Lilian Jackson Braun

Die Katze, die rückwärts lesen konnte

Ins Deutsche übertragen von Christine Pavesicz BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Allgemeine Reihe Band 13.353 Erste Auflage: November 1991
© Copyright 1966 by Lilian Jackson Braun All rights reserved
Deutsche Lizenzausgabe 1991
Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co. Bergisch Gladbach Originaltitel: The Cat who could read backwards Lektorat: Rene Strien
Titelfoto: Peter Haubold
Umschlaggestaltung: Klaus Blumenberg
Satz: KCS GmbH, 2110 Buchholz/Hamburg Druck und Verarbeitung: Brodard & Taupin, La Fleche, Frankreich
Printed in France
ISBN 3-404-13.353-6

1

Jim Qwilleran, dessen Name zwei Jahrzehnte lang Setzer und Lektoren zur Verzweiflung getrieben hatte, kam fünfzehn Minuten zu früh zu seinem Termin mit dem Chefredakteur des Daily Fluxion.

Im Vorzimmer nahm er ein Exemplar der Morgenausgabe zur Hand und studierte die Titelseite. Er las die Wettervorhersage (ungewöhnlich warm für die Jahreszeit), die Auflagenhöhe (472.463) und den hochtrabend in Latein gedruckten Slogan des Verlags (Fiat Flux).

Er las die Titelgeschichte über einen Mordprozeß und eine zweite groß aufgemachte Story über den GouverneursWahlkampf, in der er zwei Druckfehler entdeckte. Er erfuhr, daß dem Kunstmuseum der Zuschuß von einer Million Dollar gestrichen worden war, übersprang jedoch die Einzelheiten. Einen weiteren Beitrag über ein Kätzchen, das sich in einem Abflußrohr verfangen hatte, ließ er ebenfalls aus. Sonst las er jedoch alles:

Rowdy nach Schießerei mit Polizei geschnappt. StripperFehde in der Altstadt. Steuerverhandlungen: Demokraten sauer – Aktien steigen.

Hinter einer verglasten Tür konnte Qwilleran vertraute Laute hören – Schreibmaschinen klapperten, Fernschreiber ratterten, Telefone schrillten. Bei diesen Geräuschen sträubte sich sein buschiger, graumelierter Schnurrbart, und er strich ihn mit den Fingerknöcheln glatt. Er sehnte sich danach, einen Blick auf das geschäftige Treiben und das Durcheinander zu werfen, das in einer Lokalredaktion vor Redaktionsschluß herrscht, und ging zur Tür, um durch das Glas zu spähen.

Der Lärm war authentisch; der Anblick hingegen – wie er feststellen mußte – ganz und gar nicht. Die Jalousien hingen gerade. Die Schreibtische waren sauber aufgeräumt und nicht zerkratzt. Zerknülltes Papier und zerfetzte Zeitungen lagen nicht auf dem Fußboden, sondern ordentlich in Papierkörben aus Draht. Als er so dastand und bestürzt auf diese Szene blickte, drang ein fremdartiger Laut an sein Ohr, der überhaupt nicht zu den Hintergrundgeräuschen einer typischen Lokalredaktion, wie er sie kannte, paßte. Und dann entdeckte er einen Laufburschen, der gelbe Bleistifte in eine kleine, dröhnende Apparatur einspeiste. Qwilleran starrte das Ding an. Ein elektrischer Bleistiftspitzer! Nie hätte er gedacht, daß es so weit kommen würde. Jetzt merkte er erst, wie lange er fern vom Schuß gewesen war.

Ein anderer Laufbursche in Tennisschuhen kam mit schnellen Schritten aus der Lokalredaktion und sagte: »Mr. Qwilleran? Sie können jetzt hereinkommen.«

Qwilleran folgte ihm in das kleine Glasbüro, wo er von einem jungen Chefredakteur mit einem aufrichtigen Händedruck und einem aufrichtigen Lächeln erwartet wurde. »Sie sind also Jim Qwilleran! Ich habe schon viel von Ihnen gehört.«

Qwilleran fragte sich, wieviel – und wie schlimm das gewesen sein mochte. In seinem Bewerbungsschreiben an den Daily Fluxion nahm sich der Verlauf seiner Karriere etwas fragwürdig aus: Sportreporter, Polizeireporter, Kriegsberichterstatter, Gewinner des Verlegerpreises, Autor eines Buches über Großstadtkriminalität. Danach eine Reihe von Jobs bei immer kleineren Zeitungen, immer nur für kurze Zeit, gefolgt von einer langen Periode, in der er arbeitslos gewesen war – oder Jobs gehabt hatte, die es sich nicht lohnte anzuführen.

Der Chefredakteur sagte: »Ich erinnere mich an Ihre Berichterstattung über den Prozeß, für die Sie den Verlegerpreis bekamen. Ich war damals ein junger, unerfahrener Reporter und ein großer Bewunderer von Ihnen.«

Am Alter und dem geschulten Benehmen des Mannes erkannte Qwilleran in ihm den neuen Typ des Chefredakteurs – einen Vertreter der präzisen, perfekt geschulten Generation, für die eine Zeitung eher eine Wissenschaft ist als eine heilige Sache. Qwilleran hatte immer für den anderen Typ gearbeitet – die altmodischen, ungehobelten Kreuzzügler.

Der Chefredakteur sagte: »Mit Ihrem Hintergrund sind Sie vielleicht von der Stelle, die wir anzubieten haben, enttäuscht. Wir haben nur einen Schreibtisch in der Feuilletonabteilung für Sie, aber wir würden uns freuen, wenn Sie die Stelle annehmen, bis sich in der Lokalredaktion etwas findet.«
»Und bis ich bewiesen habe, daß ich die Arbeit nicht hinschmeiße?« sagte Qwilleran und sah dem Mann in die Augen. Er hatte einiges an Erniedrigung hinter sich; jetzt kam es darauf an, den richtigen Ton – eine Mischung aus Demut und Selbstvertrauen – anzuschlagen.

»Das versteht sich von selbst. Wie läuft es denn?«
»So weit, so gut. Das Wichtigste ist, wieder bei einer Zeitung unterzukommen. In einigen Städten habe ich meinen Vertrauensvorschuß überstrapaziert, bevor ich endlich kapierte. Deshalb wollte ich auch hierherkommen. Eine fremde Stadt – eine dynamische Zeitung – eine neue Herausforderung. Ich glaube, ich kann es schaffen.«
»Aber sicher!« sagte der Chefredakteur und machte ein resolutes Gesicht. »Also, wir haben uns folgendes für Sie vorgestellt: Wir brauchen einen Kulturredakteur.«
»Einen Kulturredakteur!« Qwilleran zuckte zurück und verfaßte im Geist eine Schlagzeile: Gnadenbrot für abgetakelten Journalisten.
»Kennen Sie sich mit Kunst aus?«
Qwilleran war ehrlich. Er sagte: »Ich kann die Venus von Milo nicht von der Freiheitsstatue unterscheiden.«
»Dann sind Sie genau der richtige Mann für uns! Je weniger Sie wissen, um so unbefangener ist Ihre Meinung. Wir haben gerade einen Kunstboom in dieser Stadt, und wir müssen mehr darüber bringen. Unser Kunstkritiker schreibt zweimal die Woche eine Kolumne, aber wir brauchen einen erfahrenen Journalisten, der sich nach Storys über die Künstler selbst umschaut. An Material mangelt es nicht. Heutzutage gibt es, wie Sie wissen, mehr Künstler als Hunde und Katzen.«
Qwilleran strich sich mit den Knöcheln über den Schnurrbart.
Der Chefredakteur fuhr zuversichtlich fort: »Sie sind dem Feuilletonredakteur unterstellt, können sich aber aussuchen, worüber Sie schreiben wollen. Wir erwarten von Ihnen, daß Sie in Ihrem Bereich herumkommen, viele Künstler kennenlernen, ein paar Hände schütteln und der Zeitung Freunde bringen.«
Qwilleran verfaßte lautlos eine weitere Schlagzeile: Abstieg eines Journalisten zum Händeschüttler. Aber er brauchte den

Job. Die Not kämpfte mit dem Gewissen. »Nun«, sagte er, »ich weiß nicht…«

»Es ist ein nettes, sauberes Ressort, und Sie werden zur Abwechslung mal ein paar anständige Menschen kennenlernen. Von Verbrechern und Schwindlern haben Sie vermutlich schon die Nase voll.«

Qwillerans zuckender Schnurrbart brachte zum Ausdruck ›Wer zum Teufel will schon ein nettes, sauberes Ressort‹, doch sein Besitzer schaffte es, diplomatisch zu schweigen.

Der Chefredakteur sah auf die Uhr und stand auf. »Gehen Sie doch einfach hinauf und besprechen Sie alles mit Arch Riker. Er kann…«

»Arch Riker! Was macht der denn hier?«
»Er ist der Leiter der Feuilletonredaktion. Kennen Sie ihn?« »Wir haben in Chicago zusammengearbeitet – vor Jahren.« »Gut! Von ihm erfahren Sie alle Einzelheiten. Und ich hoffe,

Sie entschließen sich, beim Flux mitzuarbeiten.« Der Chefredakteur hielt ihm die Hand hin und schenkte ihm ein maßvolles Lächeln.

Qwilleran spazierte wieder durch die Lokalredaktion hinaus – vorbei an den Reihen weißer Hemden mit aufgekrempelten Ärmeln, vorbei an den Köpfen, die völlig versunken über Schreibmaschinen gebeugt waren, vorbei an der unvermeidlichen Reporterin. Sie war die einzige, die ihm einen neugierigen Blick zuwarf, und er richtete sich zu seiner vollen Länge von einem Meter achtundachtzig auf, zog die überflüssigen zehn Pfund ein, die an seiner Gürtelschnalle zerrten, und glättete mit der Hand sein Haar. Wie sein Schnurrbart hatte auch sein Kopfhaar noch drei Viertel schwarze und nur ein Viertel graue Haare aufzuweisen.

Im ersten Stock fand er Arch Riker, der über einen ganzen Saal voll Schreibtische, Schreibmaschinen und Telefone herrschte – alles im selben Erbsengrün.

»Ziemlich ausgefallen, was?« sagte Arch entschuldigend. »Sie nennen das ein augenberuhigendes Olivgrün. Heutzutage muß ein jeder gehätschelt werden. Ich persönlich finde, es sieht eher gallegrün aus.« Die Feuilletonredaktion war eine kleine Ausgabe der Lokalredaktion – ohne die Atmosphäre der Dringlichkeit. Heitere Gelassenheit erfüllte den Raum wie Nebel. Jeder hier wirkte zehn Jahre älter als die Leute in der Lokalredaktion, und Arch selbst war beleibter und kahler als früher.

