4 Die Tote in der Gracht
D
ie Schneeflocken legten sich sofort in einer dicken Schicht auf die Windschutzscheibe, als Griet den dunkelblauen Volvo D40 in die Ortsmitte von Sloten steuerte und auf der Dubbelstraat
neben dem blau-weißen Absperrband mit der Aufschrift politie
zum Stehen brachte. Pieter hatte ihr bereitwillig das Steuer überlassen und auf der Fahrt eine halbe Rolle King Pfefferminz gegessen, um die Nachwirkungen der zwei Becher zopie
zu übertünchen, die er getrunken hatte. Während die Scheibenwischer mit dem immer dichteren Schneefall gekämpft hatten, hatte Griet über Wim Wouters nachgedacht. Warum beorderte er sie urplötzlich zu einem Leichenfund, nachdem er sie monatelang bei den Cold Cases hatte versauern lassen? Griet kannte ihren Vorgesetzten inzwischen gut genug, um zu ahnen, dass es dafür eigentlich nur eine Erklärung gab, auch wenn sie nicht sonderlich schmeichelhaft für sie und Pieter war: Es gab niemand anderen, den Wouters schicken konnte; er hatte schlichtweg zu wenig Personal. Die Kollegen waren neben ihren gewöhnlichen Aufgaben in die Vorbereitung des Elfstedentocht eingebunden, und viele schoben Wochenendschichten, um die zusätzliche Arbeit bewältigen zu können. Bei den ungelösten Fällen, mit denen sich Griet und Pieter befassten, bestand hingegen keine Dringlichkeit.
Außerdem vermutete Griet, dass Wouters den Leichenfund in Sloten als Routine einstufte. Er hatte Pieter am Telefon gesagt, dass die Tote von einer Brücke in die Gracht gestürzt und ertrunken war. Allem Anschein nach ein Unfall. Bei einem solchen notierte der Arzt eine nicht natürliche Todesursache, was wiederum die Districtsrecherche
auf den Plan rief, die dem üblichen Prozedere folgend überprüfte, ob es sich tatsächlich um ein Unglück handelte oder ob nicht doch jemand nachgeholfen hatte.
Griet öffnete die Fahrertür und stieg aus. Das flackernde Blaulicht eines in der Nähe geparkten Streifenwagens spiegelte sich in den Fenstern der umliegenden Häuser.
Im Sommer hatte Griet auf der Noorderstadsgracht
regelmäßig Touristen als Nachbarn gehabt, die mit ihren Motorbooten und Segeljachten Fryslân
erkundet hatten. Daher wusste sie, dass Sloten unter Wassersportlern als beliebtes Ziel galt. Beim Anblick des Ortszentrums verstand sie, warum dies so war.
Vom Slotermeer
im Norden kommend, führte eine schnurgerade Gracht mitten durch den Ort. Zu beiden Seiten standen dicht an dicht niedrige Backsteinhäuser, teils mit weißen Sprossenfenstern, teils mit grünen oder braunen Schlagläden. Die Schweif- oder Stufengiebel der Gebäude waren mit aufwendigen Ornamenten verziert. Knorrige, laublose Bäume säumten zu beiden Seiten die Ränder der Gracht, und die Wege waren mit klobigen Kopfsteinen gepflastert.
Griet fühlte sich um Jahrhunderte in der Zeit zurückversetzt und musste sich bewusst darauf konzentrieren, die Szenerie, die sich ihr bot, mit professionellen Augen zu analysieren.
In Sloten führten drei Brücken über die vereiste Gracht: Eine Autobrücke für den Durchgangsverkehr, dort, wo sie und Pieter standen. Eine Holzbrücke für Fußgänger, ungefähr in der Mitte der Gracht. Und am entfernten Ende eine bogenförmige Steinbrücke, neben der eine Windmühle thronte, von deren Flügeln Eiszapfen herabhingen.
Die Tote musste von der Steinbrücke in die Gracht gestürzt sein – im Eis unter ihr klaffte ein großes Loch.
Die Kriminaltechniker waren bereits mit der Spurensicherung befasst und begutachteten in weiße Schutzanzüge gehüllt den Fundort. Am Fuß der Steinbrücke war ein Zelt aufgebaut, in dem sich, wie Griet vermutete, die Leiche befand. Ein Polizeifotograf machte Bilder.
