31 In Nije Dei
W im Wouters wirkte angespannt. Die roten Äderchen in seinen Augen und die dunklen Schatten darunter verrieten, dass er in den vergangenen Tagen wenig Schlaf gefunden hatte. Er saß zurückgelehnt auf dem Stuhl am Konferenztisch seines Büros und hatte die Hände wie zum Gebet unter dem Kinn gefaltet.
Griet hatte ihm gegenüber Platz genommen. Sie begegnete seinem Blick, während sie einen Schluck dampfenden koffie trank. Sie hatte Wouters einen vollständigen Bericht eingereicht, und nun war er an der Reihe. Pieter hatte von den Kollegen gehört, dass Wouters viele Stunden beim Polizeichef verbracht hatte, natürlich ohne dass jemand wusste, was die beiden besprochen hatten.
Vielleicht hatten sie überlegt, wie sie Griet am elegantesten loswurden. Mit diesem Gedanken war sie am Morgen auf der Artemis erwacht, die wieder in der Norder Stadsgracht vertäut lag. Als sie aus ihrer Koje durch den Salon zur Kaffeemaschine geschlurft war, die wie immer erst ansprang, nachdem sie dem Sicherungspaneel einen Schlag versetzt hatte, wurde sie von einer seltsamen Stimmung ergriffen: Das alte Plattboot, das Leben auf der Gracht, das klare, weite Friesland – all das fühlte sich inzwischen vertraut an. Und sie wollte ihr neues Leben ungern wieder verlassen.
Wim Wouters löste sich aus seiner Starre.
»Und es hat sich alles so zugetragen, wie in deinem Bericht steht?«
Griet nickte.
»Nachdem ihr das Überwachungsvideo gefunden und angesehen habt, seid ihr sofort auf den Vliehors gefahren, wo ihr Henk van der Waal vermutet habt, weil …«
»… seine Schwester damals dort ertrunken ist. Er hatte mir einmal gesagt, dass dies ein besonderer Ort für ihn wäre. Es lag also nahe, ihn dort zu suchen, nachdem er nirgendwo anders zu finden war.«
»Hm.« Wouters nahm Griets Bericht, der auf dem Tisch lag, und blätterte darin. »Und dort habt ihr nur den Polizeijeep gefunden …«
»Precies.«
»Von Henk keine Spur?«
»Nein.«
»Hast du eine Vorstellung, wie er von dort weggekommen ist? Ich meine, er kann sich ja schlecht in Luft aufgelöst haben.«
Griet schüttelte den Kopf. »Geen idee. Ist mir ein absolutes Rätsel.«
»Angesichts dessen, was ihr zusammengetragen habt, gibt es wohl keinen Zweifel, dass er Vincent Bakker ermordet hat.«
»Tim Janssen war jedenfalls nicht an dem Mord beteiligt, das beweist die Aufnahme der Videokamera, die Tim aus der Lagerhalle entwendet hat.«
Wouters klappte den Bericht zu und legte ihn wieder auf den Tisch. Dann stand er auf und stellte sich, den Rücken Griet zugewandt, ans Fenster.
»Ich habe lange mit dem Polizeichef über dein Vorgehen gesprochen. Die Ermittlungen waren ausgesetzt, du und Noemi Bogaard wart vom Dienst freigestellt. Auch wenn ihr den Täter ermitteln konntet, muss ich dir nicht erklären, welche Folgen das für euch hat.«
»Nein, und ich bin bereit, die Konsequenzen zu tragen. Was Noemi und Pieter betrifft, möchte ich allerdings anmerken, dass sie auf meine Weisung hin …«
Wouters hob die Hand. »Das spielt keine Rolle. Die beiden sind erwachsen und wussten, worauf sie sich einlassen. Für diese Sache fliegt ihr alle drei …«
Er schwieg.
Griet senkte den Blick und drehte gedankenverloren die Kaffeetasse, die sie in der Hand hielt. Es ließ sich wohl nicht ändern, Friesland würde nicht mehr als ein kurzes Gastspiel bleiben. Ihr Leben hatte sich in eine raue See verwandelt, und sie fragte sich, wohin der Sturm sie als Nächstes treiben würde.
Wouters wandte sich um und setzte sich wieder zu ihr an den Tisch. »… unter normalen Umständen, heißt das.«
Griet blickte auf.