»Jim, es ist toll, dich wiederzusehen«, sagte er. »Schreibst du dich noch immer mit dem lächerlichen W?«
»Es ist eine ehrbare schottische Schreibweise«, hielt ihm Qwilleran entgegen.
»Und wie ich sehe, hast du auch diesen struppigen Schnurrbart nicht abgelegt.«
»Er ist mein einziges Andenken an den Krieg.« Die Knöchel strichen ihn liebevoll glatt.
»Wie geht’s deiner Frau, Jim?«
»Du meinst, meiner Ex-Frau?«
»Oh, das wußte ich nicht. Tut mir leid.«
»Lassen wir das… Was ist das für ein Job, den ihr für mich habt?«
»Ein Kinderspiel. Du kannst einen Sonntagsbeitrag für uns schreiben, wenn du gleich heute anfangen willst.«
»Ich habe noch nicht gesagt, daß ich den Job nehme.«
»Du wirst ihn nehmen«, sagte Arch. »Er ist genau das richtige für dich.«
»In Anbetracht des Rufes, den ich in letzter Zeit habe, meinst du?«
»Willst du jetzt empfindlich sein? Hör auf damit. Laß das Selbstzerfleischen.«
Qwilleran zog gedankenverloren einen Scheitel durch seinen Schnurrbart. »Ich nehme an, ich könnte es versuchen. Soll ich einen Probeartikel schreiben?«
»Wie du willst.«
»Hast du einen Tip?«
»Ja.« Arch Riker zog ein rosa Blatt Papier aus einem Ordner. »Wieviel hat dir der Chef gesagt?«
»Er hat mir überhaupt nichts gesagt«, antwortete Qwilleran, »außer, daß er publikumswirksame Sachen über Künstler will.«
»Nun, er hat eine rosa Mitteilung heraufgeschickt, in der er eine Story über einen Typen namens Cal Halapay vorschlägt.«
»Und?«
»Hier beim Flux haben wir einen Farb-Code. Eine blaue Mitteilung bedeutet ›Zur Information‹. Gelb heißt ›Unverbindlicher Vorschlag‹. Rosa hingegen bedeutet ›Nichts wie ran, Mann.‹«
»Was ist an Cal Halapay so Dringendes?«
»Unter Umständen ist es vielleicht besser, wenn du den Hintergrund nicht kennst. Spring einfach ins kalte Wasser, sprich mit diesem Halapay, und schreib etwas Lesbares. Du bist ja ein alter Hase.«
»Wo finde ich ihn?«
»Du mußt in seinem Büro anrufen, nehme ich an. Er ist ein kommerzieller Künstler und hat eine erfolgreiche Agentur, aber in seiner Freizeit malt er Ölbilder. Er malt Kinder. Seine Bilder sind sehr beliebt. Kinder mit lockigem Haar und rosigen Wangen. Sie sehen aus, als würde sie jeden Moment der Schlag treffen, aber die Leute kaufen sie anscheinend… Sag, willst du Mittagessen? Wir könnten in den Presseclub gehen.«
Qwillerans Schnurrbart richtete sich erwartungsvoll auf. Es hatte eine Zeit gegeben, da waren Presseclubs sein Leben gewesen, seine ganze Liebe, sein Hobby, sein Heim, seine Inspiration.
Dieser hier befand sich gegenüber der neuen Polizeizentrale, in einer rußgeschwärzten Kalksteinfestung mit vergitterten Fenstern, die früher einmal das Bezirksgefängnis gewesen war. In den Mulden der alten und ausgetretenen steinernen Stufen standen Pfützen, der Beweis für das für Februar ungewöhnliche Tauwetter. Der Vorraum war mit altehrwürdigem rotem Holz getäfelt, das unter unzähligen Lackschichten glänzte.
»Wir können in der Bar essen«, sagte Arch, »oder wir können hinauf in den Speisesaal gehen. Da oben haben sie Tischtücher.«
»Essen wir unten«, sagte Qwilleran.
In der Bar war es düster und laut. Lautstarke Gespräche mit vertraulichen Untertönen – Qwilleran war das alles wohlvertraut. Es bedeutete, daß Gerüchte herumschwirrten, Kampagnen gestartet wurden und über einem Bier und einem Hamburger so mancher Fall inoffiziell gelöst wurde.
Sie fanden zwei freie Plätze an der Theke und sahen sich einem Barkeeper mit einer roten Weste und einem verschwörerischen Lächeln gegenüber, das beinahe barst vor InsiderInformationen. Qwilleran erinnerte sich, daß er einige seiner besten Geschichten Tips von Barkeepern in Presseclubs zu verdanken hatte.
»Scotch und Wasser«, bestellte Arch.
Qwilleran sagte: »Einen doppelten Tomatensaft mit Eis.«
»Tom-Tom on the Rocks«, sagte der Barkeeper. »Wollen Sie einen Spritzer Limonensaft und einen Schuß WorcestershireSauce?«
»Nein, danke.«
»So mache ich ihn für meinen Freund, den Bürgermeister, wenn er hierher kommt.« Das gebieterische Lächeln wurde stärker.
»Nein, danke.«
»Und wie wäre es mit einem Tropfen Tabasco? Das gibt ihm Biß.«
»Nein, ganz einfach nur pur.«
Die Mundwinkel des Barkeepers zogen sich nach unten, und Arch sagte zu ihm: »Das ist Jim Qwilleran, er ist neu bei uns. Er weiß nicht, daß du ein Künstler bist… Jim, das ist Bruno. Er verleiht seinen Drinks eine sehr persönliche Note.«
Hinter Qwilleran sagte eine ohrenbetäubende Stimme: »Für mich bitte weniger Note und mehr Schnaps. He, Bruno, mach mir einen Martini, und laß den Mist weg. Keine Olive, keine Zitrone, keine Anchovis und keine eingelegte ungeborene Tomate.«
Qwilleran drehte sich um und sah sich einer Zigarre gegenüber, die zwischen grinsenden Zähnen steckte und völlig überdimensioniert wirkte, zumindest im Vergleich zu dem schlanken jungen Mann, der sie rauchte. Die schwarze Kordel, die von seiner Brusttasche baumelte, gehörte offenbar zu einem Belichtungsmesser. Qwilleran mochte ihn auf Anhieb.
»Dieser Clown«, sagte Arch zu Qwilleran, »ist Odd Bunsen, vom Fotolabor. Odd, das ist Jim Qwilleran, ein alter Freund von mir. Wir hoffen, daß er zum Flux-Team stößt.«
Die Hand des Fotografen schnellte vor. »Freut mich, Jim. Wollen Sie eine Zigarre?«
»Ich rauche Pfeife. Trotzdem, vielen Dank.«
Odd betrachtete interessiert Qwillerans üppigen Schnurrbart. »Dieses Gestrüpp wird bald alles überwuchern. Haben Sie keine Angst vor einem Buschbrand?«
Arch sagte zu Qwilleran: »Mit dieser schwarzen Schnur, die aus Mr. Bunsens Tasche hängt, binden wir normalerweise seinen Kopf fest. Aber er ist ein nützlicher Mann. Er hat mehr Informationen als die Nachschlagebibliothek. Vielleicht kann er dir etwas über Cal Halapay erzählen.«
»Klar«, sagte der Fotograf. »Was wollen Sie wissen? Seine Frau sieht scharf aus, 86-56-81.«
»Wer ist denn dieser Halapay überhaupt?« wollte Qwilleran wissen.
Odd Bunsen zog kurz den Rauch seiner Zigarre zu Rate. »Kommerzieller Künstler. Hat eine große Werbeagentur. Ist selbst ein paar Millionen schwer. Wohnt in Lost Lake Hills. Tolles Haus, großes Studio, wo er malt, zwei Swimmingpools. Zwei, haben Sie gehört? Bei dem Wassermangel füllt er vermutlich einen mit Bourbon.«
»Familie?«
»Zwei oder drei Kinder. Tolle Frau. Halapay besitzt eine Insel in der Karibik und eine Ranch in Oregon und ein paar Privatflugzeuge. Alles, was man mit Geld kaufen kann. Und er ist nicht knauserig. Der Typ ist in Ordnung.«
»Was ist mit den Bildern, die er malt?«
»Scharf! Echt scharf«, sagte Odd. »Ich habe eins in meinem Wohnzimmer hängen. Als ich Halapays Frau im letzten Herbst beim Wohltätigkeitsball fotografiert hatte, gab er mir ein Gemälde. Ein paar Kinder mit lockigen Haaren… Also, ich muß jetzt was essen gehen. Um eins habe ich einen Termin.«
Arch trank sein Glas aus und sagte zu Qwilleran: »Rede mit Halapay und überlege dir, was für Fotos wir machen könnten, und dann versuchen wir, Odd Bunsen dafür zu kriegen. Er ist unser bester Mann. Vielleicht könnte er ein paar Farbfotos machen. Wäre nicht schlecht, die Seite in Farbe zu bringen.«
»Diese rosa Mitteilung macht dich nervös, nicht wahr?« sagte Qwilleran. »Was hat Halapay mit dem Daily Fluxion zu tun?«
»Ich nehme noch einen«, sagte Arch. »Willst du noch einen Tomatensaft?«
Qwilleran ließ seine vorherige Frage im Raum stehen, meinte jedoch: »Gib mir nur eine einzige klare Antwort, Arch. Warum bieten sie mir das Kulturressort an? Ausgerechnet mir?«
»Weil das bei Zeitungen so üblich ist. Man engagiert Baseball-Experten als Theaterkritiker und Leute von der Kirchenseite als Nachtklub-Spezialisten. Das weißt du genausogut wie ich.«
Qwilleran nickte und strich traurig über seinen Schnurrbart. Dann sagte er: »Was ist mit diesem Kunstkritiker, der für euch schreibt? Wenn ich den Job annehme, arbeite ich dann mit ihm zusammen?«
»Er schreibt Kritiken«, sagte Arch, »und du wirst richtige Reportagen machen und Personality-Storys. Ich glaube nicht, daß ihr euch in die Quere kommt.«
»Arbeitet er in unserer Redaktion?«
»Nein, er kommt niemals ins Büro. Er verfaßt seine Kolumne zu Hause, spricht sie auf Band und schickt sie ein- oder zweimal die Woche per Boten her. Wir müssen sie abtippen. Sehr lästig.«
»Weshalb kommt er nicht her? Hat er nichts übrig für Erbsengrün?«
»Frag mich nicht. Das hat er mit der Chefetage so vereinbart. Er hat einen phantastischen Vertrag mit dem Flux.«
»Wie ist er?«
»Unnahbar. Eigenwillig. Ist nicht sehr leicht, mit ihm auszukommen.«
»Wie nett. Ist er jung oder alt?«
»Irgendwas dazwischen. Er lebt alleine – mit einer Katze – stellt dir das mal vor! Viele Leute glauben, daß die Katze die Kolumne schreibt, und vielleicht haben sie recht.«
»Ist das, was er schreibt, gut?«
»Er glaubt es. Und unsere Brötchengeber offenbar auch.« Arch rutschte auf dem Barhocker herum, während er seine nächsten Worte abwog.
»Es gibt ein Gerücht, daß der Flux den Typen hoch versichert hat.«
»Was ist an einem Kunstkritiker so wertvoll?«
»Der da hat dieses gewisse Etwas, das die Zeitungen so lieben: Er ist kontrovers! Seine Kolumne bringt Hunderte Leserbriefe pro Woche. Nein, Tausende!«
»Was für Briefe?«
»Zornige. Zuckersüße. Hysterische. Die kunstbeflissenen Leser verabscheuen ihn; die anderen halten ihn für den Größten, und dann fangen sie untereinander zu streiten an. Er schafft es, die ganze Stadt ständig in Aufruhr zu versetzen. Weißt du, was unsere letzte Umfrage erbracht hat? Die Kulturseite hat eine größere Leserschaft als der Sportteil! Und du weißt so gut wie ich, daß das eine unnatürliche Situation ist.«
»Ihr müßt eine Menge Kunst-Freaks in der Stadt haben«, meinte Qwilleran.
»Man braucht sich nichts aus Kunst zu machen, um auf unsere Kunst-Kolumne zu stehen; man muß nur gerne Blut sehen.«
»Aber worüber streiten sie sich denn?«
»Das wirst du schon noch merken.«
»Kontroversen im Sport und in der Politik kann ich verstehen, aber Kunst ist Kunst, oder?«
»Das habe ich auch geglaubt«, sagte Arch. »Als ich die Feuilletonabteilung übernahm, hatte ich die naive Vorstellung, daß Kunst etwas Wertvolles sei – etwas für schöne Menschen mit schönen Gedanken. Mann, diese Idee habe ich mir aber schnell abgeschminkt! Die Kunst ist demokratisch geworden. In dieser Stadt ist Kunst der beliebteste Zeitvertreib seit der Erfindung von Canasta, und jeder kann mitspielen. Die Leute kaufen jetzt Gemälde statt Swimmingpools.«
Qwilleran kaute die Eiswürfel aus seinem Tomatensaft und grübelte über die Geheimnisse des Ressorts nach, das der Daily Fluxion ihm da anbot. »Übrigens«, sagte er, »wie heißt der Kritiker?«
»George Bonifield Mountclemens.«
»Sag das noch mal, bitte.«
»George Bonifield Mountclemens – der Dritte!«
»Das ist ja ein dicker Hund! Verwendet er wirklich alle drei Namen?«
»Alle drei Namen, alle sieben Silben, alle siebenundzwanzig Buchstaben – und die Ziffern! Zweimal die Woche versuchen wir, seinen Namen in Standard-Kolumnenbreite unterzubringen. Es ist unmöglich, außer senkrecht. Und er gestattet keine Abkürzungen, Bindestriche oder Verstümmelungen!«
Qwilleran warf Arch einen scharfen Blick zu. »Du magst ihn nicht besonders, was?«
Arch zuckte die Schultern. »Ich habe keine große Wahl. Tatsache ist, daß ich den Typen nie zu Gesicht kriege. Ich sehe nur die Künstler, die in die Redaktion kommen und ihm die Zähne einschlagen wollen.«
»George Bonifield Mountclemens III.« Qwilleran schüttelte verwundert den Kopf.
»Selbst sein Name versetzt einige unserer Leser in Wut«, sagte Arch. »Sie wollen wissen, für wen er sich eigentlich hält.«
»Rede nur weiter. So langsam wird mir dieser Job sympathisch. Der Chef sagte, es wäre ein nettes, anständiges Ressort, und ich hatte schon Angst, ich würde mit einem Haufen Heiliger zusammenarbeiten.«
»Laß dich nicht von ihm verschaukeln. Alle Künstler in dieser Stadt hassen einander, und alle Kunstliebhaber ergreifen Partei. Und dann werden sie alle grob. Es ist wie Football, nur gemeiner. Unflätige Beschimpfungen, Verleumdungen, Verrat und Betrug…« Arch rutschte von seinem Hocker. »Komm, holen wir uns ein Cornedbeef-Sandwich.«
Das Blut einiger alter Schlachtrosse, das durch Qwillerans Adern floß, machte sich bemerkbar. Sein Schnurrbart lächelte fast. »Okay, ich nehme an«, sagte er. »Ich nehme den Job.«

2

Es war Qwillerans erster Arbeitstag beim Daily Fluxion. Er belegte einen der erbsengrünen Schreibtische in der Feuilletonredaktion und holte sich einen Vorrat an gelben Bleistiften. Auf dem erbsengrünen Telefon entdeckte er eine mit Schablone gemalte offizielle Aufforderung: Sei nett zu den Leuten! Er tippte probeweise ›Viele Morde werden nach Mitternacht begangen‹ auf der erbsengrünen Schreibmaschine. Dann rief er den Fuhrpark des Fluxion an, um einen Dienstwagen für die Fahrt nach Lost Lake Hills anzufordern.

Der Weg in den eleganten Vorort fünfzehn Meilen außerhalb der Stadt führte Qwilleran durch selbstgefällige Vorstadtbezirke, vorbei an winterbraunen Farmen mit vereinzelten verschneiten Flecken. Er hatte viel Zeit, um über dieses Interview mit Cal Halapay nachzudenken, und er fragte sich, ob die QwilleranMethode wohl noch immer funktionierte. Früher war er berühmt gewesen für die brüderliche Art, mit der er seinen Interviewpartnern die Befangenheit nahm. Sie bestand aus zwei Teilen Wohlwollen, zwei Teilen beruflicher Neugier und einem Teil niedrigem Blutdruck, und sie hatte ihm das Vertrauen alter Damen, jugendlicher Delinquenten, hübscher Mädchen, College-Präsidenten und kleiner Gauner eingebracht.

Nichtsdestotrotz hatte er im Hinblick auf den Halapay-Auftrag seine Bedenken. Es war lange her, seit er ein Interview gemacht hatte, und Künstler waren nicht gerade seine Spezialität. Er vermutete, daß sie eine Geheimsprache hatten. Andererseits war Halapay ein Werbemanager, und es war genausogut möglich, daß er ihm die Kopie einer Presseaussendung in die Hand drückte, die von seiner Public-Relations-Abteilung vorbereitet worden war. Qwillerans Schnurrbart schauderte.

Er hatte sich angewöhnt, den ersten Absatz seiner Story im voraus zu entwerfen. Es funktionierte nie, aber er tat es, um sich aufzuwärmen. Jetzt – auf der Straße nach Lost Lake Hills – versuchte er sich an ein paar Formulierungen für die Einleitung der Halapay-Story.

Vielleicht könnte er schreiben: ›Wenn Cal Halapay am Ende des Arbeitstages seine feudalen Büroräume verläßt, vergißt er den mörderischen Konkurrenzkampf in der Werbebranche und entspannt sich mit…‹ Nein, das war abgedroschen.

Er versuchte es noch einmal. ›Ein Multimillionär der Werbebranche mit einer schönen Frau (86-56-82) und zwei Swimmingpools (einer davon angeblich mit Champagner gefüllt) gesteht, ein Doppelleben zu führen. Indem er rührende Kinderporträts malt, entkommt er…‹ Nein, das war Sensationsjournalismus.

Qwilleran dachte an seine kurze Zeit bei einem Nachrichtenmagazin und startete den nächsten Versuch in jenem spröden Stil, den dieses Blatt bevorzugte. ›Im maßgeschneiderten italienischen Sporthemd mit englischer Krawatte – so verbringt der gutaussehende, graumelierte, 1,88m große Herrscher über ein Imperium von Werbeagenturen seine Freizeit…‹

Qwilleran nahm an, daß ein Mann, der soviel erreicht hatte wie Halapay, so groß, graumeliert und imposant sein mußte. Vermutlich war er auch im Winter braungebrannt.

