30 Der Bruder
D
er Vliehorsexplorer
kam ruckelnd vor dem Drenkelingenhuisje
zum Stehen. Luuk de Jong stellte den Motor ab. Er hatte sich umgehend bereit erklärt, der Polizei behilflich zu sein, nachdem Griet ihn daran erinnert hatte, dass sein Geheimnis mit dem Bankraub bei ihnen gut aufgehoben war. Mit einem Blick durch die Windschutzscheibe sagte er: »Ihr werdet erwartet.«
Auf der umlaufenden Terrasse des Schutzhauses war eine Gestalt zu erkennen. Diese Person hatte ihr Kommen beobachtet, wandte sich nun ab und ging auf die Rückseite des Gebäudes.
»Wie besprochen …«, sagte Griet zu Pieter, der auf der breiten Beifahrersitzbank neben ihr saß. »Ich rede allein mit ihm. Greif nur ein, wenn es Ärger gibt.« Und an Luuk de Jong gerichtet, erklärte sie: »Für den Fall, dass wir beide Probleme bekommen, verständigst du sofort Noemi Bogaard über Funk.«
Sie öffnete die Beifahrertür und stieg aus. Der Wind kam stramm von vorn, so als wolle er sie auf die Insel zurückschieben. Sie zog den Reißverschluss des Parkas bis unters Kinn hoch und machte sich auf den Weg zum Drenkelingenhuisje.
Was sie tun musste, behagte ihr nicht. Normalerweise war es ein gutes Gefühl, einen Fall abzuschließen, für Gerechtigkeit zu sorgen, den Täter seiner verdienten Strafe zuzuführen. Dieses Mal bedurfte es noch nicht einmal eines Geständnisses, denn die Indizien – vor allem die Kameraaufzeichnung – sprachen eine eindeutige Sprache.
Alles ergab nun einen Sinn: Vincent Bakkers Ruf als Schürzenjäger. Sein Gerangel mit Coen Martens auf der Fähre. Coens tragischer Tod. Der Selbstmord von Lisbeth Mol, ihre Schwangerschaft. Lisbeths Bruder. Und wie all dies in Verbindung stand mit Neeltje de Jongs Vergewaltigung und dem Mord an Vincent Bakker. Seine Leiche war auf der Sandbank De Richel
angespült worden, demselben Ort, wo man seinen ertrunkenen Cousin Coen gefunden hatte, mit dessen Tod die ganze Tragödie begonnen hatte.
Es war ein perfekter Kreis.
Während Griet mit festen Schritten durch den Sand ging, hoffte sie dennoch, dass es noch eine andere Erklärung gab.
Sie stieg die Leiter zum Drenkelingenhuisje
hinauf und umrundete es. Auf der Rückseite stand ein Mann am Geländer, den Rücken ihr zugewandt, und blickte auf die See hinaus. Sie blieb einige Meter hinter ihm stehen.
Sie hatte gewusst, dass sie ihn hier finden würde, weil sie sich an seine Worte erinnert hatte: Wenn irgendwo auf der Welt ein Ort existiert, an dem die Unendlichkeit greifbar ist, dann hier. Etwas zieht mich immer wieder hierher.
Der Mann wandte sich zu ihr um.
»Hallo, Griet.«
»Hallo, Henk.«
***
Sie stellte sich zu ihm an das Geländer. In der Ferne zog ein Schlepper die havarierte Honam
hinter sich her. Man hatte den Tanker erst gestern freibekommen, nachdem alles Öl abgepumpt und die Schäden der Kollision notdürftig repariert worden waren. Ohne dieses Schiffsunglück, an dem Marc Martens eine Mitschuld trug, würden sie jetzt vermutlich nicht hier stehen.
»Wie hast du es herausgefunden?«, fragte Henk.
»Zufall.« Griet griff in die Jackentasche und zog das Medaillon heraus, das einmal Lisbeth Mol gehört hatte. »Das hier hat mich überhaupt erst auf die richtige Spur gebracht.«
Henk nahm das Schmuckstück und betrachtete es. »Ich … ich weiß noch, wie ich sie einmal beobachtet habe. Sie trug es um den Hals und betrachtete sich im Spiegel.«
»Es hat mich schlussendlich zu Anna de Boer geführt.«
»Anna, ja.« Henk blickte zu ihr auf. »Sie … hat dir vermutlich von dem Tagebuch erzählt?«
Griet nickte.