»Es ist immer unglücklich, wenn ein Polizist gegen das Gesetz verstößt – noch schlimmer, wenn er sich als Mörder entpuppt«, fuhr Wouters fort. »Der Polizeichef hat daher meiner Ansicht zugestimmt, dass es für uns eine überaus glückliche Fügung ist, dass du Henk nicht festnehmen konntest. Nicht auszudenken, was das für einen Wirbel gegeben hätte.«
»Für die Medien wäre es ein gefundenes Fressen gewesen, wenn es zu einem Verfahren gegen Henk van der Waal gekommen wäre.«
»Eben.« Wouters ließ sich in den Sessel zurücksinken. »Nehmen wir mal an – rein hypothetisch und nur unter uns natürlich –, es hätte sich nicht so abgespielt, wie in deinem Bericht geschildert, und du hättest Henk sehr wohl auf dem Vliehors angetroffen, dich dann aber entschieden, ihn laufen zu lassen. Ich würde sagen … das wäre eine kluge Entscheidung gewesen.«
»Das freut mich«, meinte Griet zögerlich. »Rein hypothetisch, natürlich.«
»Selbstverständlich.« Wouters hob die Augenbrauen und lächelte. »Dieser Mann, der euch dorthin gefahren hat …«
»Luuk de Jong.«
»Ja, dieser Luuk. Wenn ihn jemand zu dem befragen würde, was sich auf dem Vliehors zugetragen hat, was würde er sagen?«
»Das, was in meinem Bericht steht. Er war die ganze Zeit im Wagen und hat niemanden gesehen.«
»Und da ist er sich auch ganz sicher?«
»So sicher, wie wir uns über seine Vergangenheit sicher sind.«
»Verstehe, das ist gut.« Wouters schenkte sich eine Tasse Tee ein und trank einen Schluck. »Ich habe in den vergangenen Tagen nämlich nicht nur mit dem Polizeichef gesprochen. Unter anderem habe ich mit Emma Bakker telefoniert. Sie zeigte sich gleichermaßen froh wie erschrocken über das Ergebnis der Ermittlungen. Ich legte ihr dar, vor welche Probleme uns das stellen könnte – aber auch, was es zum Beispiel für ihre Tochter bedeuten würde, wenn die Identität des Täters publik und die ganze Angelegenheit in aller Öffentlichkeit aufgerollt würde. Emma Bakker wies selbst darauf hin, dass ein Medienrummel schädlich für ihr Geschäft wäre. Daher wird sie mein Ansinnen, die Sache diskret zu behandeln, unterstützen. Des Weiteren habe ich mit den Eltern des toten Tim gesprochen. Sie waren erleichtert darüber, dass ihr Junge kein Mörder ist, auch wenn es ihn natürlich nicht wieder lebendig macht. Ich habe ihnen erklärt, dass Agent Bogaard keine andere Wahl hatte, als von der Schusswaffe Gebrauch zu machen, da der Junge ihren Kollegen mit einem Messer angegriffen hatte. Außerdem hatte Tim Vincent Bakker in der Mordnacht tätlich angegriffen und sich zudem des Einbruchs und Diebstahls schuldig gemacht. Und er war in Drogendelikte verwickelt. Die Eltern waren einverstanden, dass wir es bei einer schlichten Mitteilung belassen, die ihren Sohn und ihren Namen entlastet, ohne weitere Details zu nennen. Und was Henk van der Waal betrifft: Sein Dienst hätte ohnehin in wenigen Wochen geendet.«
Griet richtete sich auf. Das alles ging zu schnell, sie war sich nicht sicher, was diese Wendungen für sie und ihr Team bedeuteten.
»Wenn ich Sie richtig verstehe …«, begann sie, doch Wouters sprach unbeirrt weiter.
»Die offizielle Sprachregelung wird sein, dass neue Erkenntnisse Tim Janssen von der Täterschaft freisprechen. Die Ermittlungen gegen Noemi Bogaard werden gleichwohl eingestellt, da sich der Junge der Verhaftung widersetzte, einen Polizisten attackierte, sie also in Notwehr handeln musste. Offen bleibt, wer der Täter im Fall Vincent Bakker ist, weshalb die Ermittlungen offiziell natürlich weitergeführt werden. Und« – Wouters breitete die Hände aus – »sollten sie auf absehbare Zeit zu keinem Ergebnis führen, werden wir den Fall wohl wie so manch anderen leider zu den Akten legen müssen.«
»Und die Staatsanwaltschaft?«
»Der Staatsanwalt geht bald in Rente. Das ist also alles in seinem Interesse.«
Griet konnte Wouters’ Vorgehen nachvollziehen, und sie gab sich nicht der Illusion hin, dass er das alles ihretwegen tat. Würde Henks Tat publik werden, bedeutete das ein erheblicher Schaden für das Ansehen der Polizei.