›Eine blaue englische Seidenkrawatte, die seine karibische Sonnenbräune zur Geltung bringt…‹
Die Lost Lake Road endete abrupt an einem massiven Eisentor, das in eine Steinmauer eingelassen war, die unbezwingbar und teuer aussah. Qwilleran bremste und sah sich nach einem Pförtner um.
Beinahe im gleichen Augenblick ertönte aus dem Torpfosten eine freundliche Lautsprecherstimme: »Drehen Sie sich bitte zu dem Pfeiler links von Ihnen und nennen Sie laut und deutlich Ihren Namen.«
Er kurbelte das Wagenfenster herunter und sagte »Qwilleran vom Daily Fluxion.«
»Danke«, murmelte der Torpfosten.
Das Tor öffnete sich, und der Reporter fuhr auf das Anwesen. Er folgte einer Straße, die sich durch hohe Kiefernwälder schlängelte und in einem winterlichen Garten endete, in dem sich ein Gartenarchitekt ausgetobt hatte – es wimmelte nur so von Kieselsteinen, Felsblöcken, immergrünen Pflanzen und gewölbten Brücken, die über kleine, gefrorene Teiche führten. In dieser frostigen, aber pittoresken Landschaft stand ein chaotisch angelegtes Haus. Es war ein moderner Bau mit sanft geschwungenem Dach und undurchsichtigen Glaswänden, die wie Reispapier aussahen. Qwilleran revidierte seinen Einleitungssatz mit dem italienischen Sporthemd. Halapay lief vermutlich in einem Seidenkimono in seiner Millionen-Dollar-Pagode herum.
An der Eingangstür, die anscheinend aus Elfenbein geschnitzt war, entdeckte Qwilleran etwas, das aussah wie eine Klingel. Er streckte die Hand danach aus, doch bevor sein Finger den Knopf berührte, leuchtete der Ring um die Klingel blaugrün auf, und drinnen erklang ein Glockenspiel. Gleich darauf hörte man einen Hund bellen, vielleicht waren es auch zwei oder drei. Ein scharfer Befehl, das Bellen verstummte gehorsam, und die Tür wurde schwungvoll aufgerissen.
»Guten Morgen. Ich bin Qwilleran vom Daily Fluxion«, sagte der Reporter zu einem Jungen mit lockigem Haar und rosigem Gesicht in Sweatshirt und Arbeitshose. Bevor er hinzufügen konnte: »Ist dein Vater zu Hause?« sagte der junge Mann liebenswürdig: »Kommen Sie herein, Sir. Hier ist Ihr Paß.« Er drückte ihm einen verschwommenen Schnappschuß in die Hand, auf dem ein Gesicht mit einem riesigen Schnurrbart zu sehen war, das besorgt aus einem Autofenster blickte.
»Das bin ja ich!« rief Qwilleran erstaunt.
»Am Tor aufgenommen, bevor Sie hereinfuhren«, sagte der junge Mann offensichtlich erfreut. »Ganz schön unheimlich, nicht wahr? Kommen Sie, ich hänge Ihren Mantel auf. Ich hoffe, Sie haben keine Angst vor den Hunden. Sie sind recht freundlich. Sie lieben Besucher. Das da ist die Mutter. Sie ist vier Jahre alt. Die Jungen sind aus ihrem letzten Wurf. Mögen Sie Irische Terrier?«
Qwilleran sagte: »Ich…«
»Zur Zeit wollen alle Leute Yorkshire-Terrier haben, aber ich mag die irischen. Sie haben ein schönes Fell, nicht wahr? Hatten Sie Schwierigkeiten, das Haus zu finden? Wir haben auch eine Katze, aber sie ist trächtig, und sie schläft die ganze Zeit. Ich glaube, es wird Schnee geben. Ich hoffe es. Dieses Jahr war bisher miserabel zum Skifahren…«
Qwilleran, der stolz darauf war, daß er bei seinen Interviews ohne Notizen auskam, machte im Geist eine Inventur des Hauses: Foyer aus weißem Marmor mit Fischteich und einem tropischen Baum, der an die viereinhalb Meter hoch sein mochte. Deckenbeleuchtung zwei Stockwerke höher. Versenkte Wohnlandschaft, mit einem Fell bespannt, das aussah wie weißer Waschbär. Offener Kamin in glänzender schwarzer Wand. Vermutlich Onyx. Außerdem bemerkte er, daß der Junge ein Loch im Ärmel hatte und in dicken Socken herumlief.
»Möchten Sie im Wohnzimmer Platz nehmen, Mr. Qwilleran? Oder wollen Sie gleich ins Studio gehen? Im Studio ist es gemütlicher, wenn Ihnen der Geruch nichts ausmacht. Es gibt Leute, die sind gegen Terpentin allergisch. Allergien sind etwas Komisches. Ich bin allergisch gegen Krustentiere. Das macht mich rasend, denn ich bin ganz verrückt auf Hummer.«
Qwilleran wartete noch immer auf eine Gelegenheit, zu fragen: ›Ist dein Vater zu Hause?‹, als der junge Mann sagte: »Meine Sekretärin sagt, Sie wollen einen Artikel über meine Bilder schreiben. Gehen wir in mein Studio. Wollen Sie Fragen stellen, oder soll ich einfach reden?«
Qwilleran schluckte und sagte: »Ehrlich gesagt habe ich erwartet, daß Sie viel älter…«
»Ich bin ein Wunderkind«, sagte Halapay, ohne zu lächeln.
»Ich habe meine erste Million gemacht, bevor ich einundzwanzig war. Jetzt bin ich neunundzwanzig. Wie es scheint, habe ich ein geniales Talent, Geld zu machen. Glauben Sie, daß es so etwas wie ein Genie gibt? Es ist unheimlich, ehrlich. Hier ist ein Bild von meiner Hochzeit. Meine Frau sieht sehr orientalisch aus, nicht wahr? Sie ist heute vormittag nicht hier, weil sie Kunstunterricht nimmt, aber Sie werden sie nach dem Mittagessen kennenlernen. Wir haben das Haus so entworfen, daß es zu ihrem Aussehen paßt. Möchten Sie Kaffee? Ich rufe den Hausburschen, wenn Sie Kaffee wollen. Seien wir ehrlich, ich sehe jungenhaft aus, und so wird es auch bleiben. Im Studio ist auch eine Bar, wenn Sie lieber etwas Härteres wollen.«
Im Studio roch es nach Farben; es herrschte ziemliche Unordnung. Eine gläserne Wand ging auf einen weißen, zugefrorenen See hinaus. Halapay betätigte einen Schalter, und von der Decke entfaltete sich ein hauchdünnes Material, welches das grelle Licht ausblendete. Er drückte auf einen weiteren Knopf, worauf Türen auseinanderglitten und mehr alkoholische Getränke enthüllten, als die Bar des Presseclubs vorrätig hatte.
Qwilleran sagte, er hätte lieber Kaffee, also drückte Halapay auf einen Knopf und gab seine Bestellung durch ein Messinggitter an der Wand weiter. Außerdem reichte er Qwilleran eine seltsam geformte Flasche von der Bar.
»Das ist ein Likör, den ich aus Südamerika mitgebracht habe«, sagte er. »Hier bekommt man ihn nicht. Nehmen Sie ihn mit nach Hause. Wie gefällt Ihnen der Ausblick von diesem Fenster? Sensationell, nicht wahr? Das ist ein künstlich angelegter See. Die Landschaftsgestaltung allein hat mich eine halbe Million gekostet. Wollen Sie einen Doughnut zu Ihrem Kaffee? Das da an der Wand sind meine Bilder. Gefallen sie Ihnen?«
Die Studiowände waren von gerahmten Bildern bedeckt – Porträts von kleinen Jungen und Mädchen mit lockigem Haar und roten Apfelbäckchen. Wohin Qwilleran auch sah, überall rote Äpfelchen.
»Suchen Sie sich ein Bild aus«, sagte Halapay, »und nehmen Sie es mit – mit den besten Empfehlungen des Künstlers. Die großen sind fünfhundert Dollar wert. Nehmen Sie ein großes. Haben Sie Kinder? Wir haben zwei Mädchen. Das ist ihr Bild dort auf der Stereoanlage. Cindy ist acht, und Susan ist sechs.«
Qwilleran betrachtete das Foto von Halapays Töchtern. Wie ihre Mutter hatten sie Mandelaugen und klassisch glattes Haar. Er sagte: »Wieso malen Sie nur Kinder mit lockigem Haar und rosigen Wangen?«
»Sie sollten am Samstagabend zum Valentins-Ball gehen. Wir haben eine tolle Jazzband. Wissen Sie von dem Ball? Der Kunstclub veranstaltet alljährlich einen Ball zum Valentinstag. Wir gehen alle in Kostümen, die berühmte Liebespaare darstellen. Wollen Sie kommen? Sie brauchen sich nicht zu verkleiden, wenn Ihnen das keinen Spaß macht. Der Eintrittspreis ist zwanzig Dollar für jedes Paar. Hier, da sind zwei Karten für Sie.«
»Um auf Ihre Bilder zurückzukommen«, sagte Qwilleran, »es interessiert mich, warum Sie sich auf Kinder spezialisiert haben. Warum nicht Landschaften?«
»Ich finde, Sie sollten in Ihrer Kolumne über den Ball berichten«, sagte Halapay. »Es ist das größte Ereignis des Jahres im Club. Ich habe den Vorsitz, und meine Frau ist sehr fotogen. Mögen Sie Kunst? Jeder, der mit Kunst zu tun hat, wird dort sein.«
»Einschließlich George Bonifield Mountclemens III. nehme ich an«, sagte Qwilleran in einem Ton, der scherzhaft sein sollte.
Ohne die geringste Veränderung in seinem ausdruckslosen Tonfall sagte Halapay: »Dieser Schwindler! Sollte dieser Schwindler auch nur einen Fuß in den Vorraum des Clubs setzen, würde man ihn hinauswerfen. Ich hoffe, er ist kein guter Freund von Ihnen. Ich habe nichts übrig für diesen Typen. Er hat keine Ahnung von Kunst, aber er gebärdet sich als Autorität, und Ihre Zeitung läßt zu, daß er etablierte Künstler ans Kreuz schlägt. Sie lassen ihn die gesamte künstlerische Atmosphäre in der Stadt vergiften. Sie sollten das einzig Richtige tun und sich von ihm trennen.«
»Ich bin neu auf diesem Gebiet«, sagte Qwilleran, als Halapay Atem holte, »und ich bin kein Experte…«
»Nur als Beweis, was für ein Schwindler Ihr Kritiker ist: Er baut Zoe Lambreth als große Künstlerin auf. Haben Sie ihre Sachen schon gesehen? Sie sind ein Witz. Sehen Sie sich ihre Bilder in der Lambreth Gallery an, und Sie werden sehen, was ich meine. Keine angesehene Galerie würde ihre Arbeiten ausstellen, also mußte sie einen Kunsthändler heiraten. Es gibt wohl immer Mittel und Wege. Und ihr Ehemann, der ist nicht mehr als ein Buchhalter, der ins Kunstgeschäft eingestiegen ist, und damit meine ich sehr dubiose Geschäfte. Da kommt Tom mit dem Kaffee.«
Ein Hausbursche in einer verschmutzten Drillichhose und mit nur halb zugeknöpftem Hemd kam mit einem Tablett herein, das er ungeschickt auf den Tisch knallte. Er warf Qwilleran einen unfreundlichen Blick zu.
Halapay sagte: »Ich überlege, ob wir ein Sandwich dazu essen sollen. Es ist fast Mittag. Was wollen Sie über meine Arbeit wissen? Los, stellen Sie ein paar Fragen. Wollen Sie sich keine Notizen machen?«
»Ich würde gerne wissen«, sagte Qwilleran, »warum Sie sich darauf spezialisiert haben, Kinder zu malen.«
Der Künstler verfiel in nachdenkliches Schweigen, das erste Mal seit Qwillerans Ankunft. Dann sagte er: »Zoe Lambreth scheint einen guten Draht zu Mountclemens zu haben. Es wäre sicher interessant zu erfahren, wie sie es schafft. Ich hätte ja ein paar Theorien – aber die sind nicht druckreif. Warum gehen Sie der Sache nicht nach? Vielleicht kriegen Sie dabei ein saftiges Exposé, und Mountclemens wird gefeuert. Dann könnten Sie die Kunstkritiken schreiben.«
»Ich will gar nicht…« setzte Qwilleran an.
»Wenn Ihre Zeitung mit diesem Mist nicht Schluß macht – und zwar bald –, wird sie die Folgen zu spüren bekommen. Ich hätte nichts gegen einen Hot Dog zu diesem Kaffee. Wollen Sie einen Hot Dog?«

Um halb sechs Uhr abends flüchtete sich Qwilleran in das warme, lackglänzende Refugium des Presseclubs, wo er sich mit Arch Riker verabredet hatte. Arch wollte auf dem Heimweg noch schnell ein Glas trinken. Qwilleran wollte eine Erklärung.

Kurz angebunden sagte er zu Bruno: »Tomatensaft mit Eis. Keine Limone, keine Worcester-Sauce, kein Tabasco.« Zu Arch sagte er: »Danke, Kumpel. Danke für die Begrüßungsparty.«

»Was meinst du?«
»War das ein Einweihungsscherz?«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
»Ich spreche von dem Auftrag, Cal Halapay zu interviewen.

War das ein Aprilscherz? Das kann doch nicht dein Ernst gewesen sein. Der Typ ist übergeschnappt.«

Arch sagte: »Nun ja, du weißt doch, wie Künstler sind. Individualisten. Was ist passiert?«
»Nichts ist passiert. Nichts, was ich in irgendeiner Form in einem Artikel verwenden könnte – und es hat sechs Stunden gedauert, bis ich das herausfand. Halapay wohnt in so einem verwinkelten Haus, ungefähr so groß wie ein mittleres Internat, nur daß es irgendwie japanisch ist. Und es ist komplett verkabelt und mit allen möglichen Geräten ausgestattet. Innen ist es total irre. Eine Wand besteht aus Glasstäben, die wie Eiszapfen herunterhängen. Wenn man vorbeigeht, bewegen sie sich und hören sich an wie ein Xylophon, das gestimmt werden muß.«
»Nun, warum nicht? Er muß seine Kohle ja für irgend etwas ausgeben.«
»Ja, aber warte mal, bis ich fertig erzählt habe. Da sind also diese ganzen teuren Kulissen, und dann kommt Cal Halapay auf Socken daher und trägt ein Sweatshirt mit einem großen Loch am Ellbogen. Und sieht aus wie fünfzehn.«
»Ja, ich habe gehört, daß er sehr jung aussieht – für einen Millionär«, sagte Arch.
»Und dann noch was. Er gibt ununterbrochen mit seinem Geld an und versucht, einem Geschenke aufzuzwingen. Ich mußte Zigarren, Likör, ein Bild im Wert von fünfhundert Dollar, einen tiefgefrorenen Truthahn von seiner Ranch in Oregon und einen Irischen Terrierwelpen ausschlagen. Nach dem Mittagessen tauchte seine Frau auf, und ich hatte schon Angst, seine Großzügigkeit würde die Grenzen des Anstands überschreiten. Übrigens, Mrs. Halapay ist eine Wucht.«
»Mich frißt der Neid. Was gab es zum Mittagessen? Straußenzünglein?«
»Hot Dogs. Serviert von einem Hausburschen mit dem Charme eines Gorillas.«
»Du hast ein Gratisessen bekommen. Worüber regst du dich auf?«
»Über Halapay. Er antwortet einfach nicht auf Fragen.«
»Er weigert sich?« fragte Arch überrascht.
»Er ignoriert sie. Man kann ihn nicht festnageln. Er kommt vom progressiven Jazz zu den primitiven Masken, die er in Peru gekauft hat, und von da zu trächtigen Katzen. Mit dem Torpfosten könnte ich mich besser unterhalten als mit dem Wunderknaben.«
»Hast du überhaupt irgendwas bekommen?«
»Ich habe natürlich seine Bilder gesehen, und ich habe von einem Fest erfahren, das der Kunstclub am Samstagabend veranstaltet. Ich glaube, ich gehe vielleicht hin.«
»Was hältst du von seinen Bildern?«
»Sie sind ein bißchen eintönig. Nichts als rote Bäckchen! Aber ich habe eine Entdeckung gemacht. In all den Bildern von Kindern malt Cal Halapay sich selbst. Ich glaube, er ist fasziniert von seinem eigenen Aussehen. Lockiges Haar. Rosige Haut.«
Arch sagte: »Du hast recht, das ist wohl nicht die Geschichte, die der Chef will. Es hört sich an wie Tausendundeine Nacht.«
»Müssen wir denn eine Geschichte schreiben?«
»Du hast die Farbe der Mitteilung gesehen. Rosa.«
Qwilleran knetete seinen Schnurrbart. Nach einer Weile sagte er: »Das einzige Mal, daß ich eine direkte Antwort auf eine Frage bekam, war, als ich George Bonifield Mountclemens erwähnte.«
Arch stellte sein Glas auf den Tisch. »Was hat Halapay gesagt?«
»Er ist explodiert – ohne die Kontrolle zu verlieren, natürlich. Kurz gesagt, er findet, Mountclemens ist nicht qualifiziert, Kunst zu beurteilen.«
»Das kann ich mir vorstellen. Halapay hatte vor etwa einem Jahr eine Ausstellung, und unser Kritiker hat ihn komplett auseinandergenommen. Die Leser waren begeistert. Es tat ihren schwarzen Seelen gut zu hören, daß ein erfolgreicher Geschäftsmann bei etwas versagt. Aber es war ein harter Schlag für Halapay. Er entdeckte, daß Geld alles kaufen kann, außer einer guten Kunstkritik.«
»Mir bricht gleich das Herz. Was ist mit der anderen Zeitung? Haben die seine Arbeiten auch kritisiert?«
»Sie haben keinen Kritiker. Nur eine nette alte Reporterin, die über die Vernissagen berichtet und über alles ins Schwärmen gerät. Die gehen auf Nummer Sicher.«
Qwilleran sagte: »Also ist Halapay ein schlechter Verlierer!«
»Ja, und du weißt noch gar nicht, wie schlecht«, sagte Arch und rückte seinen Barhocker näher zu Qwilleran. »Seit dieser Geschichte versucht er, den Flux zu ruinieren. Er hat eine Menge Anzeigen abgezogen und der anderen Zeitung gegeben. Das tut weh! Besonders, weil er fast die gesamte Lebensmittel- und Modewerbung in der Stadt kontrolliert. Er hat sogar versucht, andere Werbeleute gegen den Flux aufzuhetzen. Es ist ihm ernst.«
Qwilleran verzog ungläubig das Gesicht. »Und ich soll wohl einen Artikel schreiben, in dem diesem Stinktier Honig ums Maul geschmiert wird, damit die Anzeigenabteilung wieder Aufträge bekommt!«
»Ganz offen gesagt, es wäre eine Hilfe. Es würde die Wogen etwas glätten.«
»Das gefällt mir nicht.«
»Komm mir nicht mit solchen Ansprüchen«, bat Arch. »Schreib einfach eine zu Herzen gehende kleine Geschichte über einen interessanten Typen, der zu Hause in alten Klamotten und ohne Schuhe herumläuft, Katzen und Hunde hält und Wiener Würstchen zu Mittag ißt. Das kannst du doch.«
»Es gefällt mir nicht.«
»Ich bitte dich ja nicht zu lügen. Triff einfach eine Auswahl. Laß das mit den gläsernen Eiszapfen weg und den See, der eine halbe Million Dollar gekostet hat, und die Reisen nach Südamerika, und verleg dich auf die Truthahnfarm und seine reizende Frau und die großartigen Kinder.«
Qwilleran ließ es sich durch den Kopf gehen. »Ich nehme an, das nennt man angewandten Journalismus.«
»Es hilft, die Rechnungen zu zahlen.«
»Es gefällt mir nicht«, sagte Qwilleran, »aber wenn eure Lage so schlecht ist, werde ich sehen, was ich tun kann.« Er hob sein Glas mit dem Tomatensaft. »Halapay oder Pleitegeier!«
»Keine ätzenden Bemerkungen. Ich habe einen harten Tag hinter mir.«
»Ich würde gerne ein paar von Mountclemens Kritiken lesen. Sind sie leicht zugänglich?«
»Im Archiv abgelegt«, sagte Arch.
»Ich möchte sehen, was er über eine Künstlerin namens Zoe Lambreth geschrieben hat. Halapay hat eine zweideutige Bemerkung über eine Beziehung zwischen Mrs. Lambreth und Mountclemens gemacht. Weißt du etwas darüber?«
»Ich bearbeite nur seine Beiträge. Ich schaue nicht durch sein Schlüsselloch«, sagte Arch und gab Qwilleran einen GuteNacht-Klaps auf die Schulter.