»Dann weißt du alles.«
»Zumindest so viel, dass ich mir das meiste zusammenreimen kann. Außerdem haben wir die Videoaufzeichnung aus der Mordnacht. Darauf ist zu sehen, wie du in die Halle gehst, kurz darauf der helle Blitz eines Schusses. Da du nicht wieder herauskommst, liegt es nahe, dass du mit der Leiche von Vincent Bakker den Hinterausgang genommen hast.«
»Wo hatte er die Aufnahme versteckt?«
»In der Schrebergartenlaube seiner Eltern.«
Henk zog die Augenbrauen hoch. »Natürlich. Hätte ich mir denken können. Manchmal ist es zu offensichtlich …«
»Hast du wirklich geglaubt, dass du mit der Sache durchkommst, Henk?«
»Tja … du weißt ebenso gut wie ich, dass genauso viele Morde unaufgeklärt bleiben wie gelöst werden. Es gab eine realistische Chance. Aber darüber habe ich mir nicht wirklich Gedanken gemacht … Ich musste es einfach tun, Griet.«
»Sie hat dir alles erzählt, oder?«, fragte Griet. »Als du Neeltje hier auf dem Vliehors
gefunden hast, hat sie dir gesagt, was Vincent ihr angetan hat. Und dann sind bei dir die Sicherungen durchgebrannt.«
»Es war wie bei meiner Schwester. Ich konnte das kein weiteres Mal geschehen lassen.«
»Eine Anzeige hätte es vielleicht auch getan.«
»Du weißt, wie das abläuft. Du weißt, was Neeltje hätte durchmachen müssen, wenn sie Vincent angezeigt hätte.« Henk bedachte sie mit einem bitteren Lächeln. »Du hast nicht hier neben ihr im Streifenwagen gesessen und gesehen, wie sie vor Kälte und Angst zitterte. Sie war hierhergekommen, um zu sterben. Sie wusste in ihrer Not nicht, wohin sie gehen sollte. Es war ihr eigener gottverdammter Stiefvater, der über sie hergefallen ist. Sollte die Drecksau denn noch eine weitere Frau in den Tod treiben?«
Griet hielt seinem wütenden Blick stand, konnte jedoch nichts erwidern. Denn natürlich hatte Henk recht. Ihr waren bereits dieselben Gedanken durch den Kopf gegangen, als sie mit Neeltje gesprochen hatte. Es wäre ein langer, quälender Prozess gewesen, dem sich die junge Frau hätte aussetzen müssen, und es wäre noch nicht einmal sicher gewesen, dass Vincent Bakker am Ende wirklich der Tat überführt worden wäre.
Henk bedeutete ihr, ihm zu folgen. Er führte sie auf die der Insel zugewandte Seite des Drenkelingenhuisjes.
In der Ferne war die lange Dünenreihe zu sehen.
»Dort hinten«, sagte er, »da sind Lis und ich an den Wochenenden oft mit unseren Eltern hingekommen. Wir haben gepicknickt, Drachen steigen lassen, in den Dünen gespielt. Nachts in meinen Träumen sind wir wieder dort. Dann sehe ich ihr Lächeln … und wache schweißgebadet auf. Wir waren damals alle so glücklich …«
»Wann bekam deine Schwester die Anstellung im Badhotel?
«
»Das war 1988. Ich weiß es noch genau. Zu dieser Zeit war es noch schwieriger als heute, auf der Insel Arbeit zu finden. Meine Eltern waren so stolz auf sie … Und dann dieser Tag im Spätsommer ’89. Lis kam abends nicht nach Hause. Wir spürten alle, dass etwas nicht stimmt. Meine Eltern riefen bei der Polizei an. Die beruhigten sie, meinten, dass Lis schon wieder auftauchen würde.« Er stieß ein Seufzen aus. »Und das tat sie ja dann auch. Buchstäblich. Am nächsten Morgen entdeckten sie ihre Leiche am Strand …«
»Hatte sie euch gegenüber etwas erwähnt oder angedeutet?«
»Nein, wir waren ahnungslos. Wir wussten nichts über Vincent, nichts über Coen. Wir konnten uns nicht erklären, warum sie es getan hatte. Mein Vater kam am wenigsten damit klar. Er versuchte, es sich so zurechtzulegen, dass es ein Unglück war. Doch es war zu offensichtlich, dass Lis absichtlich den Tod gesucht hatte. Vater begann zu trinken. Mutter und er stritten sich nur noch, gaben sich gegenseitig die Schuld. Meine Mutter trennte sich von ihm und zog mit mir nach Brabant. Sie lernte einen anderen Mann kennen und heiratete ihn.«
»Und sie nahm seinen Namen an.«
»Ja, Kees van der Waal, so hieß er«, sagte Henk. »Kees erzog mich, weil mein eigener Vater es nicht mehr tun konnte: Mein Vater fuhr eines Tages mit dem Boot raus und kam nie wieder zurück.«
»Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, warum ein junger Mann mit deinen Fähigkeiten freiwillig auf diese Insel kommt. Jetzt verstehe ich es.«
»Es hat mich nie losgelassen. Ich habe mich immer wieder gefragt, warum Lis das getan hat. Weißt du, Vlieland war wie ein Magnet, der mich anzog. Ich musste hierherkommen und herausfinden, was meine Familie zerstört hatte.«
»Und hast gefunden, was du gesucht hast?«, fragte Griet.
