ihr Freund wirklich unschuldig war, dann helfen Sie mir, es zu beweisen.«
Neeltje nahm einen Karton und trug ihn nach drinnen. Es dauerte einen Moment, dann ertönte aus dem Gebäude Neeltjes Stimme. »Also gut … was wollen Sie?«
Griet ging hinein. Neeltje lehnte im Lagerraum an der Regalwand.
»Wie lange waren Sie schon mit Tim zusammen?«, fragte Griet.
»Hm … ungefähr vier Monate.«
»Sie mochten ihn sehr?«
Neeltje schob die Hände in die Taschen. »Wir wollten weg.«
»Wohin?«
»Erst mal aufs Festland. Dann … irgendwohin, Hauptsache, weit weg von hier. Tim hatte auch die Schnauze voll von den ganzen bornierten Typen auf der Insel. Wir hatten beide etwas gespart.«
Griet konnte sich vorstellen, mit welchen Jobs Tim sich das Startkapital für ein neues Leben verdient hatte.
»Was ist mit dem Hotel?«, fragte Griet. »Ich hatte den Eindruck, Ihnen gefällt die Arbeit. Wollen Sie das Hotel nicht einmal übernehmen?«
Neeltje schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall. Immer dreht sich alles nur um dieses Hotel. Meine Mutter und Vincent konnten an nichts anderes denken, als noch mehr Geld damit zu scheffeln …«
»Wie war Ihre Beziehung zu Ihrem Stiefvater?«
»Zu Vincent? Ich hab nie verstanden, warum meine Mutter ihn geheiratet hat. Er ist jedem Rockzipfel nachgerannt und dachte, sie merkt es nicht. Und er …« Neeltje verzog angewidert den Mund, verschränkte die Arme vor der Brust und blickte zur Seite.
»Was ist, Neeltje?«
»Nichts …«
Etwas schien die junge Frau zu bedrücken. Griet sah, dass sie mit den Tränen rang.
»Sie müssen es mir nicht sagen … aber wenn wir die Wahrheit herausfinden wollen, kann selbst das kleinste Detail wichtig sein.«
»Ich … ich möchte nicht darüber reden.«
»Ist gut.« Griet hatte eine dunkle Ahnung, was Neeltje auf der Seele lag, denn sie hatte eine solches Verhalten schon häufig bei Frauen beobachtet. Sie wusste daher, dass es keinen Zweck hatte, sie unter Druck zu setzen. Griet wartete einen Moment, bevor sie weitersprach.
»Wie haben sich Tim und Ihr Stiefvater verstanden?«
»Gar nicht. Vincent hat mir den Umgang mit Tim verboten.«
»Warum?«
»Er hielt ihn für einen Tunichtgut.«
»Gab es mal Streit zwischen den beiden?«, fragte Griet.
»Weiß nicht …«
»Tim hat uns erzählt, dass Sie in der Nacht, als Ihr Stiefvater ermordet wurde, bei ihm auf dem Campingplatz waren. Stimmt das?«
»Ja.«
»Sie haben sich gestritten?«
»Kann sein.«
»Worum ging es?«
»Nichts Besonderes …«
»Tim lief fort. Wo wollte er hin?«
Neeltje zuckte die Schultern.
»Was ist dann passiert?«
»Ich wusste erst mal nicht, was ich tun sollte.«
»Er meinte, Sie hätten ihn gesucht.«
»Stimmt.«
»Wissen Sie noch ungefähr, wie lange das gedauert hat?«
»So ’ne halbe Stunde vielleicht?«
»Wo haben Sie ihn gefunden?«
»Er war in der Schrebergartenlaube seiner Eltern. Seine Eltern nutzen sie nicht mehr, weil sie so viel mit dem Geschäft zu tun haben. Alle haben hier immer viel mit dem Geschäft zu tun. Die Laube war früher Tims Versteck … also, bevor er von zu Hause weg ist.«
»Was haben Sie beide dann gemacht?«
»Wir sind in der Laube geblieben.«
Griet nickte. »Danke, Neeltje.«
»Glauben Sie mir … ich meine, dass Tim unschuldig war?«
»Das werde ich herausfinden.«
»Er war kein schlechter Kerl …«
»Mag sein.«
Griet schüttelte Neeltje zum Abschied die Hand. Dann ging sie durch die schmale Gasse zur Dorpstraat. Bevor sie aus dem Schatten der Häuser hervortrat, hielt sie inne. Schräg gegenüber, einige Hundert Meter entfernt, war die Polizeiwache. Karen, Henks Assistentin, kam gerade zur Tür heraus.