3

Im neueren und dunkleren von seinen beiden Anzügen ging Qwilleran allein auf den Valentins-Ball im Kunstclub, der – wie er herausfand – Turp and Chisel hieß. Der Club war vor vierzig Jahren im Hinterzimmer einer Flüsterkneipe entstanden. Jetzt befand er sich im obersten Stockwerk des besten Hotels und erfreute sich zahlreicher Mitglieder aus den besten Kreisen. Und die mittellosen Bohemiens, die den Verein gegründet hatten, waren jetzt alt, gesetzt und steinreich.

Nach seiner Ankunft konnte Qwilleran unerkannt in den Räumlichkeiten des Turp and Chisel umherspazieren. Er entdeckte einen prächtigen Gesellschaftsraum, einen Speisesaal und eine sehr stark frequentierte Bar. Das Spielzimmer, das mit dem Holz einer alten Scheune getäfelt war, hatte von Darts bis zu Domino alles zu bieten. Im Ballsaal waren die Tische mit roten und weißen Tüchern gedeckt, und ein Orchester spielte gängige Melodien.

Er fragte nach dem Tisch der Halapays und wurde von Sandra Halapay begrüßt, die einen weißen Kimono aus steifer, bestickter Seide trug. Übertriebenes Make-up ließ ihre Augen noch exotischer wirken.

»Ich habe schon befürchtet, Sie würden nicht kommen«, sagte sie und behielt seine Hand noch lange nachdem der Händedruck vorüber war in der ihren und entzückte ihn mit einem perlenden Lachen.

»Dieser Einladung konnte ich nicht widerstehen, Mrs. Halapay«, sagte Qwilleran. Dann beugte er sich zu seiner eigenen Überraschung über ihre Hand und strich mit seinem Schnurrbart darüber.

»Bitte, nennen Sie mich doch Sandy«, sagte sie. »Sind Sie alleine gekommen? Auf den Ball der Liebenden?«
»Ja. Ich stelle den Narziß dar.«
Sandy trillerte vor lauter Fröhlichkeit. »Ihr Zeitungsleute seid so gescheit!«
Sie war gefühlvoll, groß und wirklich reizend, fand Qwilleran, und heute abend war sie bezaubernd gelöst, wie das oft bei Ehefrauen der Fall ist, wenn ihre Männer nicht da sind.
»Cal ist Vorsitzender des Ballkomitees«, sagte sie, »und er flitzt ständig herum, also können Sie mein Partner sein.«
Ihre Augen waren nicht nur exotisch, sondern geradezu aufreizend.
Dann schlug Sandy einen formellen Ton an, der ein wenig hohl klang, und stellte ihn den anderen Leuten an ihrem Tisch vor. Sie waren Mitglieder in Cals Komitee, wie sie betonte. Ein Mr. und eine Mrs. Riggs oder Biggs waren in historischen französischen Kostümen erschienen. Ein kleines, rundliches Paar namens Buchwalter, das sich zu langweilen schien, war als Bauern verkleidet. Auch Mae Sisler, die Kulturreporterin der anderen Zeitung, war da.
Qwilleran grüßte sie mit einer kollegialen Verbeugung und schätzte dabei, daß sie zehn Jahre über dem Pensionsalter war.
Mae Sisler reichte ihm ihre knochige Hand und sagte mit dünner Stimme: »Ihr Mr. Mountclemens ist ein sehr böser Junge, aber Sie sehen mir nach einem netten jungen Mann aus.«
»Vielen Dank«, sagte Qwilleran. »Mich hat seit zwanzig Jahren niemand mehr einen jungen Mann genannt.«
»Ihr neuer Job wird Ihnen gefallen«, prophezeite sie. »Sie werden reizende Menschen kennenlernen.«
Sandy beugte sich nahe zu Qwilleran und sagte: »Sie sehen so romantisch aus mit diesem Schnurrbart. Ich wollte immer, daß Cal sich einen wachsen läßt, damit er wenigstens halbwegs erwachsen aussieht, aber er wollte nicht. Er sieht aus wie ein kleines Kind. Finden Sie nicht?« Sie lachte wohlklingend.
Qwilleran meinte: »Es stimmt, er wirkt sehr jung.«
»Ich glaube, er ist irgendwie zurückgeblieben. In ein paar Jahren werden die Leute glauben, er ist mein Sohn. Wird das nicht irre sein?« Sandy warf Qwilleran einen schmachtenden Blick zu. »Wollen Sie mich zum Tanzen auffordern? Cal ist ein fürchterlicher Tänzer. Er hält sich für ganz toll, aber in Wirklichkeit hat er zwei linke Füße.«
»Können Sie in diesem Kostüm tanzen?«
Sandys steifer weißer Kimono wurde in der Mitte von einem breiten schwarzen Obi zusammengehalten. Über ihr glattes dunkles Haar war ebenfalls weiße Seide drapiert.
»Aber klar.« Als sie zur Tanzfläche gingen, drückte sie Qwillerans Arm. »Wissen Sie, was mein Kostüm darstellt?«
Qwilleran verneinte.
»Cal trägt einen schwarzen Kimono. Wir sind die ›Jungen Liebenden in einer verschneiten Landschaft.‹«
»Wer ist das?«
»Ach, das wissen Sie doch. Der berühmte Druck – von Harunobu.«
»Tut mir leid. Was Kunst angeht, bin ich eine absolute Null.« Qwilleran hatte das Gefühl, dieses Geständnis unbesorgt machen zu können, wo er doch in diesem Augenblick mit Sandy ganz hervorragend Foxtrott tanzte, den er mit ein paar eigenen Schnörklern bereicherte.
»Sie sind ein lustiger Tänzer«, sagte sie. »Man muß wirklich Sinn für Koordination haben, um Foxtrott zu einem Cha-ChaCha zu tanzen. Aber wir müssen etwas für Ihre Kunstkenntnisse tun. Soll ich Ihnen Stunden geben?«
»Ich weiß nicht, ob ich Sie mir leisten kann – bei meinem Gehalt«, sagte er, und Sandys Lachen übertönte noch das Orchester. »Was ist mit der kleinen Dame von der anderen Zeitung? Ist sie eine Kunstexpertin?«
»Ihr Mann war im Ersten Weltkrieg Fälscher beim Nachrichtendienst«, sagte sie. »Ich nehme an, da ist sie wohl Expertin.«
»Und wer sind die anderen Leute an Ihrem Tisch?«
»Riggs ist Bildhauer. Er macht langgezogene, ausgemergelte Sachen, die in der Lambreth Gallery ausgestellt sind. Sie sehen aus wie Heuschrecken. Riggs selber eigentlich auch, wenn man es sich genau überlegt. Das andere Paar, die Buchwalters, sollen Picassos berühmtes Liebespaar darstellen. Man merkt gar nicht, daß sie kostümiert sind. Sie ziehen sich immer an wie Bauern.« Sandy rümpfte ihre hübsche Stupsnase. »Sie kann ich nicht ausstehen. Sie hält sich für ach so intellektuell. Ihr Mann unterrichtet Kunst an der Penniman School, und er hat eine Ausstellung in der Westside Gallery. Er ist bescheuert, aber er malt reizende Aquarelle.« Dann runzelte sie die Stirn. »Ich hoffe, Zeitungsleute sind keine Intellektuellen. Als Cal zu mir sagte, ich solle – ach was, ist egal. Ich rede zuviel. Tanzen wir einfach.«
Gleich darauf verlor Qwilleran seine Partnerin an einen mürrischen jungen Mann in einem zerrissenen T-Shirt und mit einem Benehmen wie ein Rowdy. Das Gesicht kam ihm bekannt vor.
Als sie später wieder am Tisch saßen, sagte Sandy: »Das war Tom, unser Hausbursche. Er soll Stanley Wie-heißt-er-dochgleich aus diesem Stück von Tennessee Williams darstellen, und seine Freundin ist hier irgendwo, in einem rosa Negligé. Tom ist ein Lümmel, aber Cal glaubt, daß er Talent hat, und deshalb schickt er den Jungen auf die Kunstschule. Cal macht viele wunderbare Sachen. Sie werden einen Artikel über ihn schreiben, nicht wahr?«
»Wenn ich genug Material bekomme«, sagte Qwilleran. »Er ist schwer zu interviewen. Vielleicht könnten Sie mir helfen.«
»Aber gerne. Haben Sie gewußt, daß Cal Vorsitzender des staatlichen Kunstkomitees ist? Ich glaube, er will der erste professionelle Künstler werden, der ins Weiße Haus einzieht. Und er schafft es vielleicht auch. Er läßt sich von nichts aufhalten.« Sie verstummte und wurde nachdenklich. »Sie sollten einen Artikel über den alten Mann am Nachbartisch schreiben.«
»Wer ist das?«
»Sie nennen ihn Onkel Waldo. Er ist ein pensionierter Fleischhauer, der Tiere malt. Er hat nie einen Pinsel in der Hand gehabt, bis er neunundsechzig war.«
»Das kommt mir irgendwie bekannt vor.«
»Ja, natürlich will jeder Pensionist eine zweite Grandma Moses sein, aber Onkel Waldo hat wirklich Talent – selbst, wenn Georgie anderer Meinung ist.«
»Wer ist Georgie?«
»Sie kennen Georgie – Ihren unschätzbaren Kunstkritiker.«
»Ich habe den Mann bis jetzt noch nicht kennengelernt. Wie ist er?«
»Ein richtiges Ekel, das ist er. In seiner Rezension über Onkel Waldos Ausstellung war er richtig grausam.«
»Was hat er geschrieben?«
»Er schrieb, daß Onkel Waldo lieber wieder in den Fleischmarkt zurückgehen und die Kühe und Häschen den Kindern überlassen sollte, die sie mit mehr Phantasie und Ehrlichkeit zeichnen. Er schrieb, Onkel Waldo habe auf der Leinwand mehr Tiere hingemetzelt als je zuvor als Fleischhauer. Alle waren wütend! Viele Leute schrieben an den Herausgeber, doch der arme alte Mann nahm es sehr schwer und hörte auf zu malen. Es war ein Verbrechen! Er hat wirklich bezaubernde primitive Bilder gemalt. Ich habe gehört, sein Enkel, ein Lastwagenfahrer, soll in die Zeitungsredaktion gegangen sein und gedroht haben, George Bonifield Mountclemens zusammenzuschlagen, und ich kann es ihm nicht verdenken. Ihr Kritiker ist total verantwortungslos.«
»Hat er jemals etwas über die Arbeit Ihres Mannes geschrieben?« fragte Qwilleran mit seiner besten Unschuldsmiene.
Sandy schauderte. »Er hat ein paar bösartige Sachen über Cal geschrieben – nur weil Cal ein kommerzieller Künstler und erfolgreich ist. Für Mountclemens gehören kommerzielle Künstler in dieselbe Kategorie wie Häusermaler und Tapezierer. In Wirklichkeit kann Cal besser zeichnen als all diese aufgeblasenen Farbkleckser, die sich ›Abstrakte Expressionisten‹ nennen. Nicht einer von ihnen könnte auch nur ein Wasserglas zeichnen!«
Sandy sah finster drein und schwieg. Qwilleran sagte: »Sie sind hübscher, wenn Sie lächeln.«
Sie tat ihm den Gefallen, indem sie in Lachen ausbrach. »Sehen Sie mal! Ist das nicht zum Schießen? Cal tanzt mit Marcus Antonius!«
Sie zeigte auf die Tanzfläche, und Qwilleran sah, daß Cal Halapay in einem schwarzen japanischen Kimono mit einem kräftigen römischen Soldaten einen langsamen Foxtrott tanzte. Das Gesicht unter Antonius Helm war kühn, aber weich.
»Das ist Butchy Bolton«, sagte Sandy. »Sie unterrichtet Bildhauerei an der Kunstschule – Metallschweißen und dergleichen. Sie und ihre Zimmerkollegin sind als Antonius und Kleopatra gekommen. Ist das nicht irre? Butchy hat ihre Rüstung selbst zusammengeschweißt. Sieht nach ein paar LKW-Kotflügeln aus.«
Qwilleran sagte: »Die Zeitung hätte einen Fotografen schicken sollen. Wir sollten Aufnahmen von all dem hier machen.«
Sandy veranstaltete ein paar akrobatische Kunststücke mit ihren Augenbrauen und sagte: »Zoe Lambreth sollte sich um die Publicity für den Ball kümmern, aber sie ist wohl nur gut, wenn es um ihre eigene Publicity geht.«
»Ich werde in der Fotoredaktion anrufen«, sagte Qwilleran, »und fragen, ob sie jemanden herüberschicken können.«

Eine halbe Stunde später traf Odd Bunsen ein, der die Schicht von eins bis elf hatte – eine 35-mm-Spiegelreflexkamera um den Hals und die übliche Zigarre zwischen den Zähnen.