»Es war nicht so einfach. Die Insulaner sind ein verschworenes Völkchen. Es hat eine Weile gedauert, aber nach und nach schnappte ich Gerüchte auf … über Vincent Bakker, über das Unglück von Coen Martens, der nur wenige Tage vor meiner Schwester gestorben war und direkt neben ihr begraben liegt. Es war nur eine vage Ahnung … bis mir Pfarrer Arjan von Anna de Boer erzählte.«
»Und sie gab dir das Tagebuch.«
Henk blickte zu Boden. »Es war schrecklich, Griet. Ich … ich habe es verbrannt. Lis beschrieb darin alles. Was Vincent mit ihr gemacht hat. Coen, den sie über alles liebte. Die Schwangerschaft. Die Verzweiflung …«
»Eines verstehe ich nicht«, sagte Griet. »Es ist schon länger her, dass Anna dir das Tagebuch gegeben hat. Du hattest reichlich Zeit für deine Rache. Warum erst jetzt?«
Henk zuckte die Schultern. »Ich bin Polizist. Wir bringen nicht einfach jemanden um. Und … ist Vergebung nicht eine der größten Tugenden? Du weißt auch, dass die meisten Menschen, die aus Rache einen Mord begehen, ihr Seelenheil trotzdem nicht finden. Das Gegenteil ist der Fall. Ich hatte beinahe meinen Frieden mit der Sache gemacht.«
»Doch dann kam Neeltje.«
»Genau, dann kam Neeltje …«
»Du wusstest, dass du Vincent an dem Abend in der Halle antreffen würdest?«
»Du erinnerst dich an den Brand in der Halle? Da ich mich mit der Sache befasst habe, wusste ich, dass er jeden Freitagabend dort ist.« Henk schob die Hände in die Jackentaschen. »Als ich von Neeltjes Vergewaltigung erfuhr, musste ich schnell handeln. An dem Freitagabend war das Fest im Oude Veermann.
Ich bin hin und habe gewartet, bis Bakker das Lokal verließ und zur Halle ging.«
»Die Waffe?«
»Habe ich vor vielen Jahren mal einem Dealer abgenommen. Warum ich ein Teilmantelgeschoss verwendet habe, brauche ich dir nicht zu erklären.«
»Ich geh davon aus, dass die Waffe jetzt irgendwo auf dem Meeresgrund liegt?«
»Natürlich. Im Gegensatz zu Bakker ist sie dort geblieben.«
»Es hätte das perfekte Verbrechen sein können.«
»Es lief ganz gut. Bis ich auf See war. Da hörte ich über Funk von dem Schiffsunglück. Dass ich mit dem Polizeiboot dort draußen war, hätte ich noch irgendwie erklären können, die Leiche weniger. Also musste ich sie schnellstmöglich loswerden …«
»Das war Pech«, meinte Griet. »Aber was ist mit der Überwachungskamera? Wenn du mit dem Brand in der Halle befasst warst, hättest du doch davon wissen müssen.«
»Bakker hat sie erst später anbringen lassen. Ich hatte keine Ahnung.«
»Aber dir war klar, dass Tim Janssen die Aufzeichnungen in seinen Besitz gebracht hatte.«
»Als wir seine Spuren in der Halle entdeckt haben, lag dieser Schluss nahe. Ich wollte mit ihm sprechen. Er wusste, was Vincent Neeltje angetan hatte. Ich hoffte, ihn auf meine Seite ziehen zu können und dass er sich auf einen Handel einlassen würde. Und wenn nicht: Ich hatte wegen der Drogen genug gegen ihn in der Hand, um ihn einfahren zu lassen.«
»Die Sache hat dann Noemi für dich aus der Welt geschafft.«
»Ich wollte nicht, dass der Junge stirbt, Griet. Warum musste er auch das Messer ziehen?« Henk schüttelte den Kopf.