»Da wäre noch etwas«, sagte er. »In deinem Bericht schreibst du, dass der entscheidende Tipp von Noemi Bogaard kam.«
»Das ist korrekt. Es war ihre Idee, in dem Schrebergarten nach der Kameraaufzeichnung zu suchen.«
In diesem Punkt hatte Griet ein wenig kreative Freiheit walten lassen, als sie den Bericht verfasste. Sie hatte gehofft, dass dieser Hinweis Noemi vielleicht in einem positiven Licht erscheinen lassen würde.
»Ich habe dies auch dem Polizeichef gegenüber erwähnt«, sagte Wouters. »Ihm ist am Wohlergehen der jungen Dame sehr gelegen. Er wird daher meinem Vorschlag nachkommen, Noemi Bogaard für das internationale Austauschprogramm zu empfehlen, wo sie ihren Horizont erweitern und ihr Talent weiter entfalten kann.«
Es bedurfte keiner genaueren Erklärung, was er damit meinte. Griet entnahm seinen Worten zwei Dinge: Erstens hatte Pieter recht gehabt, Noemi war der Protegé von jemandem, und nun wussten sie, dass es sich dabei um niemand Geringeren handelte als um den Polizeichef höchstpersönlich. Zweitens leitete Wim Wouters eine elegante Lösung in die Wege, eine ungeliebte Untergebene wegzuloben. Das Austauschprogramm, das in Kooperation mit Polizeibehörden in aller Welt betrieben wurde, dauerte in der Regel mindestens ein halbes Jahr. Und nicht wenige Kollegen, die daran teilnahmen, kehrten anschließend nicht in ihre alten Dienststellen zurück, sondern empfahlen sich für höhere Positionen.
»Was dich und Pieter de Vries betrifft, ist eure Suspendierung ebenfalls aufgehoben«, erklärte Wouters. »Das bedeutet allerdings nicht, dass der Polizeichef oder ich euer Vorgehen gutheißen. Ich schlage daher vor, dass ihr beide euch erst mal ein paar Wochen Urlaub nehmt. Danach werden wir weitersehen. Wie ich gehört habe, ist Pieter mit den ungeklärten Fällen völlig überlastet. Ich könnte mir vorstellen, dass er sich über deine Unterstützung freuen würde … nun, da ihr als Team bereits so gut zusammengewachsen seid.« Wouters erhob sich und zog sein Jackett straff. »Wie gut, dass wir die Sache so einvernehmlich regeln konnten.« Er reichte Griet die Hand und lächelte. »Ich freue mich auf unsere weitere Zusammenarbeit.«
Dann wandte er sich ab und verließ den Raum.
Griet ging hinüber zu dem bodentiefen Fenster und sah hinaus. Nachdem es in ihrer bisherigen Berufslaufbahn immer nur steil bergauf gegangen war und sie der Wertschätzung ihrer Vorgesetzten sicher war, bedeutete diese Entwicklung für sie eine ungewohnte Situation.
So fühlte es sich also an, kaltgestellt zu werden.
***
Aus der Ferne war das Glockenspiel vom Uhrenturm auf dem Schieferdach des stadhuis zu hören. Es war achtzehn Uhr. Der Frühling hatte sich unwiderruflich durchgesetzt, die Tage wurden länger, die Abende lauer. Sie saßen an Deck der Artemis. Pieter hatte eine Flasche Jonge Genever mitgebracht, aus der er jedem von ihnen ein großzügiges Glas einschenkte.
»Wir haben den Fall gelöst. Darauf sollten wir trinken.«
Sie stießen an. Griet verzog kurz das Gesicht, als sie das scharfe Brennen in ihrer Kehle spürte.
»Ich wollte mich noch bei euch bedanken«, sagte Noemi. »Vor allem bei dir, Griet.«
»Gern«, antworte Griet. »Weißt du schon, wo du hinkommst?«
»Ich konnte es mir aussuchen. Und es geht nach London … zu Scotland Yard.«
Griet stieß einen leisen Pfiff aus. Der Polizeichef hatte offenbar seine Kontakte spielen lassen, zum Yard wollten viele Kollegen im Austauschprogramm, doch nur wenige kamen hin.
Auf das Gesicht von Pieter trat ein Lächeln. »Eine ausgezeichnete Adresse. Du bist mir mit deinem Ehrgeiz manchmal wirklich auf den Keks gegangen. Aber aus dir wird eine hervorragende Ermittlerin werden. Beim Yard kannst du eine Menge lernen. Du brauchst nur ein bisschen mehr Geduld.«
»Ich werd’s mir merken«, versprach Noemi.
Er schenkte ihr nach, und sie leerten ihre Gläser in einem Zug.
Dann verabschiedete Noemi sich und ging von Bord.
Griet machte es sich auf der Sitzbank bequem und beobachtete, wie Pieter sich über die Reling beugte und etwas am Heck des Schiffs begutachtete.