Qwilleran erwartete ihn im Foyer und sagte: »Sehen Sie zu, daß Sie ein gutes Bild von Cal und Sandra Halapay schießen können.«

Odd sagte: »Nichts leichter als das. Die sind ganz scharf darauf, sich in der Zeitung zu sehen.«
»Versuchen Sie, die Leute paarweise zu bekommen. Sie sind als berühmte Liebespaare verkleidet – Othello und Desdemona, Lolita und Humbert Humbert, Adam und Eva…«
»Ir-r-r-re!« sagte Odd Bunsen und begann seine Kamera einzustellen. »Wie lange müssen Sie noch hierbleiben, Jim?«
»Nur noch bis ich erfahre, wer die Kostümpreise gewinnt, und der Redaktion telefonisch etwas durchgeben kann.«
»Treffen wir uns doch im Presseclub auf einen Gute-NachtSchluck. Wenn ich diese Fotos fertig habe, kann ich Schluß machen.«

Wieder am Tisch der Halapays, wurde Qwilleran von Sandy einer eindrucksvollen Frau in einem perlenbestickten Abendkleid vorgestellt. »Mrs. Duxbury«, erklärte Sandy, »ist die wichtigste Sammlerin in der Stadt. Sie sollten einen Artikel über ihre Sammlung schreiben. Englische Maler aus dem achtzehnten Jahrhundert – Gainsborough und Reynolds, Sie wissen schon.«

Mrs. Duxbury sagte: »Ich bin gar nicht erpicht darauf, daß etwas über meine Sammlung veröffentlicht wird, Mr. Qwilleran, außer, wenn es Ihnen persönlich bei Ihrer neuen Position hilft. Offen gesagt, ich bin überglücklich, Sie hier bei uns begrüßen zu dürfen.«

Qwilleran verneigte sich. »Vielen Dank. Es ist ein völlig neues Gebiet für mich.«
»Ich hoffe doch, Ihre Anwesenheit hier bedeutet, daß der Daily Flux zur Vernunft gekommen ist und sich von Mountclemens getrennt hat.«
»Nein«, sagte Qwilleran, »wir erweitern nur unsere Berichterstattung. Mountclemens wird auch weiterhin Rezensionen schreiben.«
»Wie schade. Wir haben alle so gehofft, daß die Zeitung diesen schrecklichen Menschen entläßt.«
Eine Trompetenfanfare von der Bühne kündigte die Preisverleihung für die besten Kostüme an. Sandy sagte zu Qwilleran: »Ich muß Cal holen, er sitzt in der Jury und nimmt am großen Umzug teil. Wollen Sie wirklich nicht länger bleiben?«
»Es tut mir leid, aber ich muß meinen Beitrag abliefern. Und vergessen Sie bitte nicht, daß Sie mir bei dem Artikel über Ihren Mann helfen wollen.«
»Ich werde Sie anrufen und mich selbst zum Mittagessen einladen«, sagte Sandy und umarmte den Reporter herzlich. »Das wird lustig werden.«
Qwilleran zog sich ans hintere Ende des Saales zurück und notierte die Namen der Gewinner, die verkündet wurden. Er war auf der Suche nach einem Telefon, als eine weibliche Stimme – sanft und tief – sagte: »Sind Sie nicht der neue Mann vom Daily Fluxion?«
Sein Schnurrbart bebte. Weibliche Stimmen hatten manchmal diese Wirkung auf ihn, und diese Stimme war wie eine zärtliche Berührung.
»Ich bin Zoe Lambreth«, sagte sie, »und ich fürchte, ich habe bei meiner Aufgabe jämmerlich versagt. Ich hätte die Zeitungen über diesen Ball informieren sollen, und es ist mir vollkommen entfallen. Ich bereite mich auf eine Ausstellung vor und arbeite gerade furchtbar hart – wenn Sie eine lahme Ausrede akzeptieren wollen. Ich hoffe, man vernachlässigt Sie nicht. Bekommen Sie alle Informationen, die Sie brauchen?«
»Ich glaube schon. Mrs. Halapay hat sich um mich gekümmert.«
»Ja, das habe ich bemerkt«, antwortete Zoe, wobei sie ihre wohlgeformten Lippen ein klein wenig zusammenkniff.
»Mrs. Halapay hat mir sehr geholfen.«
Zoes Augenbrauen zuckten. »Da bin ich sicher.«
»Sie sind nicht kostümiert, Mrs. Lambreth.«
»Nein. Mein Mann hatte keine Lust, heute herzukommen, und ich habe nur auf ein paar Minuten vorbeigeschaut. Sie sollten einmal in die Lambreth Gallery kommen und meinen Mann kennenlernen. Wir beide werden Ihnen gerne auf jede erdenkliche Art behilflich sein.«
»Ich werde Hilfe gebrauchen. Das ist völliges Neuland für mich«, sagte Qwilleran und fügte dann ganz beiläufig hinzu: »Mrs. Halapay hat mir angeboten, sich um meine Weiterbildung auf dem Gebiet der Kunst zu kümmern.«
»Ach du liebe Zeit!« sagte Zoe in einem Tonfall, der leise Besorgnis ausdrückte.
»Haben Sie Einwände?«
»Nun… Sandra ist nicht gerade die bestqualifizierte Autorität auf dem Gebiet. Verzeihen Sie mir. Früher oder später werden Sie merken, daß Künstler die sprichwörtlichen falschen Schlangen sind.« Zoes große braune Augen waren entwaffnend offen, und Qwilleran versank vorübergehend darin. »Aber es ist mir wirklich ernst mit meiner Sorge um Sie«, fuhr sie fort. »Ich möchte nicht, daß Sie – fehlgeleitet werden. Vieles von dem, was heute im Namen der Kunst produziert wird, ist schlimmstenfalls Schwindel und bestenfalls Schund. Sie sollten sich über die Qualifikation Ihrer Berater informieren.«
»Was würden Sie vorschlagen?«
»Besuchen Sie die Lambreth Gallery«, forderte sie ihn auf, und ihre Augen spiegelten die Einladung wider.
Qwilleran zog den Bauch ein und spielte mit der Idee, ein paar Pfund abzunehmen – ab morgen. Dann nahm er seine Suche nach dem Telefon wieder auf.

Der große Umzug war vorbei, und die Gäste schlenderten umher. Es hatte sich herumgesprochen, daß der neue Reporter des Daily Fluxion unter den Ballbesuchern war und daß man ihn leicht an seinem auffallenden Schnurrbart erkennen konnte. Daher traten zahllose Fremde an Qwilleran heran und stellten sich vor. Jeder einzelne wünschte ihm alles Gute und sagte dann etwas wenig Schmeichelhaftes über George Bonifield Mountclemens. Die Kunsthändler unter ihnen machten noch ein bißchen Reklame für ihre Galerien; die Künstler erwähnten ihre bevorstehenden Ausstellungen; die Laien luden Qwilleran ein, sie zu besuchen und sich ihre Privatsammlungen anzusehen – jederzeit – und auch einen Fotografen mitzubringen, wenn er wollte.

Unter denen, die den Reporter ansprachen, war auch Cal Halapay. »Kommen Sie doch einmal zum Dinner zu uns hinaus«, sagte er. »Und bringen Sie die ganze Familie mit.«

Jetzt begann man sich voll aufs Trinken zu konzentrieren, und die Gesellschaft wurde laut. Der größte Tumult war im Spielzimmer zu hören, und Qwilleran folgte der Menge in diese Richtung. Der Raum war brechend voll mit lachenden Gästen, die so dichtgedrängt standen, daß man kaum ein Whiskyglas heben konnte. Und alle Augen waren auf Marcus Antonius gerichtet. Sie stand auf einem Stuhl. Ohne Helm war Marcus Antonius schon eher eine Frau – mit einem herben Gesicht und kurzen, in strenge Wellen gelegten Haaren.

»Kommt her, Leute«, bellte sie. »Zeigt, was ihr könnt!«

Qwilleran quetschte sich in den Raum. Er entdeckte, daß die Aufmerksamkeit der Menge einem Darts-Spiel galt. Die Spieler versuchten, die lebensgroße Figur eines Mannes zu treffen, der mit Kreide an die Scheunenholzwand gemalt war; alle anatomischen Einzelheiten waren deutlich eingezeichnet.

»Her mit euch, Leute«, rief die Frau. »Kostet keinen Cent. Jeder hat nur eine Chance. Das Spiel heißt ›Killt den Kritiker.‹«
Qwilleran fand, daß er genug hatte. Sein Schnurrbart fühlte sich irgendwie unbehaglich. Er machte sich unauffällig aus dem Staub, gab seine Story telefonisch an die Zeitung durch und stieß dann im Presseclub zu Odd Bunsen.
»Mountclemens muß wirklich ein Ekel sein«, sagte er zu dem Fotografen. »Lesen Sie seine Kolumne?«
»Wer liest schon?« sagte Odd. »Ich sehe mir die Bilder an und kontrolliere, ob mein Name darunter steht.«
»Er scheint ganz schön viel Ärger zu machen. Wissen Sie etwas über die Situation im Kunstmuseum?«
»Ich weiß, daß dort ein süßes Häschen in der Garderobe arbeitet«, sagte Odd, »und im ersten Stock haben sie ein paar ir-r-r-re Aktbilder.«
»Interessant, aber das habe ich nicht gemeint. Das Museum hat gerade einen Zuschuß von einer Million Dollar von irgendeiner Stiftung verloren, und daraufhin wurde der Direktor gefeuert. Das habe ich heute abend bei dem Fest gehört, und es heißt, der ganze Skandal sei vom Kritiker des Daily Fluxion ausgelöst worden.«
»Das würde ich unbesehen glauben. Er macht uns im Fotolabor immer die Hölle heiß. Er ruft an und sagt uns, was wir für seine Kolumne fotografieren sollen. Dann müssen wir in die Galerien gehen und die Fotos schießen. Sie sollten den Mist sehen, den wir ablichten müssen! Vorige Woche bin ich zweimal in die Lambreth Gallery gegangen, und trotzdem bekam ich kein Foto, das man drucken konnte.«
»Wie das?«
»Das Bild war schwarz und marineblau, können Sie sich das vorstellen? Mein Foto sah aus wie ein Kohlenkasten in einer finsteren Nacht, und der Chef glaubte, das sei meine Schuld. Der alte Monty meckert ständig über unsere Fotos. Sollte ich jemals die Gelegenheit haben, dann ziehe ich ihm eins mit der Kamera über.«

4

Am Sonntagmorgen holte sich Qwilleran ein Exemplar des Fluxion vom Zeitungskiosk seines Hotels. Er wohnte in einem alten, billigen Hotel, in dem man die abgenutzten Teppiche und Samtüberzüge durch Plastikbodenbeläge und Plastiksessel ersetzt hatte. Im Café servierte ihm eine Kellnerin mit Plastikschürze sein Rührei auf einem kalten Plastikteller, und Qwilleran schlug die Kulturseite seiner Zeitung auf.

George Bonifield Mountclemens III. rezensierte die Arbeiten von Franz Buchwalter. Qwilleran erinnerte sich an den Namen. Buchwalter war der stille Mann am Tisch der Halapays – mit der Sozialarbeiterin verheiratet –, der bescheuert war, aber reizende Aquarelle malte, wie Sandy Halapay fand.

Zwei Gemälde des Mannes waren abgebildet, um die Rezension zu illustrieren, und Qwilleran fand sie recht schön. Sie zeigten Segelboote. Er hatte schon immer etwas für Segelboote übrig gehabt. Er begann zu lesen:

Kein Galeriebesucher, der gute Handwerkskunst zu schätzen weiß, darf Franz Buchwalters Ausstellung diesen Monat in der Westside Gallery versäumen: Der Künstler, der Aquarelle malt und an der Penniman School of Fine Art unterrichtet, hat sich entschlossen, eine hervorragende Sammlung von Bilderrahmen auszustellen.

Es ist selbst für das ungeübte Auge unschwer zu erkennen, daß der Künstler das letzte Jahr sehr fleißig an seinen Rahmen gearbeitet hat. Die Leisten sind gut zusammengefügt, und große Sorgfalt wurde auf saubere Kanten verwandt. Die Sammlung zeichnet sich auch durch ihre Vielfalt aus. Es gibt breite Leisten, schmale Leisten und mittlere Leisten; Rahmen, die mit Blattgold und solche, die mit Blattsilber belegt sind; Rahmen aus Nußholz, aus Kirschholz und aus Ebenholz sowie Rahmen mit jenem gedeckten Anstrich, der die so beliebte Fälschung, die man Antikweiß nennt, darstellen soll.

Eines der besten Exponate ist ein Rahmen aus wurmstichigem Kastanienholz. Der Betrachter kann nur schwer feststellen – ohne wirklich mit einer Nadel in die Löcher zu stechen –, ob diese von Würmern in North Carolina oder von elektrischen Bohrern in Kansas City hergestellt worden sind. Jedoch würde ein Rahmenkünstler von Buchwalters Integrität kaum minderwertige Materialien verwenden, und so glaubt der Rezensent doch, daß es sich um echte wurmstichige Kastanie handelt.

Die Exponate sind gut präsentiert. Ein besonderes Lob gilt der Mattierung, deren Strukturen und Farbschattierungen mit Geschmack und Phantasie ausgewählt wurden. Der Künstler hat seine bemerkenswerten Bilderrahmen mit Segelbooten und anderen Dingen gefüllt, die von der hervorragenden Qualität der Rahmen nicht ablenken.

Qwilleran sah sich die Fotos nochmals an, und sein Schnurrbart zuckte in stummem Protest. Die Segelboote waren hübsch – wirklich sehr hübsch.

Er faltete die Zeitung zusammen und ging. Er wollte jetzt etwas tun, was er seit seinem zwölften Lebensjahr nicht mehr getan hatte, und damals hatte man ihn dazu genötigt. Kurz gesagt, er verbrachte den Nachmittag im Kunstmuseum.

Die Kunstsammlung der Stadt war in einem Marmorgebäude untergebracht, das eine Kopie eines griechischen Tempels, einer italienischen Villa und eines französischen Chateaus war. Es schimmerte stolz und weiß in der Sonntagssonne, umrahmt von glitzernden, tropfenden Eiszapfen.

Er widerstand dem Drang, direkt in den ersten Stock zu gehen und einen Blick auf die Aktbilder zu werfen, die Odd Bunsen empfohlen hatte, doch er spazierte in die Garderobe, um sich das süße Häschen anzusehen. Er fand ein langhaariges Mädchen mit einem verträumten Gesicht im Kampf mit den Kleiderbügeln vor.

Sie warf einen Blick auf seinen Schnurrbart und sagte: »Habe ich Sie nicht gestern nacht im Turp und Chisel gesehen?«
»Habe ich Sie nicht in einem rosa Negligé gesehen?«
»Wir haben einen Preis gewonnen – Tom LaBlanc und ich.«
»Ich weiß. Es war ein nettes Fest.«
»Echt cool. Ich dachte, es würde gräßlich werden.«
In der Vorhalle trat Qwilleran an einen Aufseher in Uniform, der den für Museumswärter typischen Gesichtsausdruck hatte – eine Mischung aus Argwohn, Mißbilligung und Grimmigkeit.
»Wo kann ich hier den Museumsdirektor finden?« fragte Qwilleran.
»Er ist normalerweise am Sonntag nicht da, aber ich habe ihn vor einer Minute durch die Halle gehen gesehen. Ist vielleicht zum Packen hergekommen. Er hört hier auf, wissen Sie.«
»Wie schade. Ich habe gehört, er soll gut gewesen sein.«
Der Aufseher schüttelte teilnahmsvoll den Kopf. »Politik! Und dieser Schmierfink bei der Zeitung da. Das war der Grund. Ich bin froh, daß ich beim Staat bin… Wenn Sie Mr. Farhar sprechen wollen, versuchen Sie es in seinem Büro – den Gang hinunter und dann links.«

Der Verwaltungstrakt des Museums war in sonntägliche Stille gehüllt. Außer Noel Farhar, dem Direktor – laut Namensschild an der Tür – war niemand da.

