29 Amsterdam
E s ist seltsam, dachte Griet, als sie entlang der Gracht über den Oudezijds Achterburgwal ging. Hier in Amsterdam hatte alles angefangen. Im Viertel De Pijp. Dort hatte sie die ersten Dienstjahre als Streifenpolizistin verbracht, bevor sie nach Rotterdam gegangen war. Sie hatte die Stadt geliebt, die Gerüche, die Menschen, die Vielseitigkeit, das pulsierende Leben. Heute war das anders. Sie fühlte sich eingeengt in den schmalen Gassen zwischen den verklinkerten Altbauten. Die Luft war stickig. Die vielen Menschen, der Verkehr, die Geräusche machten sie nervös. Hatten ein paar Wochen in der Einöde von Fryslân sie derart verändert? Sie sehnte sich nach frischer Luft, dem hohen Horizont über weitem Land, der Ruhe, dem Geruch des Meeres.
Sie schritt vorüber an einem Erotic Museum, mehreren Sexshops, Fenstern, in denen junge Frauen ihren Körper anboten, bis sie schließlich vor einem Eckhaus stehen blieb. Rechts daneben führte eine Gasse über eine kleine Brücke direkt auf die Oude Kerk zu. Das Haus hatte vier Stockwerke, die in einem Stufengiebel endeten. Hinter den Messingfenstern hingen rote Gardinen. Auf dem Schild über der Eingangstür stand Casa Rosso. Es war ein Stundenhotel.
Besonders schwierig war es nicht gewesen, Anna de Boer ausfindig zu machen. Natürlich gab es viele Frauen mit einem solchen Namen in der Stadt, aber wiederum nicht so viele, die im entsprechenden Alter waren. Den Rest hatten ein paar Anrufe bei ehemaligen Kollegen erledigt. Bei Toine Stevens, der die Wache im Stadtteil De Wallen leitete, war Griet schließlich fündig geworden. Er kannte die Bewohner des Rotlichtbezirks gut und berichtete ihr von einer älteren Dame, die ein einschlägiges Etablissement führte und die ihm einmal erzählt hatte, dass sie als junge Frau das Hotelhandwerk auf Vlieland erlernt hatte.
Griet ging die Stufen zum Eingang hinauf. Toine hatte sie bei Anna de Boer angekündigt. Sie erwartete Griet an der Rezeption. Anna war Ende fünfzig, hatte graues Haar, das zu einem Zopf geflochten war. Auf ihrer rechten Wange prangte eine Warze. Sie trug einen Hosenanzug wie eine seriöse Geschäftsfrau und entsprach in keiner Weise den Klischees, die man allgemein mit Menschen ihres Berufsstandes verband.
Anna führte sie nach hinten in ein Büro, in dem neben einem Schreibtisch eine Couch und ein Sessel standen. Sie schloss die Tür hinter ihnen und bedeutete Griet, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Sie selbst setzte sich in den Sessel.
»Toine sagte mir, dass Sie mit mir über Vlieland reden möchten«, meinte Anna. Sie öffnete eine goldene Schatulle, die auf dem Beistelltisch stand, nahm eine Zigarette heraus und zündete sie an. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen eine große Hilfe sein kann, ist schon lange her, dass ich dort war …«
»Ich ermittle im Mordfall Vincent Bakker.«
Anna ließ das Feuerzeug sinken und blickte Griet an. »Da hat es den Richtigen erwischt.«
»Sie kennen ihn?«, fragte Griet.
»Den kann man kaum vergessen.«
Griet hatte sich das Foto von Lisbeth Mol aus dem Zeitungsbericht kopiert und reichte es Anna. »Diese junge Frau nahm sich im Sommer 1989 das Leben.«
Anna de Boer griff nach dem Foto und betrachtete es.
»Lis …«, flüsterte sie.
»Ich möchte uns beiden nicht die Zeit stehlen, mevrouw de Boer«, sagte Griet. »An der Leiche von Lisbeth Mol wurde damals eine Obduktion durchgeführt. Als Todesursache wurde Ertrinken festgestellt. Man entdeckte aber auch, dass sie schwanger war. Mevrouw de Boer, ich bin selbst Mutter. Ich kann mir daher ansatzweise vorstellen, wie verzweifelt man sein muss, wenn man sich und seinem ungeborenen Kind das Leben nimmt. Ich glaube, dass es einen bestimmten Grund gab, warum Lisbeth das getan hat …«
»Da mögen Sie richtigliegen …« Anna de Boer zog an ihrer Zigarette und ließ den Rauch langsam aus ihrem Mund entweichen. »Allerdings war das damals noch eine andere Zeit. Um ein Zimmermädchen, das sich in die Fluten stürzt, hat man nicht allzu viel gegeben. Weibliche Depression nannte der Polizist das.« Sie stieß ein heiseres Lachen aus.
»Was ist Lisbeth Mol damals zugestoßen?«, fragte Griet.
»Vincent Bakker ist ihr zugestoßen.«
»Was hat er getan?«
»Ich nehme an, Sie haben inzwischen ein bisschen was über ihn erfahren?«
Griet nickte.