Griet wollte ihr nicht begegnen. Sie entschied, den Hinterausgang zum Wattendeich zu nehmen. Dazu musste sie ins Foyer zurück und von dort über die Terrasse in den Garten. Sie setzte sich in Bewegung.
Dieser Fall war wie ein gigantischer Kabelsalat, einer von jener Art, wie er entstand, wenn man Elektrokabel achtlos in eine Schublade stopfte. Man hatte nur eine Chance, das Knäuel wieder zu entwirren, wenn man ein loses Ende fand. Und das war in dieser Sache nicht in Sicht.
Wenn Neeltje die Wahrheit sagte, konnte Tim Janssen nicht der Mörder sein. In einer halben Stunde hätte er niemals mit dem Rad zum Hafen fahren, Vincent Bakker erschießen und die Leiche mit einem Boot aufs Meer schaffen können.
Da waren aber immer noch seine Schuhabdrücke am Tatort und die Verletzungen an seiner Hand. Durchaus vorstellbar, dass Tim den Stiefvater seiner Freundin aufgesucht und geschlagen hatte. Das wäre in der kurzen Zeit zu schaffen. Und wenn Bakker etwas gegen die Beziehung zwischen Tim und Neeltje gehabt hatte, konnte das der Grund für einen Streit zwischen den beiden gewesen sein.
Was allerdings hatte Neeltje über ihren Stiefvater vorhin nicht preisgeben wollen? Griet hoffte, dass es nicht das war, was sie vermutete.
Griet ging durch den Gang mit den Ahnenbildern der Familie, durch den Guus van Schouten sie bei ihrem ersten Besuch im Badhotel geführt hatte. Sie blieb vor dem Bild mit Sjan und Aad Koopmanns stehen. Das Hotel, das sie aufgebaut hatten, war über die Jahre Zeuge einer tragischen Familiengeschichte geworden, mit zahlreichen Unfällen, Toten, Intrigen … Was die beiden Gründer wohl denken würden, wenn sie wüssten, dass ihr Vermächtnis die Familie zerstört hatte?
Griets Blick blieb an einem Detail in dem Bild der Koopmanns’ hängen. Sie ging näher heran und betrachtete es eingehender. Es war das Medaillon, das Sjan Koopmanns um den Hals trug. Silbern, in der Mitte ein Stein eingebettet in eine wabenförmige Struktur.
Es glich jenem Medaillon, das sie in der Kate von Tinneke neben der Tür hatte hängen sehen. Konnte es sich um dasselbe Schmuckstück handeln? Das Porträt von Sjan und Aad Koopmanns war handgemalt. Eines jener Bilder, mit denen sich die Menschen für die Nachwelt verewigten. Die Koopmanns’ hatten sich das etwas kosten lassen. Und für eine solche Gelegenheit kleidete man sich entsprechend. Aad trug einen Smoking, Sjan ein weißes Abendkleid und das Medaillon. Es musste sich um ihr liebstes, wenn nicht gar wertvollstes Schmuckstück gehandelt haben. Und ein solches verlor oder verschenkte man nicht einfach. Man vererbte es oder gab es einem Menschen, der einem besonders wichtig war.
Wenn es sich also um ein und dasselbe Medaillon handelte – wie war Tinneke, die normalerweise Strandgut sammelte, in seinen Besitz gelangt?
Mit diesem Gedanken ging Griet durch den verlassenen Speiseraum auf die Terrasse hinaus. Durch den Hotelgarten gelangte sie auf den Kiesweg, der zum Deich führte.
Als sie sich umdrehte, um das Gartentor hinter sich zu schließen, sah sie kurz hinauf zum Dachgeschoss des Hotels.
Emma Bakker stand am Fenster und starrte sie an.