26 Strandgut
D ie späte Nachmittagssonne schien zwischen den kahlen Bäumen hindurch auf Tinnekes Kate, die einsam auf der Lichtung im Wald stand. Rauch stieg aus dem Schornstein empor. Hinter dem Haus hörte Griet jemanden Holz hacken. Sie folgte dem Geräusch und ging seitlich um das Haus herum, wo unter einem Vordach ein Stapel Holzscheite lag. Tinneke stand mit einer Axt daneben und hackte neues Brennholz. Oder sie versuchte es zumindest. Sie holte Schwung, trieb die Axt aber nur wenige Zentimeter in den Holzblock, den sie auf dem Hackklotz aufgestellt hatte.
»Ich brauche zum Glück nicht mehr viel«, sagte sie, als sie Griet bemerkte, und wischte sich mit dem Handrücken die Schweißperlen von der Stirn. »Das Frühjahr ist da, so viele kalte Tage kommen nicht mehr.«
»Darf ich helfen?«, fragte Griet, und Tinneke überließ ihr bereitwillig die Axt. Griet holte aus und zerteilte das Holz mit einem Hieb.
Wenig später hatte sie den Holzvorrat der alten Frau aufgefüllt, und sie saßen drinnen in der geheizten Hütte bei einem koffie, für den Tinneke die Bohnen frisch gemahlen hatte.
»Ich glaube, ich werde langsam zu alt für dieses Leben.« Tinneke nippte an dem dampfenden Getränk. »Was führt dich zu mir?«
Griet deute mit einem Nicken zur Wand neben der Tür. »Ich komme wegen des Amuletts. Ich wüsste gern, woher du es hast.«
Tinneke schmunzelte. »Ich habe dein Bild in der Zeitung gesehen. Du arbeitest nicht für die Presse.«
»Nein … ich bin bei der Polizei. Und ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, ob dein Medaillon etwas mit meiner Arbeit zu tun hat. Ich bin nur neugierig.«
Tinneke stand auf, holte das Schmuckstück und legte es zwischen sie auf den Tisch. »Es ist etwas ganz Besonderes, eines meiner schönsten Stücke. Wie all die anderen Dinge habe ich es am Strand gefunden, allerdings ist es mit einer traurigen Geschichte verbunden …«
Griet schwieg, während Tinneke das Schmuckstück nachdenklich betrachtete.
»Mein Mann und ich waren damals gerade erst hierhergezogen«, fuhr die alte Frau nach einer Weile fort, »und wir wussten noch nicht, welche Überraschungen unser neues Leben für uns parat halten würde. Eines Tages gingen wir in der Morgendämmerung an den Strand. In der Nacht hatte es einen Sturm gegeben, und wir dachten, es wäre vielleicht etwas angespült worden. Wir sahen sie schon von Weitem. Sie lag reglos da. Es war ein junges Mädchen, keine zwanzig. Sie schien ertrunken zu sein. Und um den Hals trug sie dieses Medaillon … Wir verständigten die Polizei. Und weißt du, ich dachte, die arme Frau braucht es nicht mehr, also bevor das schöne Stück in einer Asservatenkammer vergammelt …«
»Weißt du, wer die Tote war?«
»Wir haben ihren Namen aus der Zeitung erfahren. Sie hieß Lisbeth Mol.«
Griet kam die Geschichte in den Sinn, die Luuk de Jong beim Ausflug auf den Vliehors erzählt hatte. »Ich habe von ihr gehört.«
Tinneke lächelte. »Ja, man kann der Geschichte auf Vlieland kaum entgehen. Sie soll sich in der Sturmnacht auf dem Vliehors in die Fluten gestürzt haben. Warum sie das getan hat, ist bis heute ein Rätsel geblieben. Warte mal …«
Tinneke stand auf und ging zum Bücherregal. Sie blätterte kurz in einem Album, dann legte sie Griet einen alten Zeitungsartikel vor. »Den habe ich damals aufgehoben.«
Es war eine einspaltige Meldung über den Tod von Lisbeth Mol, die wiedergab, was Griet bereits wusste. Lediglich ein Satz ließ sie innehalten:
Die Verstorbene war Zimmermädchen im Badhotel, einem beliebten Gästehaus auf der Insel.
Unter dem Bericht war ein Schwarz-Weiß-Foto von Lisbeth Mol. Griet stellten sich die Haare auf den Armen auf.
»Was hast du?«, fragte Tinneke.
»Ich … Hör zu, ich verstehe, wie viel dir das Stück bedeutet, und ich kann dir nicht sagen, warum, aber es ist sehr wichtig für mich. Kannst du es mir überlassen? Ich zahle dafür.«
Tinneke schüttelte den Kopf. »Nicht nötig. Ich bin in einem Alter, wo man sich langsam von den Dingen trennen sollte. Bei dir ist es gut aufgehoben.«
Sie schob ihr das Medaillon über den Tisch zu.
Wenig später entfernte sich Griet schnellen Schrittes von Tinnekes Kate. Sie holte ihr mobieltje heraus und wählte die Nummer von Pieter.
»Wie auch immer ihr das anstellt«, sagte sie, »aber besorgt uns die Akte über eine Lisbeth Mol. Liegt schon lange zurück, 1989. Vermutlich Selbstmord. Ja … frag Henk oder Karen. Das Risiko müssen wir jetzt eingehen.«
Sie beendete das Gespräch.
Griet erinnerte sich an die Zeile aus dem Brief, den Fleming ihr geschrieben hatte: Nicht selten ist eine alte Familiengeschichte am Ende der Grund für den Mord.
Lisbeth Mol hatte im Badhotel gearbeitet, dem Betrieb von Sjan Koopmanns, der das Medaillon gehört hatte. Lisbeth könnte es ihrer Dienstherrin gestohlen haben. Vielleicht hatte Sjan es ihr aber auch geschenkt. Und dann war da noch eine andere Möglichkeit …
Ihr mobieltje klingelte.
Es war Henk.
»Wir haben ein Problem«, kam er ohne Umschweife zur Sache. »Emma Bakker rief mich gerade an. Sie sagt, du wärst auf der Insel und hättest vorhin mit Neeltje gesprochen.«
Griet erklärte ihm die Situation. »Ich weiß, dass du jetzt eigentlich Wouters verständigen müsstest. Aber …«
»Du brauchst dich nicht zu erklären, Griet. Mir ist klar, wie viel bei der Sache für dich persönlich auf dem Spiel steht.«
»Henk«, sagte Griet, »ich kann dich nur bitten, mir eine Chance zu geben.«
Für einen Moment wurde es still am anderen Ende der Leitung. »In Ordnung, aber haltet euch von Emma und Neeltje fern. Emma wird sich sonst sicherlich an die Bürgermeisterin wenden, und dann sind mir die Hände gebunden.«
»Danke, Henk.«
Griet schob das mobieltje in die Jackentasche und beschleunigte ihre Schritte.
Sie wusste, wo sie Lisbeth Mol finden würde.