»Er war einer von den Typen, die durchdrehen, wenn sie nicht alle paar Tage Sex haben. Ich sehe diese armen Würstchen ja hier jeden Tag … Was irgendwie eine Ironie des Schicksals ist, oder? Einer von diesen Triebgesteuerten treibt meine beste Freundin in den Tod, und heute verdiene ich mein Geld mit ihnen.«
»Hat er sich an Lisbeth vergangen?«
»So hätte er das nie genannt … Wissen Sie, damals regte sich niemand auf, wenn ein Mann einer Frau, besonders einem Dienstmädchen, an den Hintern fasste, zufällig ihre Brüste berührte oder sie auf einem Fest einfach mal abknutschte.« Anna de Boer deutete auf die Warze auf ihrer Wange. »Die hatte ich schon damals. Ich glaube, sie hat mich vor Vincent beschützt.«
»Und Lisbeth hatte nicht so viel Glück.«
»Nein. Er hat sie immer wieder bedrängt. Und dann war sie schwanger.«
»Sie meinen, das Kind stammte von ihm?«
»Das wusste Lis nicht. Und das war ja gerade das Schlimme. Sie war damals mit Coen Martens zusammen. Natürlich wusste niemand etwas davon. Der Sohn der Hoteliers und ein Zimmermädchen … so etwas schickte sich nicht.«
»Wusste Coen Martens, dass Lisbeth schwanger war?«
»Wo denken Sie hin. Und Lis hatte ihm auch nichts von der Sache mit Vincent erzählt. Außerdem … Coen ist dann dieses schlimme Unglück zugestoßen …«
Griet dachte an die Sturmnacht, als Coen und Vincent auf dem Oberdeck der Fähre miteinander gerungen hatten. Niemand hatte angeblich von der Beziehung zwischen Coen und Lisbeth gewusst. Und Lisbeth hatte keinem erzählt, was Vincent ihr angetan hatte oder dass sie schwanger war.
Etwas, das Guus van Schouten, der Concierge, gesagt hatte, kam Griet in den Sinn: Vincent hatte manchmal mit seinen weiblichen Eroberungen gegenüber Coen geprahlt. Und einmal hatte Guus die beiden trennen müssen, als sie wegen eines Mädchens miteinander gekämpft hatten.
Was, wenn es wieder so gewesen war?
Was, wenn Vincent Bakker bei seinem Cousin damit angegeben hatte, was er mit Lisbeth getan hatte? Dann war es durchaus zu erklären, dass zwischen den besten Freunden ein Kampf auf Leben und Tod entbrannt war – den Coen Martens verloren hatte.
»Coens Tod gab Lis den Rest«, fuhr Anna de Boer fort. »Er war ihr letzter Anker gewesen. Sie konnte ja nicht mal zu ihren Eltern mit dieser Sache. Da sah sie keinen anderen Ausweg mehr und ging auf den Vliehors. «
Wie Neeltje, dachte Griet.
»Hat Lisbeth Ihnen das alles vor ihrem Tod anvertraut?«
»Nein. Ich weiß es aus ihrem Tagebuch. Nach ihrem Tod konnte ich nicht mehr im Badhotel bleiben. Und ich wollte etwas Persönliches von ihr als Erinnerung behalten. In ihrem Zimmer fand ich das Tagebuch und nahm es mit.«
»Anna, könnte ich einen Blick darauf werfen?«
»Den Gefallen würde ich Ihnen gern tun. Aber ich habe es nicht mehr. Ich habe es weggegeben.«
Griet war irritiert. Warum sollte diese Frau eines ihrer liebsten Erinnerungsstücke verschenken? »Ich glaube, das müssen Sie mir erklären, Anna.«
»Es ist schon lange her. Ein junger Mann kam hierher. Er wollte mit mir über Lis sprechen …«
»Wer war er?«
»Oh, ich habe ihn sofort erkannt. Er hatte die gleichen Augen wie sie … Ich gab ihm das Buch, er hatte schließlich das Recht, endlich die Wahrheit zu erfahren.«
»Soll das etwa bedeuten …?«
»Aber ja … Lis hatte einen Bruder.«
Griet holte ihr Moleskin heraus.
»Anna, beschreiben Sie mir bitte ganz genau, wie der Mann aussah.«
***
Eine knappe Stunde später steuerte Griet den Mietwagen bei Den Oever auf den Afsluitdijk, der Deich, der Nordsee und Ijsselmeer trennte. Nebel war aufgezogen, die Sicht betrug weniger als hundert Meter. Sie aktivierte die Freisprecheinrichtung. Nach dem Freizeichen meldete sich Pieter.
»Ich war gerade bei Anna de Boer«, sagte sie. »Ich weiß jetzt, wer Vincent Bakker getötet hat.«
»Uitstekend – ausgezeichnet«, antwortete Pieter. »Dann sind wir schon zu dritt. Ich war mit Noemi in der Schrebergartenlaube der Janssens. Du hattest recht. Tim hatte den Speicherchip mit den Videoaufzeichnungen dort versteckt. Vermutlich muss ich dir nicht mehr sagen, warum uns nicht gefallen kann, was darauf zu sehen ist.«
»Nein. Ich nehme die nächste Fähre. Seht zu, dass er nicht abhaut.«
»Ich fürchte, dafür ist es zu spät. Wir wissen nicht, wo er ist – dafür weiß er aber, dass wir die Aufzeichnung haben.«
»Godverdomme!«
Griet legte auf, trat das Gaspedal durch und raste in den dichten Nebel.