»Du solltest vielleicht mal das Ruderblatt ersetzen«, sagte er, als er wieder auftauchte. »Es hält zwar noch, doch wenn du damit tatsächlich mal segeln willst …«
»Wer sagt denn, dass ich segeln will. Ich bekomme den Kahn ohne deine Hilfe ja kaum vom Fleck.«
»Du willst dieses prächtige Schiff doch nicht hier in der Gracht vergammeln lassen. Die Nordsee, das Ijsselmeer, zwei der schönsten Reviere der Welt liegen direkt vor deiner Haustür.«
»In meinem Alter macht man keinen Segelschein mehr …«
»Flouwe kul  – Unsinn. Wer braucht schon einen Segelschein? Ich bringe dir bei, was du wissen musst.«
Er setzte sich ihr gegenüber auf die Bank und machte sich daran, die Taue zu sortieren und aufzurollen, die unordentlich an Deck lagen.
»Hätte schlimmer kommen können«, sagte er schließlich.
»Ich weiß nicht. Ohne dir zu nahe treten zu wollen … aber als ich hergekommen bin, hatte ich nicht vor, für den Rest meines Lebens ungelöste Fälle zu bearbeiten.«
Pieter schürzte die Lippen und betrachtete sie nachdenklich. »Was hast du denn erwartet?«
»Ich … na ja …«
Wenn sie ehrlich war, hatte sie darauf keine Antwort. Vielleicht lag es daran, dass sie eigentlich vor ihrem alten Leben weggelaufen war. Vor dem Schmerz, den Bas’ Tod hinterlassen hatte. Vor ihrer Ehe. Vor dem Muttersein.
Pieter kam herüber und setzte sich neben sie. »Ich möchte dir auch nicht zu nahe treten. Aber ich kenne Menschen wie dich. Du hast dein Leben an beiden Enden angezündet. Du hast für die Karriere gelebt. Den Erfolg. Für das Adrenalin. Aber das hält man nicht ewig durch. Du hast nur dieses eine Leben. Und am Ende, wenn sie dir einen Deckel auf die Nase nageln, wird es keine Belobigung für deine Beförderungen geben. Deshalb … leb im Hier und Jetzt, genieße, was dir das Leben gibt. Und denk nicht so sehr an die Zukunft.« Er setzte seine Schiebermütze auf und rückte sie zurecht. »Ich habe auch schon Spannenderes gemacht, als ungelöste Fälle abzuarbeiten. Dafür habe ich geregelte Arbeitszeiten, und das macht mich auf andere Weise reich – reich an Zeit, die ich mit meiner Familie und den Kindern verbringen kann. Und wenn ich mir das Foto auf deinem mobieltje in Erinnerung rufe, hast du ebenfalls eine reizende Tochter. Dass sie nicht bei dir ist, bedeutet, dass vermutlich etwas schiefgelaufen ist. Du hast dein Glück bislang an der falschen Stelle gesucht.«
Griet sah sprachlos zu, wie er aufstand, in seine Jacke schlüpfte und sich zum Gehen wandte. Es war lange her, dass ihr jemand den Kopf gewaschen hatte – tatsächlich war ihr Vater der Letzte gewesen, der es gewagt hatte.
»Die Arbeit mit dir war mir übrigens eine große Freude. Ich wusste gar nicht, dass ich das alles noch draufhabe.« Er tippte sich zum Abschied an die Mütze. »Wir sehen uns.«
An diesem Abend saß Griet noch lange allein an Deck.
Sie sah die Sterne langsam am Nachthimmel aufscheinen, beobachtete die Passanten, die vorbeigingen, und lauschte dem Glucksen des Wassers. Aus dem Radio im Salon spielte leise Musik.
Irgendwann war die Flasche Whisky leer, die Ruud Seedorf ihr geschenkt hatte. Sie trank den letzten Schluck und beschloss, alsbald eine neue Flasche zu besorgen. An Deck sitzen, Whisky trinken, die Ruhe genießen – dieser Teil ihres neuen Lebens gefiel ihr gut. Und es gab tatsächlich einige Dinge aus ihrem alten Leben, die sie nicht vermisste. Vielleicht hatte Pieter recht. Sie musste nicht länger suchen.
Während im Radio die ersten Akkorde des Songs In Nije Dei  – ein neuer Tag – von der friesischen Band De Kast ertönten, holte Griet kurz entschlossen einen Briefbogen und einen Stift von unten und begann zu schreiben. Sie berichtete Fleming von ihren Erlebnissen und ihrem neuen Leben. Und sie fragte, wann sie Fenja besuchen könnte.