»Und wenn er nicht gestorben wäre? Hättest du damit leben können, dass dem Jungen der Mord in die Schuhe geschoben worden wäre?«
»Ich weiß nicht … Zumindest hätte es keinen Unschuldigen erwischt. Der Junge war auf dem besten Weg, auf die schiefe Bahn zu geraten.«
»Wenn wir ihn gefasst hätten, hätte Tim womöglich ausgeplaudert, dass du auf dem Video zu sehen bist.«
»Die Gefahr bestand natürlich.«
»Und wenn wir unsere Ermittlungen auf Luuk de Jong und Marc Martens konzentriert hätten?«
»Das ist etwas anderes.« Henk sah ihr in die Augen. »Ich hätte sie dafür nicht in den Knast gehen lassen. Ich hätte die Karten auf den Tisch gelegt, wenn es notwendig gewesen wäre. Aber ihr hättet wahrscheinlich nichts gefunden, was sie dermaßen belastet.«
Griet schwieg einen Moment. Es war an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen.
Der Wind trieb die Wolken über den Himmel, und ihre Schatten wanderten rasch über die weite Sandwüste. In einiger Entfernung näherten sich Wanderer dem Ufer der Meerenge zu Texel. Von der Nachbarinsel setzte ein kleines Boot zu ihnen über. Griet erinnerte sich an die Fährverbindung zwischen den Inseln, die der Inhaber des Posthuys
erwähnt hatte.
»Als Pieter mich vorhin anrief und sagte, dass ihr die Kameraaufzeichnung habt, war mir klar, was das bedeutet. Ich bin hierhergekommen, um mich zu verabschieden«, sagte Henk schließlich. »Ich bin bereit, die Verantwortung für meine Tat zu übernehmen.«
»Weißt du noch, wie du mir erzählt hast, warum du zur Polizei gegangen bist?«, fragte Griet, ohne den Blick von der Landschaft abzuwenden. »Ich werde dir sagen, warum ich diesen Job mache …«
Er sah sie fragend an.
»Meine Großeltern waren Calvinisten. Und der Calvinismus geht von der völligen Verderbtheit des Menschen aus. Die Sünde beherrscht sein Denken, seine Gefühle, seinen Willen. Ich habe den ganzen anderen religiösen Unfug nie geglaubt. Aber weißt du, was ich nach den vielen Jahren in unserem Beruf glaube, Henk? Ich glaube, dass es das Böse wirklich gibt. Es verbirgt sich in den Schatten und Winkeln dieser Welt und lauert auf seine Gelegenheit. Und unsere Aufgabe ist es, die Hilflosen vor ihm zu beschützen.«
Sie machte eine Pause und wandte sich ihm zu.
»Und genau das hast du getan, Henk. Du hast Neeltje beschützt. Wir beide wissen, dass der wahre Mistkerl seine gerechte Strafe bereits erhalten hat. Vincent Bakker wird niemals wieder jemandem etwas antun.«
Sie deutete auf das kleine Schiff, das sich von Texel her dem Vliehors
näherte. »Ich schätze, es wird bald hier sein.«
Henk ergriff ihren Arm. »Das kannst du nicht tun, Griet.«
»Es gibt nur eines, was ich nicht kann: Ich kann die Wahrheit nicht verheimlichen. Und sei es allein, damit Tims Eltern ihren Frieden finden. Ich kann dir aber einen kleinen Vorsprung geben.«
»Griet …«
»Sag nichts.« Sie löste seine Hand von ihrem Arm. »Ich wünsche dir viel Glück, Henk.«
Sie wandte sich ab, stieg die Treppe des Drenkelingenhuisjes
hinunter und ging zurück zum Vliehorsexplorer.
Wenige Augenblicke später kletterte sie auf den Beifahrersitz und schloss die Tür hinter sich.
»Pieter …«
Er hob die rechte Hand. »Du hast das Richtige getan.«
Luuk de Jong sah sie beide fragend an.
»Wir haben dir versprochen, dass dein Geheimnis bei uns sicher ist«, sagte Griet. »Es wäre schön, wenn du im Gegenzug auch etwas für dich behalten könntest …«
De Jong nickte.
Griet schnallte sich an und sah durch die Windschutzscheibe, wie Henk vom Drenkelingenhuisje
in Richtung des Schnellboots ging.
Er war einer der wenigen Menschen gewesen, denen sie jemals vertraut hatte. Diesen Fehler würde sie nie wieder begehen.