In der Nähe der weißen Fußgängerbrücke standen neben einem Rettungswagen zwei wijkagenten
des örtlichen basisteams,
das für die Gemeinde Sloten zuständig war. Die Streifenkollegen unterhielten sich mit einer Frau und zwei Männern, von denen der Jüngere in eine silber-goldene Rettungsdecke gehüllt im Krankenwagen auf einer Trage saß.
Griet und Pieter gingen unter dem Absperrband hindurch bis an den Rand der Gracht. Eine Frau kam auf sie zu, öffnete im Gehen den Reißverschluss ihres Schutzanzugs und schob die Kapuze nach hinten. An den langen weißen Haaren und den gleichfarbigen Augenbrauen erkannte Griet, dass es sich um Noor van Urs handelte, die Leiterin der Kriminaltechnik.
»Schön, dass wir mal wieder zusammenarbeiten«, sagte sie mit einem Lächeln. »Hat Wouters euch schon ins Benehmen gesetzt?«
»Er war nicht besonders auskunftsfreudig«, antwortete Griet. »Wir wissen nur, dass eine Frau tot in der Gracht gefunden wurde.«
»Ja, so wie es aussieht, ist sie von der Brücke dort drüben gefallen.« Noor wandte sich um und deutete auf die Steinbrücke unterhalb der Windmühle. Dann blickte sie mit einem Nicken zu den wijkagenten
hinüber, die sich weiter mit der Frau und den beiden Männern unterhielten. »Die drei haben sie aus dem Wasser gezogen.«
»Habt ihr die Frau identifiziert?«
»In ihrem Portemonnaie haben wir ihren Ausweis gefunden. Ihr Name war Jessica Jonker. Alter fünfundzwanzig.«
»Wisst ihr, warum sie gestürzt ist?«, fragte Pieter.
»Nein. Bislang gibt es zumindest keine Spuren, die auf ein Fremdeinwirken hindeuten.« Noor rieb die Hände aneinander. »In der Jacke der Toten haben wir ein mobieltje
und einen Autoschlüssel gefunden. Der Wagen parkte in der Nähe. Auf dem Beifahrersitz lag ein Laptop. Ich geb beides zur Auswertung an die digitale recherche
weiter.«
Noor zog den Reißverschluss ihres Anzugs wieder zu. »Verflucht kalt heute Nacht. Ich sehe mal zu, dass wir fertig werden.« Sie überreichte ihnen zwei weiße Overalls. »Von meiner Seite wäre das auch erst mal alles. Mei ist im Zelt bei der Leiche.«
Mei Nakamura war die Rechtsmedizinerin vom Forensischen Institut des GGD
in Leeuwarden. Griet hatte sie im Zuge der Vlieland-Ermittlungen kennengelernt.
»Du sprichst mit den Zeugen«, sagte Griet zu Pieter und schob mit einem Blick auf das flackernde Licht des Streifenwagens hinzu: »Und sag den Kollegen, sie sollen das Ding ausmachen.«
Sie streifte sich den Schutzanzug über und ging auf das Zelt neben der Gracht zu. Die Häuser, an denen sie vorbeischritt, waren nahtlos aneinandergebaut, und die meisten Wohnzimmerfester gingen nach vorne zur Gracht hinaus. In fast allen brannte Licht, und hier und da standen die Bewohner hinter dem Glas und beobachteten das Geschehen. Gut möglich, dass es noch weitere Zeugen gab, die gesehen hatten, was Jessica Jonker zugestoßen war. Vermutlich war es unumgänglich, alle Einwohner zu befragen, deren Haus sich direkt am Wasser befand. Griet zog ihr Moleskine aus der Jackentasche und notierte sich, die wijkagenten
später mit der Aufgabe zu betrauen.
Sie schob die Plane am Eingang des Schutzzelts zur Seite und bückte sich, um einzutreten. Mei Nakamura, eine Asiatin, hockte neben der Leiche. Als sie Griet bemerkte, blickte sie auf.
»Mir war zu Ohren gekommen, dass Wouters euch bis in alle Ewigkeit bei den ungelösten Fällen geparkt hat«, sagte sie und blickte über den Rand ihrer runden Metallgestellbrille.
»Ich schätze, er wollte kurz vor Weihnachten noch eine gute Tat vollbringen«, erwiderte Griet und ging neben Mei in die Hocke.
Sie betrachtete die Tote. Sie war zur Hälfte noch vollständig bekleidet, trug dunkelblaue Jeans und braune Boots. Lediglich den Oberkörper hatte Mei freigelegt. Jessica Jonker hatte lange rote Haare, die wie nasser Seetang ihr schmales Gesicht bedeckten.