Qwilleran ging durch das leere Vorzimmer und kam in ein holzgetäfeltes Büro, das mit Kunstgegenständen geschmückt war. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er. »Mr. Farhar?«

Der Mann, der in einer Schreibtischschublade herumkramte, fuhr zurück, als hätte man ihn bei etwas Verbotenem erwischt. Einen zerbrechlicheren jungen Mann hatte Qwilleran nie gesehen. Doch obwohl Noel Farhar für einen Museumsdirektor viel zu jung schien, ließ ihn seine ungesunde Magerkeit zugleich gespenstisch alt wirken.

»Entschuldigen Sie, daß ich hier so einfach eindringe. Ich bin Jim Qwilleran vom Daily Fluxion.«
Es war nicht zu übersehen, daß Noel Farhar die Zähne zusammenbiß; ein Augenlid zuckte unkontrollierbar. »Was wollen Sie?« fragte er.
Liebenswürdig sagte Qwilleran: »Ich wollte mich nur vorstellen. Ich bin neu im Kunstressort und versuche, mich damit vertraut zu machen.« Er hielt ihm die Hand hin, die zögernd von der zitternden Hand Farhars ergriffen wurde.
»Wenn sie Sie eingestellt haben, um die Sache wieder gutzumachen«, sagte der Direktor kalt, »dann ist es zu spät. Der Schaden ist bereits angerichtet.«
»Ich fürchte, ich verstehe nicht. Ich bin neu in dieser Stadt.«
»Setzen Sie sich, Mr. Qwilleran.« Farhar verschränkte die Arme und blieb stehen. »Ich nehme an, Sie wissen, daß das Museum gerade einen Zuschuß von einer Million Dollar verloren hat.«
»Ich habe davon gehört.«
»Der Zuschuß hätte uns den Anreiz und das nötige Prestige für weitere fünf Millionen von privaten Spendern und der Industrie verliehen. Damit hätten wir die beste Sammlung mexikanischer Kunst aus der Zeit vor der spanischen Eroberung im ganzen Land bekommen, und auch einen neuen Trakt dafür, aber Ihre Zeitung hat das gesamte Programm untergraben. Ihr Kritiker hat mit seinen ständigen Störaktionen und seinem Spott dieses Museum in ein so unvorteilhaftes Licht gerückt, daß die Stiftung uns von ihrer Liste strich.« Obwohl er sichtlich zitterte, sprach Farhar sehr eindringlich. »Es erübrigt sich zu sagen, daß dieser Fehlschlag – und Mountclemens persönliche Angriffe auf meine Leitung – mich gezwungen haben, meinen Rücktritt anzubieten.«
Qwilleran murmelte: »Das ist eine ernste Anschuldigung.«
»Es ist unglaublich, daß ein einziger Mensch, der keine Ahnung von Kunst hat, das kulturelle Klima der Stadt so verseuchen kann. Aber man kann nichts dagegen unternehmen. Ich verschwende meine Zeit, wenn ich mit Ihnen spreche. Ich habe an Ihren Herausgeber geschrieben und verlangt, daß man diesen Mountclemens stoppt, bevor er unser kulturelles Erbe zerstört.« Farhar wandte sich wieder seinen Akten zu. »Und jetzt habe ich zu arbeiten – ein paar Papiere vorzubereiten…«
»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte Qwilleran. »Tut mir sehr leid wegen dieser ganzen Sache. Da ich die Fakten nicht kenne, kann ich dazu nichts…«
»Ich habe Ihnen die Fakten gesagt.« Farhars Tonfall setzte dem Interview ein Ende.
Qwilleran wanderte durch einige Stockwerke des Museums, doch in Gedanken war er nicht bei den Renoirs und Canalettos. Weder die toltekische noch die aztekische Kultur konnte seine Aufmerksamkeit fesseln. Nur die historischen Waffen weckten seine Begeisterung – Dolche für Linkshänder, deutsche Jagdmesser, Morgensterne, spanische Stilette und Rapiere, italienische Dolche. Und immer wieder kehrten seine Gedanken zu dem Kunstkritiker zurück, den jeder haßte.

Am nächsten Tag war Qwilleran zeitig an seinem Arbeitsplatz beim Fluxion. In der Nachschlagebibliothek im zweiten Stock bat er um den Ordner mit Mountclemens Rezensionen.

»Hier ist er«, sagte der Bibliothekar mit einem kleinen Zwinkern, »und wenn Sie damit fertig sind, der Erste-Hilfe-Raum ist im vierten Stock – falls Sie ein Beruhigungsmittel brauchen.«

Qwilleran überflog die Kunstkritiken von zwölf Monaten. Er fand die ätzende Beurteilung von Cal Halapays lockigen Kindern ›Kaufhauskunst‹ und die grausamen Worte über Onkel Waldos primitive Malerei ›Alter ist kein Ersatz für Talent‹. Eine Kolumne befaßte sich mit privaten Kunstsammlern – Namen wurden nicht genannt –, denen weniger an der Erhaltung der Kunst als an der Vermeidung von Steuern lag.

Mountclemens fand harte Worte für Butchy Boltons lebensgroße Metallskulpturen des menschlichen Körpers – sie erinnerten ihn an die Rüstungen, die in ländlichen High-SchoolAufführungen von MacBeth getragen wurden. Er beklagte die Massenproduktion von drittklassigen Künstlern in der Penniman School, deren Fließbänder einer Detroiter Autofabrik zur Ehre gereichen würden.

Er gratulierte den kleinen Vorstadt-Galerien zu ihrer Rolle als gesellschaftliche Zentren, die man anstelle des Bridgeclubs oder des Nähkränzchens am Nachmittag besuchen konnte, obwohl er ihren Wert als Stätten der Kunst bezweifelte. Und er zog über das Museum her: über die Museumspolitik, die Dauerausstellung, den Direktor und die Farbe der Uniform der Aufseher. Zwischen diesen Tiraden kamen jedoch immer wieder begeisterte Besprechungen bestimmter Künstler – besonders von Zoe Lambreth –, doch der Jargon überstieg Qwillerans Horizont. ›Die Komplexität der eloquenten Dynamik in der organischen Struktur… subjektive innere Impulse finden in affektiver Transformation ihren Ausdruck‹.

Eine Kolumne hatte überhaupt nichts mit Malerei oder Bildhauerei zu tun, sondern befaßte sich mit Katzen ›Felis domestica‹ als Kunstwerke.

Qwilleran brachte den Ordner in die Bibliothek zurück und suchte eine Adresse aus dem Telefonbuch. Er wollte herausfinden, warum Mountclemens Zoe Lambreths Arbeit für so gut hielt – und warum Cal Halapay sie für so schlecht hielt.

Die Lambreth Gallery befand sich am Rand des Finanzviertels, in einem alten Lagerhaus, das neben den nahen Bürotürmen winzig wirkte. Die Galerie machte einen exquisiten Eindruck. Goldene Lettern über der Tür, und im Schaufenster nur zwei Bilder, aber dreißig Meter grauer Samt.

Eines der Gemälde im Fenster war marineblau, mit schwarzen Dreiecken gesprenkelt. Das andere war eine mysteriöse Soße aus dick aufgetragenen Farben, in müden Braun- und Purpurtönen gehalten. Dennoch schien ein Bild daraus aufzusteigen, und Qwilleran hatte das Gefühl, als blicke aus den Tiefen ein Augenpaar auf ihn. Während er es betrachtete, wechselte der Ausdruck dieser Augen – der unschuldige Blick wurde wissend und dann wild.

Er öffnete die Tür, faßte Mut und trat ein. Die Galerie war lang und schmal und wie ein Wohnzimmer in kompromißlos modernem Stil – ziemlich prächtig – eingerichtet. Auf einer Staffelei erblickte Qwilleran ein weiteres Arrangement von Dreiecken – grau auf weißem Hintergrund –, das er dem anderen im Schaufenster vorzog. Signiert war es mit ›Scrano‹. Auf einem Postament stand das Knie eines Abflußrohres, gespickt mit Fahrradspeichen. Es hieß ›Ding Nr. 17‹.

Bei seinem Eintreten hatte irgendwo eine Glocke geläutet, und jetzt hörte Qwilleran Schritte auf den Stufen der Wendeltreppe am hinteren Ende der Galerie. Die weiß gestrichene Eisenkonstruktion sah aus wie eine riesige Skulptur. Qwilleran sah zuerst Füße, dann schmale Hosenbeine, und dann den energischen, formellen, ja herablassenden Inhaber der Galerie. Es fiel ihm schwer, sich Earl Lambreth als Ehemann der warmen, fraulichen Zoe vorzustellen. Der Mann schien einiges älter als seine Frau zu sein, und er war übertrieben geschniegelt.

Qwilleran sagte: »Ich bin der neue Kulturberichterstatter des Daily Fluxion. Mrs. Lambreth hat mich eingeladen, die Galerie zu besuchen.«

Der Mann setzte zu etwas an, das ein Lächeln werden sollte, jedoch als unangenehme Manieriertheit endete: Er biß mit den Zähnen in die Unterlippe. »Mrs. Lambreth hat von Ihnen gesprochen«, sagte er, »und ich nehme an, Mountclemens hat Ihnen gesagt, daß dies die führende Galerie in der Stadt ist. Im Grunde ist es die einzige Galerie, die diesen Namen verdient.«

»Ich habe Mountclemens noch nicht kennengelernt, aber wie ich höre, hält er sehr viel von der Arbeit Ihrer Frau. Ich würde gerne ein paar Bilder von ihr sehen.«

Der Kunsthändler stand steif da, die Hände hinter dem Rücken, und wies mit einer Kopfbewegung auf ein braunes Rechteck an der Wand. »Das ist eines von Mrs. Lambreths letzten Gemälden. Es zeigt die kraftvolle Intensität der Pinselführung, die für sie bezeichnend ist.«

Qwilleran betrachtete das Bild und schwieg vorsichtshalber. Die Oberfläche des Gemäldes erinnerte in ihrer Beschaffenheit an einen dick glasierten Schokoladenkuchen, und er leckte sich, ohne es zu merken, mit der Zunge über die Lippen. Doch er war sich – wieder – eines Augenpaares irgendwo in diesen Farbwirbeln bewußt. Allmählich entstand das Gesicht einer Frau.

»Sie verwendet sehr viel Farbe«, stellte Qwilleran fest. »Muß lange dauern, bis es trocknet.«
Der Kunsthändler nagte wieder an seiner Unterlippe und sagte: »Mrs. Lambreth nimmt Pigmentfarben, um den Betrachter in ihren Bann zu ziehen und ihn sinnlich zu umgarnen, bevor sie zum Thema kommt. Sie entzieht sich immer der direkten Aussage, bleibt unbestimmt – und zwingt so ihr Publikum, aktiv an der Interpretation zu partizipieren.«
Qwilleran nickte unverbindlich.
»Sie ist eine große Humanistin«, fuhr Lambreth fort. »Leider haben wir zur Zeit nur sehr wenige Bilder von ihr hier. Sie hält im Moment alles für ihre Ausstellung im März zurück. Eines ihrer klarsten und diszipliniertesten Werke haben Sie jedoch im Schaufenster gesehen.«
Qwilleran erinnerte sich an die farbverhangenen Augen, die er gesehen hatte, bevor er die Galerie betreten hatte – Augen voller Geheimnis und Bosheit. Er sagte: »Malt sie immer solche Frauen?«
Eine Schulter Lambreths zuckte. »Mrs. Lambreth malt niemals nach einem bestimmten Schema. Sie ist eine äußerst vielseitige und phantasievolle Künstlerin. Und das Gemälde im Schaufenster soll keine menschlichen Assoziationen wecken. Es ist die Studie einer Katze.«
»Oh«, sagte Qwilleran.
»Interessieren Sie sich für Scrano? Er ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Künstler. Sie haben eines seiner Bilder im Schaufenster gesehen. Hier ist noch eines auf der Staffelei.«
Qwilleran sah mit zusammengekniffenen Augen auf die grauen Dreiecke auf weißem Hintergrund. Die weiße Fläche war feinkörnig und glatt, mit fast metallischem Glanz; die Dreiecke waren rauh.
Der Reporter meinte: »Er scheint auf Dreiecke fixiert zu sein. Würde man das hier verkehrt herum aufhängen, hätte man drei Segelboote im Nebel.«
Lambreth sagte: »Der Symbolismus sollte doch wohl offensichtlich sein. In seinen hartkantigen Bildern drückt Scrano in verknappter Form das essentiell wollüstige, polygame Wesen des Menschen aus. Das Gemälde im Schaufenster ist eindeutig inzestuös.«
»Nun, ich glaube, das gibt meiner Theorie den Rest«, sagte Qwilleran. »Ich hoffte schon, ich hätte ein paar Segelboote entdeckt. Was sagt Mountclemens zu Scarno?«
»S-c-r-a-n-o«, verbesserte ihn Lambreth. »In Scranos Arbeit findet Mountclemens eine intellektuelle Virilität, welche die profaneren Überlegungen künstlerischen Ausdrucks übersteigt und sich auf die Reinheit des Konzepts und die Veredelung des Mediums konzentriert.«
»Ziemlich teuer, nehme ich an.«
»Für einen Scrano bezahlt man gewöhnlich fünfstellige Summen.«
»Alle Achtung!« sagte Qwilleran. »Und wie ist das mit den anderen Künstlern hier?«
»Sie erzielen weit niedrigere Preise.«
»Ich sehe hier nirgends Preisschilder.«
Lambreth rückte ein oder zwei Bilder zurecht. »In einer Galerie dieser Güte erwartet man kaum Preisschilder wie in einem Supermarkt. Für unsere großen Ausstellungen drucken wir einen Katalog. Was Sie heute hier sehen, ist nur eine zwanglose Präsentation unserer eigenen Gruppe von Künstlern.«
»Ich war überrascht, daß Sie im Finanzviertel angesiedelt sind«, sagte Qwilleran.
»Unsere gewieftesten Sammler sind Geschäftsleute.«

Qwilleran machte einen Rundgang durch die Galerie und enthielt sich jeglichen Kommentars. Viele der Bilder zeigten Spritzer und Kleckse in schreienden, explodierenden Farben. Einige bestanden nur aus gewellten Streifen. Auf einem Bild von etwa zweimal zweieinhalb Metern war ein überdimensionaler offener roter Schlund dargestellt, und Qwilleran zuckte instinktiv zurück. Auf einem Podest stand eine eiförmige Metallskulptur mit dem Titel ›Ohne Titel‹. Einige langgezogene Gebilde aus rotem Ton erinnerten an Heuschrecken, doch gewisse Ausbuchtungen überzeugten Qwilleran, daß er unterernährte Menschen vor sich hatte. Zwei Arbeiten aus Altmetall waren als ›Ding Nr. 14‹ und ›Ding Nr. 20‹ gekennzeichnet.

Die Möbel gefielen Qwilleran besser: weiche Schalensessel, Sofas, die auf zierlichen Chromsockeln schwebten, und niedrige Tische mit Marmorplatten.