Griet bemerkte, wie sich ihr Magen unweigerlich verkrampfte. Fenja, ihre Tochter, hatte ebenfalls rotes Haar.
Sie wandte den Blick ab, um den Gedanken loszuwerden.
»Was den Todeszeitpunkt angeht, ist es dieses Mal eindeutig«, sagte Mei. »Einer der Auffindungszeugen hat Jessica Jonker gegen achtzehn Uhr von der Brücke stürzen sehen.«
Mei hob den Kopf der Toten vorsichtig an und drehte ihn leicht zur Seite. Am Hinterkopf war eine große Platzwunde zu erkennen.
»Vermutlich ist sie mit dem Kopf auf das Eis geschlagen«, sagte Mei. »Allerdings kann ich zum jetzigen Zeitpunkt eine Einwirkung mit einem stumpfen Gegenstand auch nicht völlig ausschließen.«
»War die Verletzung tödlich, oder ist sie ertrunken?«
»Weder noch«, antwortete Mei und legte den Kopf der Toten wieder vorsichtig ab. »Schädel und Genick sind nicht gebrochen. Möglicherweise wurde sie beim Aufprall bewusstlos. Ertrunken ist sie aber nicht, jedenfalls kann ich oberflächlich keine Anzeichen dafür erkennen, wie etwa einen Schaumpilz vor Mund und Nase.«
»Abwehrverletzungen?«
»Ebenfalls Fehlanzeige. Weder an Armen noch Händen.«
Griet betrachtete die fahle Haut der Toten, auf der sich hellrote Verfärbungen gebildet hatten. Üblicherweise waren die Leichenflecke blau oder blau-violett. »Was ist damit?«, fragte sie.
»Das hat nichts zu bedeuten«, erklärte Mei. »Es ist die Kälte, da werden die Leichenflecke rot.«
Mei nahm eine Taschenlampe aus ihrem Arztkoffer und schob die Augenlider der Toten hoch. »Auch nichts …«
Griet ging auf die andere Seite der Leiche und hockte sich neben Mei.
»Ich kann keine Stauungsblutungen in den Bindehäuten erkennen«, sagte die Medizinerin. »Das hätte zum Beispiel auf ein Erwürgen oder Ersticken hingedeutet. Es gibt also nichts, das auf eine gewaltsame Auseinandersetzung schließen ließe.«
Sie steckte die Taschenlampe wieder weg und betrachtete den Leichnam stumm. »Nach jetzigem Stand würde ich sagen, mevrouw
Jonker hatte einen Herzstillstand.«
»Du meinst, von dem Kälteschock, als sie in das eisige Wasser fiel?«, fragte Griet.
»Möglicherweise. Hängt davon ab, wie schnell die Helfer zur Stelle waren – und ob ich bei der Obduktion Wasser in ihrer Lunge finde. Vielleicht hat ihr Herz aber auch schon vor dem Sturz ausgesetzt …«
Mei griff in ihren Koffer und zog einen durchsichtigen Beweismittelbeutel heraus. »Das hier steckte in ihrer Jackentasche.«
Griet nahm den Beutel entgegen und betrachtete das Plastikröhrchen mit Globuli, das sich darin befand.
»Digitalis«, erklärte Mei. »Ein Herzmittel.«
Die Rechtsmedizinerin packte ihre Sachen und erhob sich.
»Ich will mich vor der Autopsie nicht festlegen. Aber es könnte sein, dass mevrouw
Jonker ein Problem mit dem Herzen hatte. Dann haben wir es vielleicht lediglich mit einer Verkettung unglücklicher Umstände zu tun.«
Mei verließ das Zelt, und Griet folgte ihr. Draußen sah sie zu der Steinbrücke hinüber, von der Jessica Jonker in den Tod gestürzt war. Dicke Schneeflocken fielen aus dem Nachthimmel in das dunkle Loch, das unter der Brücke im Eis klaffte.
»Du bist skeptisch?«, bemerkte Mei.
»Ich vertraue deinem Urteil. Es ist nur so …« Griet versuchte, ihre Worte mit Bedacht zu wählen, aus Angst, die professionelle Ehre der Rechtsmedizinerin zu kränken. »Was die Verkettung unglücklicher Umstände angeht, bin ich über die Jahre vorsichtig geworden. Besonders, wenn sie in Zusammenhang mit einer Leiche auftreten.«