Er sagte: »Haben Sie Bilder von Cal Halapay?«

Lambreth krümmte sich. »Sie müssen scherzen. Wir sind nicht diese Art von Galerie.«
»Ich dachte, Halapays Zeug wäre sehr erfolgreich?«
»Es läßt sich leicht an Leute verkaufen, die keinen Geschmack haben«, sagte der Kunsthändler, »aber in Wirklichkeit ist Halapays Zeug – wie Sie es so treffend nennen – nichts als Kommerzware, die anmaßenderweise in einen Rahmen montiert wird. Vom künstlerischen Standpunkt völlig wertlos. Der Mann täte dem Publikum einen Gefallen, wenn er auf seinen künstlerischen Anspruch verzichten und sich auf das konzentrieren würde, worauf er sich so gut versteht – Geld machen. Ich habe nichts gegen Hobbymaler, die den Sonntagnachmittag glücklich und zufrieden vor ihrer Staffelei verbringen wollen, aber sie sollen sich nicht als Künstler aufspielen und den allgemeinen Geschmack verderben.«
Qwilleran wandte seine Aufmerksamkeit der Wendeltreppe zu. »Haben Sie oben noch eine Galerie?«
»Nur mein Büro und die Rahmenwerkstatt. Wollen Sie die Werkstatt sehen? Das interessiert Sie vielleicht mehr als die Bilder und Skulpturen.«
Lambreth ging voran, vorbei an einem Lagerraum, wo Bilder in senkrechten Schlitzen aufbewahrt wurden, und die Treppe hinauf. In der Rahmenwerkstatt stand eine Werkbank, auf der ein totales Durcheinander herrschte; der Geruch nach Klebstoff oder Lack war durchdringend.
»Wer macht Ihre Rahmen?« fragte Qwilleran.
»Ein sehr talentierter Handwerker. Wir bieten die beste Ausführung und die größte Auswahl an Leisten in der ganzen Stadt.« Lambreth, der noch immer stocksteif mit den Händen auf dem Rücken dastand, wies auf eine Leiste auf der Werkbank. »Ein Laufmeter von dieser hier kostet etwa einhundertfünf Dollar.«
Qwillerans Blick wanderte zu einem unordentlichen Büroraum, der an die Werkstatt angrenzte. Er starrte auf das Bild einer Tänzerin, das schief an der Wand hing. Es zeigte eine Ballerina in einem hauchdünnen blauen Kostüm mitten in der Bewegung vor einem Hintergrund aus grünem Blattwerk.
»Also, da ist mal etwas, das ich verstehen kann«, sagte er. »Das gefällt mir wirklich.«
»Und das sollte es auch! Es ist ein Ghirotto, wie Sie an der Signatur sehen können.«
Qwilleran war beeindruckt. »Ich habe gestern im Museum einen Ghirotto gesehen. Das muß ein wertvolles Kunstwerk sein.«
»Es wäre wertvoll – wenn es vollständig wäre.«
»Sie meinen, es ist unvollendet?«
Lambreth sog ungeduldig den Atem ein. »Das ist nur die Hälfte der ursprünglichen Leinwand. Das Gemälde wurde beschädigt. Ich fürchte, einen Ghirotto in gutem Zustand könnte ich mir nicht leisten.«
Dann entdeckte Qwilleran eine Pinnwand mit Zeitungsausschnitten. Er sagte: »Ich sehe, der Daily Fluxion bringt ganz schön viel über Sie.«
»Sie haben eine ausgezeichnete Kunstkolumne«, sagte der Kunsthändler. »Mountclemens weiß mehr über Kunst als irgend jemand sonst in dieser Stadt – einschließlich der selbsternannten Experten. Und er ist integer – absolut integer.«
»Hmm«, sagte Qwilleran.
»Sie werden zweifellos hören, wie von allen Seiten über Mountclemens hergezogen wird – weil er die Schaumschläger entlarvt und das Geschmacksniveau hebt. Erst kürzlich hat er der Stadt einen großen Dienst erwiesen, indem er Farhar aus dem Museum vertrieb. Eine neue Leitung wird diese sterbende Institution wiederbeleben.«
»Aber hat das Museum nicht gleichzeitig einen saftigen Zuschuß verloren?«
Lambreth winkte ab. »Im nächsten Jahr werden wieder Zuschüsse verteilt, und bis dahin wird das Museum ihn verdienen.«
Zum ersten Mal bemerkte Qwilleran die Hände des Kunsthändlers. Die schmutzigen Nägel paßten in keiner Weise zu seiner eleganten Kleidung. Der Journalist sagte: »Mountclemens hält viel von Mrs. Lambreths Arbeit, habe ich bemerkt.«
»Er war immer sehr freundlich. Viele Leute glauben, daß er diese Galerie begünstigt, aber die Wahrheit ist: Wir betreuen nur die besten Künstler.«
»Dieser Typ, der die Dreiecke malt – ist er von hier? Vielleicht will ich mal ein Interview.«
Lambreth sah gequält drein. »Es ist ziemlich bekannt, daß Scrano Europäer ist. Er lebt seit vielen Jahren zurückgezogen in Italien. Aus politischen Gründen, glaube ich.«
»Wie haben Sie von ihm erfahren?«
»Mountclemens hat uns auf seine Arbeiten aufmerksam gemacht und den Kontakt zum amerikanischen Agenten des Künstlers vermittelt, wofür wir sehr dankbar sind. Wir haben die exklusive Vertretung für die Werke von Scrano im Mittleren Westen.« Er räusperte sich und sagte stolz: »Scranos Arbeit ist von einer intellektualisierten Virilität, einer transzendenten Reinheit…«
»Ich werde Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen«, sagte Qwilleran. »Es ist fast Mittag, und ich habe eine Verabredung zum Lunch.«
Als Qwilleran die Lambreth Gallery verließ, schwirrten allerhand Fragen in seinem Kopf herum: Wie konnte man gute Kunst von schlechter unterscheiden? Warum stießen Dreiecke auf Zustimmung und Segelboote auf Ablehnung? Wenn Mountclemens so gut war, wie Lambreth sagte, und wenn die Kunstszene in der Stadt so ungesund war, warum blieb Mountclemens in dieser undankbaren Umgebung? War er wirklich ein Missionar, wie Lambreth sagte? Oder ein Ungeheuer, wie alle anderen meinten?
Und dann tauchte noch ein Fragezeichen auf. Gab es überhaupt einen Mann namens George Bonifield Mountclemens?

Im Presseclub, wo er mit Arch Riker zu Mittag aß, sagte Qwilleran zum Barkeeper: »Kommt eigentlich der Kunstkritiker vom Fluxion jemals hierher?«

Bruno hielt beim Gläserputzen inne. »Ich wünschte, er käme einmal. Ich wüßte schon, was ich ihm in den Drink gäbe.«
»Warum? Haben Sie Grund zur Klage?«
»Nur einen«, sagte Bruno. »Er ist gegen die gesamte Menschheit.« Er lehnte sich vertraulich über die Bar. »Ich sage Ihnen, der will jeden Künstler in der Stadt fertigmachen. Schauen Sie sich an, was er dem armen alten Mann angetan hat, Onkel Waldo. Und Franz Buchwalter in der gestrigen Ausgabe! Die einzigen Künstler, die er mag, haben mit der Lambreth Gallery zu tun. Man könnte glauben, sie gehört ihm.«
»Es gibt Leute, die halten ihn für eine hochqualifizierte Autorität.«
»Es gibt Leute, die halten oben für unten.« Dann lächelte Bruno wissend. »Warten Sie nur, bis er sich auf Sie einschießt, Mr. Qwilleran. Sobald Mountclemens merkt, daß Sie in seinem Revier herumschnüffeln…« Der Barkeeper betätigte einen imaginären Abzug.
»Sie scheinen ja eine Menge über die Kunstszene hier in der Stadt zu wissen.«
»Klar. Ich bin selbst Künstler. Ich mache Collagen. Ich würde Ihnen gerne mal meine Sachen zeigen und Ihre ehrliche Meinung darüber hören.«
»Ich habe diesen Job jetzt ganze zwei Tage«, antwortete Qwilleran. »Ich weiß nicht einmal, was eine Collage ist.«
Bruno bedachte ihn mit einem gönnerhaften Lächeln. »Das ist eine Kunstform. Ich löse die Etiketten von Whiskyflaschen, zerschneide sie in kleine Stückchen und klebe sie so auf, daß Porträts von Präsidenten entstehen. Zur Zeit arbeite ich an van Buren. Das gäbe eine tolle Ausstellung.« Seine Miene wurde kumpelhaft. »Vielleicht könnten Sie mir bei der Suche nach einer Galerie helfen. Glauben Sie nicht, daß Sie so ’n bißchen Ihren Einfluß spielen lassen könnten?«
Qwilleran sagte: »Ich weiß nicht, wie bereit das Publikum für Präsidentenporträts aus Whiskyetiketten ist, aber ich werde mich erkundigen… Wie wär’s jetzt mit dem üblichen – mit Eis?«
»Irgendwann kriegen Sie noch Hautausschlag von dem vielen Tomatensaft.«

Als Arch Riker in die Bar kam, kaute der Journalist an seinem Schnurrbart herum. Arch fragte: »Wie ist es heute morgen gelaufen?«

»Gut«, sagte Qwilleran. »Zuerst war ich ein bißchen verwirrt von dem Unterschied zwischen guter Kunst und schlechter Kunst; jetzt bin ich komplett verwirrt.« Er nahm einen Schluck Tomatensaft. »Aber im Hinblick auf George Bonifield Mountclemens III. bin ich zu einem Schluß gekommen.«

»Laß hören.«
»Er ist ein Schwindel.«
»Was meinst du?«
»Er existiert nicht. Er ist eine Legende, eine Erfindung, eine

Idee, ein künstliches Wesen, der Traum eines jeden Verlages.«

Arch sagte: »Und wer, glaubst du, schreibt all die Artikel, die wir unter seinem vielsilbigen Namen drucken?«
»Ein paar Ghostwriter. Ein Dreiergespann. Vielleicht ein Mr. George, ein Mr. Bonifield und ein Mr. Mountclemens. Kein einzelner Mensch könnte soviel Ärger machen, oder solchen Haß auf sich ziehen, oder so ein widersprüchliches Image haben.«
»Du hast bloß keine Ahnung von Kritikern, das ist alles. Du bist Bullen und Gangster gewöhnt.«
»Ich habe noch eine andere Theorie, wenn du mir meine erste nicht abnimmst.«
»Und wie lautet die?«
»Es ist ein Phänomen des Elektronikzeitalters. Die Kunstkolumne wird von ein paar Computern in Rochester, New York, verfaßt.«
»Was hat dir Bruno in den Tomatensaft getan?« fragte Arch.
»Also, etwas kann ich dir sagen: Ich werde an George Bonifield Mountclemens erst glauben, wenn ich ihn sehe.«
»Schön. Wie ist es mit morgen oder Mittwoch? Er war verreist, aber jetzt ist er wieder da. Wir werden einen Termin für dich vereinbaren.«
»Sagen wir, zum Lunch – hier. Wir können im ersten Stock essen – an einem Tisch mit Tischtuch.«
Arch schüttelte den Kopf. »Er wird nicht in den Presseclub kommen. Er kommt niemals in die Innenstadt. Du wirst vielleicht in seine Wohnung fahren müssen.«
»Okay, vereinbare etwas«, sagte Qwilleran, »und vielleicht befolge ich Brunos Rat und leihe mir eine kugelsichere Weste.«

5

Qwilleran verbrachte den Dienstagmorgen im Gebäude der Schulaufsichtsbehörde, wo er eine Ausstellung von Kinderzeichnungen besuchte. Er wollte einen zärtlich-humorvollen Artikel über die mit Buntstift gemalten Segelboote schreiben, die im Himmel schwebten, über die purpurnen Häuser mit grünen Schornsteinen, über die blauen Pferde, die wie Schafe aussahen, und über die Katzen – Katzen und immer wieder Katzen.

Nach seinem Ausflug in die unkomplizierte Welt der Kinderbilder kehrte Qwilleran in zufriedener, gelöster Stimmung in die Redaktion zurück. Als er in die Feuilletonabteilung kam, trat unnatürliche Stille ein. Die Schreibmaschinen hörten auf zu klappern. Über Fahnenabzüge gebeugte Köpfe hoben sich plötzlich. Sogar die grünen Telefone blieben ehrfürchtig stumm.

Arch sagte: »Wir haben Neuigkeiten für dich, Jim. Wir haben Mountclemens angerufen, um eine Verabredung für dich zu treffen, und er will, daß du morgen abend kommst. Zum Abendessen!«

»Wie bitte?«

»Haut dich das nicht um? Alle anderen sind fast vom Stuhl gekippt.«
»Ich sehe schon die Überschrift«, sagte Qwilleran. »›Kritiker serviert Reporter vergiftete Suppe.‹«
»Er soll ein phantastischer Koch sein«, sagte Arch. »Ein echter Gourmet. Wenn du Glück hast, hebt er sich das Arsen bis zum Nachtisch auf. Hier ist seine Adresse.«

Am Mittwochabend um sechs Uhr nahm Qwilleran ein Taxi zum Blenheim Place 26. Das war in einem alten Teil der Stadt, früher einmal eine elegante Wohngegend mit vornehmen Häusern. Die meisten davon waren jetzt billige Pensionen oder beherbergten merkwürdige Unternehmen. Es gab da zum Beispiel eine Reparaturwerkstatt für antikes Porzellan; Qwilleran nahm an, daß es ein Buchmacherladen war. Daneben befand sich ein altes Münzengeschäft, vermutlich als Tarnung für einen Rauschgiftring. Was die Erzeuger von burlesken Kostümen anlangte, hatte Qwilleran keinerlei Zweifel, um welches Gewerbe es sich dabei in Wirklichkeit handelte.

Und mittendrin hielt ein letztes stolzes, beherztes Stadthaus all dem stand. Es hatte das respektable Flair eines herrschaftlichen Wohnhauses. Es war schmal und hoch und von viktorianischer Förmlichkeit, selbst der dekorative Eisenzaun. Das war Nummer 26.

Qwilleran wich zwei Betrunkenen aus, die den Gehsteig hinunterwankten, und stieg die steinernen Stufen zu dem säulengeschmückten Eingang hinauf. Drei Postkästen wiesen darauf hin, daß das Haus in Einzelwohnungen aufgeteilt worden war.

Er glättete seinen Schnurrbart, der vor Neugier und Erwartung struppig abstand. Dann klingelte er. Mit einem Summton wurde die Eingangstür geöffnet, und er trat in einen Vorraum mit Fliesenboden. Vor ihm war noch eine Tür, ebenfalls versperrt – bis ein anderer Summton sie öffnete.

Qwilleran betrat eine prunkvolle, aber schwach beleuchtete Eingangshalle, deren Einrichtung ihn förmlich umschloß. Er fand sich umgeben von großen vergoldeten Bilderrahmen, Spiegeln, einer Skulptur, einem Tisch, der von goldenen Löwen getragen wurde, einer geschnitzten Bank, die wie ein Kirchenstuhl aussah. Ein roter Teppich bedeckte den Boden der Halle und die Treppe. Von oben sagte jemand mit einer feinen Schärfe in der Stimme: »Kommen Sie nur herauf, Mr. Qwilleran.«

Der Mann am Ende der Treppe war extrem groß, elegant und schlank. Mountclemens trug eine dunkelrote Samtjacke, und sein Gesicht wirkte auf den Journalisten irgendwie poetisch; vielleicht lag es an der Art, wie er sein dünnes Haar in die hohe Stirn gekämmt hatte. Der Duft von Limonenschalen umgab ihn.

»Ich muß mich für die zugbrückenartigen Vorkehrungen unten entschuldigen«, sagte der Kritiker. »In diesem Viertel geht man kein Risiko ein.«

Er gab Qwilleran die linke Hand und führte ihn in ein Wohnzimmer. Ein Zimmer wie dieses hatte der Reporter noch nie gesehen. Es war überladen und düster. Die einzige Beleuchtung kam von der lauen Glut im Kamin und von verborgenen Spots, die auf Kunstwerke gerichtet waren. Qwilleran sah Marmorbüsten, chinesische Vasen, viele vergoldete Bilderrahmen, einen bronzenen Krieger und ein paar vom Zahn der Zeit angenagte, holzgeschnitzte Engel. Eine Wand des hohen Raumes war mit einem Wandteppich mit den lebensgroßen Figuren mittelalterlicher Jungfrauen bedeckt. Über dem Kamin hing ein Bild, das jeder Kinobesucher als einen van Gogh erkannt hätte.

»Sie scheinen beeindruckt von meiner kleinen Sammlung, Mr. Qwilleran«, sagte der Kritiker, »oder entsetzt über meinen uneinheitlichen Geschmack… Kommen Sie, geben Sie mir Ihren Mantel.«

»Das ist ja ein kleines Museum«, sagte Qwilleran ehrfürchtig. »Das ist mein Leben, Mr. Qwilleran. Und ich gebe zu – ganz ohne Bescheidenheit –, daß es wirklich ein gewisses Ambiente hat.«

Kaum ein Zentimeter der dunkelroten Wand war frei. Der Kamin war von gutbestückten Bücherregalen flankiert. An anderen Wänden hingen die Bilder bis zur Decke.

Selbst auf dem roten Teppich, der eine ganz eigene Leuchtkraft besaß, standen dicht gedrängt riesige Fauteuils, Tische, Podeste, ein Schreibtisch und eine beleuchtete Vitrine mit kleinen Schnitzereien.

»Ich werde Ihnen einen Aperitif machen«, sagte Mountclemens, »und dann können Sie es sich in einem Lehnstuhl bequem machen und die Füße hochlegen. Ich vermeide es, vor dem Abendessen etwas Stärkeres als Sherry oder Dubonnet zu servieren, weil ich recht stolz auf meine Kochkünste bin, und ich ziehe es vor, Ihre Geschmacksnerven nicht zu betäuben.«

»Ich darf keinen Alkohol trinken«, sagte Qwilleran, »daher sind meine Geschmacksnerven in erstklassiger Verfassung.«
»Wie wäre es dann mit Bitter Lemon?«
Als Mountclemens gegangen war, fielen Qwilleran weitere Einzelheiten auf: ein Diktiergerät am Schreibtisch; Musik, die hinter einem orientalischen Wandschirm hervorklang; zwei weich gepolsterte Lehnstühle, die sich vor dem Kamin gegenüberstanden, und zwischen ihnen eine behäbige Ottomane. Er probierte einen der Lehnstühle aus und versank in der Polsterung. Er lehnte den Kopf zurück und legte die Füße auf die Ottomane; dabei empfand er ein fast unanständiges Gefühl der Behaglichkeit. Er hoffte beinahe, Mountclemens möge nie mit dem Bitter Lemon zurückkommen.
»Ist die Musik angenehm?« fragte der Kritiker und stellte ein Tablett neben Qwillerans Ellbogen. »Ich finde Debussy um diese Tageszeit beruhigend. Hier ist etwas Salzgebäck zu Ihrem Drink. Wie ich sehe, hat es Sie zum richtigen Sessel gezogen.«
»Dieser Sessel ist fast so gut wie Bewußtlosigkeit«, sagte Qwilleran. »Womit ist er überzogen? Es erinnert mich an ein Material, aus dem früher Hosen für Jungen gemacht wurden.«
»Es ist Cord aus Heidekraut«, sagte Mountclemens. »Ein wunderbares Gewebe, das die Wissenschaftler noch nicht entdeckt haben. Ihre Vorliebe für Materialien aus Kunststoff grenzt an Blasphemie.«
»Ich wohne in einem Hotel, wo alles aus Plastik ist. Ein alter Naturbursche wie ich kommt sich dort antiquiert vor.«
»Wenn Sie sich umsehen, werden Sie feststellen, daß ich die moderne Technik ignoriere.«
»Ich bin überrascht«, sagte Qwilleran. »In Ihren Rezensionen bevorzugen Sie die moderne Kunst, und hier ist alles…« Es fiel ihm kein Wort ein, das schmeichelhaft klang. »Ich muß Sie korrigieren«, sagte Mountclemens. Er wies mit einer großen Geste auf zwei Lamellentüren. »Dieser Schrank dort enthält ein kleines Vermögen an Kunst aus dem zwanzigsten Jahrhundert – bei idealen Bedingungen hinsichtlich Temperatur und Feuchtigkeit gelagert. Das sind meine Investitionen. Doch die Bilder, die Sie an der Wand sehen, sind meine Freunde. Ich glaube an die Kunst von heute als Ausdruck ihrer Zeit, aber ich habe mich dafür entschieden, in der milden Abgeklärtheit der Vergangenheit zu leben. Aus demselben Grund versuche ich, dieses schöne alte Haus zu erhalten.«
Wie Mountclemens so dasaß, in seiner Samtjacke, die langen, schmalen Füße in italienischen Schuhen und einen dunkelroten Aperitif in seinen langen weißen Fingern, wirkte er blasiert und selbstsicher, unangreifbar und unwirklich. Seine nasale Stimme, die Musik, der bequeme Sessel, die Wärme des Feuers und die Dunkelheit des Zimmers machten Qwilleran schläfrig. Er mußte etwas tun.
»Darf ich rauchen?« fragte er.
»Zigaretten sind in dem emaillierten Kästchen neben Ihrem Ellbogen.«
»Ich rauche Pfeife.« Qwilleran suchte seine Quarter-bent Bulldog, seinen Tabakbeutel und seine Streichhölzer und begann dann mit dem Ritual des Anzündens.
Als die Flamme seines Streichholzes in dem abgedunkelten Zimmer aufflackerte, fuhr sein Kopf zurück. Er starrte auf die Bücherregale. Er sah ein rotes Licht. Es war wie ein Signal. Nein, es waren zwei rote Lichter. Leuchtend rot – und sehr lebendig!
Qwilleran schnappte nach Luft. Sein Atem blies die Flamme aus, und die roten Leuchtpunkte verschwanden.
»Was war – das!« fragte er, als er sich gefangen hatte. »Irgend etwas zwischen den Büchern. Etwas…«
»Das war nur der Kater«, sagte Mountclemens. »Er ruht sich gerne hinter den Büchern aus. Die Regale sind ungewöhnlich tief, weil ich viele Kunstbände besitze, und so findet er dahinter ein ruhiges Plätzchen. Offenbar hat er sein Nachmittagsschläfchen hinter den Biographien gehalten. Er scheint eine Vorliebe für Biographien zu haben.«
»Ich habe noch nie eine Katze mit leuchtendroten Augen gesehen«, sagte Qwilleran.
»Das ist für Siamkatzen charakteristisch. Wenn man ihnen in die Augen leuchtet, werden sie rubinrot. Normalerweise sind sie blau – wie das Blau in dem van Gogh dort. Sie werden es sehen, wenn sich der Kater entschließt, uns mit seiner Anwesenheit zu beehren. Im Augenblick zieht er die Abgeschiedenheit vor. Er ist damit beschäftigt Sie mit seinen Sinnen wahrzunehmen. Er weiß bereits einiges über Sie.«
»Was weiß er denn?« Qwilleran wand sich in seinem Sessel.
»Er hat Sie jetzt beobachtet und weiß, daß Sie nicht der Typ sind, der laute Geräusche oder schnelle Bewegungen macht, und das ist ein Pluspunkt für Sie. Ebenso Ihre Pfeife. Er mag Pfeifen, und er wußte, daß Sie Pfeife rauchen, noch bevor Sie sie aus der Tasche zogen. Auch ist ihm bewußt, daß Sie mit einer Zeitung zu tun haben.«
»Woher weiß er denn das?«
»Druckerschwärze. Für den Geruch von Druckerschwärze hat er eine gute Nase.«
»Sonst noch etwas?«
»Jetzt sendet er mir gerade eine Botschaft: Ich soll den ersten Gang servieren, sonst kriegt er sein eigenes Abendessen nicht vor Mitternacht.«
Mountclemens ging hinaus und kehrte mit einem Tablett mit heißen Pasteten zurück.
»Wenn Sie nichts dagegen haben, nehmen wir den ersten Gang im Wohnzimmer. Ich habe kein Personal, und Sie müssen verzeihen, wenn es etwas zwanglos zugeht.«
Die Kruste war flockig; die Füllung bestand aus einer zarten Soße mit Käse und Spinat. Qwilleran genoß jeden Bissen.
»Sie fragen sich vielleicht«, sagte der Kritiker, »weshalb ich es vorziehe, ohne Personal auszukommen. Ich habe eine krankhafte Angst, beraubt zu werden, und ich möchte nicht, daß Fremde in dieses Haus kommen und die Wertsachen, die ich hier aufbewahre, entdecken. Bitte seien Sie so gut und erwähnen Sie meine Sammlung in der Stadt nicht.«
»Gewiß – wenn Sie das wollen.«
»Ich kenne euch Zeitungsleute. Ihr seid Nachrichtenlieferanten aus Instinkt und aus Gewohnheit.«
»Sie meinen, wir sind ein Haufen Schwätzer«, sagte Qwilleran freundlich und genoß den letzten Bissen Käsesoße. Er war neugierig, was als nächstes kommen würde.
»Sagen wir einfach, daß sehr viele Informationen – richtige oder falsche – über die Tische des Presseclubs ausgetauscht werden. Trotzdem habe ich das Gefühl, ich kann Ihnen trauen.«
»Vielen Dank.«
»Wie schade, daß Sie keinen Wein trinken. Ich wollte diesen Anlaß mit einer Flasche Chateau Clos d’Estournel fünfundvierzig feiern. Das war ein vorzüglicher Jahrgang – sehr langsam gereift, sogar besser als der achtundzwanziger.«
»Machen Sie sie trotzdem auf«, sagte Qwilleran. »Ich werde Ihnen gerne beim Genießen zusehen. Ehrlich!«
Mountclemens Augen leuchteten. »Sie haben mich überredet. Und Ihnen werde ich ein Glas Catawba Traubensaft anbieten. Ich habe ihn seinetwegen im Haus.«
»Wegen wem?«
»Kao K’o-Kung.«
Qwilleran sah ihn verständnislos an.
»Das ist der Kater«, sagte Mountclemens. »Entschuldigen Sie, ich habe vergessen, daß Sie nicht formell vorgestellt wurden. Er liebt Traubensaft, besonders weißen. Und nur die beste Marke. Er ist ein Feinschmecker.«
»Er scheint ein besonderer Kater zu sein«, sagte Qwilleran.
»Ein bemerkenswertes Tier. Er hat eine Vorliebe für bestimmte Kunstperioden entwickelt, und obwohl ich mit seiner Wahl nicht übereinstimme, bewundere ich seine Unabhängigkeit. Er liest auch die Schlagzeilen in der Zeitung, wie Sie sehen werden, wenn die Spätausgabe geliefert wird. Und jetzt, denke ich, sind wir bereit für die Suppe.« Der Kritiker zog dunkelrote Samtvorhänge auf.
Der Duft von Hummer empfing Qwilleran in der Speisenische. Teller mit dicker, cremiger Suppe standen auf dem bloßen Tisch, der aussah, als sei er Hunderte Jahre alt. Dicke Kerzen brannten in eisernen Kerzenleuchtern.
Als er sich auf einen reich mit Schnitzereien verzierten, hochlehnigen Stuhl setzte, hörte er im Wohnzimmer einen dumpfen Laut, gefolgt von kehligem Gebrummel. Ein Dielenbrett knarrte, und eine helle Katze mit dunklem Gesicht und schrägen Augen spazierte in die Speisenische.
»Das ist Kao K’o-Kung«, sagte Mountclemens. »Er ist nach einem Künstler aus dem dreizehnten Jahrhundert benannt, und er hat selbst die Würde und Anmut der chinesischen Kunst.«
Kao K’o-Kung stand reglos da und schaute Qwilleran an. Qwilleran schaute Kao K’o-Kung an. Er sah eine lange, schlanke, muskulöse Katze mit weichem Fell und einem geradezu unerträglichen Maß an Selbstbewußtsein und Autorität.
Qwilleran sagte: »Wenn er jetzt denkt, was ich glaube, das er denkt, dann sollte ich lieber gehen.«
»Er nimmt Sie nur gerade mit all seinen Sinnen wahr«, sagte Mountclemens, »und er wirkt streng, wenn er sich konzentriert. Er nimmt seine Eindrücke mit Augen, Ohren, Nase und Barthaaren auf. Die Ergebnisse all dieser Untersuchungen werden an einen zentralen Punkt zur Auswertung und Synthese weitergeleitet, und je nachdem, wie das Urteil lautet, wird er Sie akzeptieren oder nicht.«
»Danke«, sagte Qwilleran.
»Er ist ein ziemlicher Einsiedler und mißtraut Fremden.«
Der Kater nahm sich Zeit, und als er mit der Betrachtung des Besuchers fertig war, sprang er ganz ruhig und ohne sichtbare Anstrengung senkrecht hinauf auf einen hohen Schrank.
»Na so was!« sagte Qwilleran. »Haben Sie das gesehen?«
Auf dem Schrank nahm Kao K’o-Kung eine gebieterische Haltung ein und beobachtete mit intelligenter Aufmerksamkeit die Szene unter sich.
»Ein Zweimetersprung ist für eine Siamkatze nichts Ungewöhnliches«, sagte Mountclemens. »Katzen haben viele Fähigkeiten, die den Menschen versagt sind, und dennoch neigen wir dazu, sie mit menschlichen Maßstäben zu messen. Um eine Katze zu verstehen, muß man sich darüber klar sein, daß sie ihre eigenen Talente hat, ihre eigene Sicht der Dinge, sogar ihre eigene Ethik. Daß eine Katze nicht sprechen kann, macht sie nicht zu einem niedrigeren Tier. Katzen verachten die Sprache. Warum sollten sie sprechen, wenn sie sich ohne Worte verständigen können? Sie schaffen das mit ihresgleichen sehr gut, und dem Menschen versuchen sie geduldig ihre Gedanken mitzuteilen. Doch um eine Katze verstehen zu können, muß man entspannt und aufnahmebereit sein.«
Der Kritiker war ernst und schulmeisterhaft.
»Meistens«, fuhr er fort, »greifen Katzen auf die Pantomime zurück, wenn sie mit Menschen zu tun haben. Kao K’o-Kung verwendet einen Code, der nicht schwer zu lernen ist. Er kratzt an Gegenständen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Er schnüffelt, um Mißtrauen anzuzeigen. Er reibt sich an den Knöcheln, wenn er Wünsche hat, und er zeigt die Zähne, um Mißbilligung auszudrücken. Er kann auch auf Katzenart jemandem eine lange Nase machen.«
»Das möchte ich gerne sehen.«
»Ganz einfach. Wenn eine Katze, ein Bild der Anmut und Schönheit, sich plötzlich hinfallen läßt und eine gräßliche Haltung einnimmt, das Gesicht verzieht und sich am Ohr kratzt, sagt sie einem damit: Guter Mann, scher dich zum Teufel!«

Mountclemens trug die Suppenteller hinaus und brachte eine Terrine mit Huhn in einer dunklen, geheimnisvollen Soße herein. Vom Schrank ertönte ein durchdringendes Geheul.

Qwilleran sagte: »Um diese Botschaft zu verstehen, braucht man keine Antenne.«
»Daß der menschliche Körper keine Antennen hat oder Fühler«, sagte der Kritiker, »halte ich für eine grobe Unterlassung, einen kosmischen Patzer sozusagen. Stellen Sie sich nur vor, was der Mensch mit ein paar einfachen Fühlern oder Tasthaaren im Hinblick auf Kommunikation und Vorhersagen hätte erreichen können! Was wir außersinnliche Wahrnehmung nennen, ist für eine Katze ganz normal. Sie weiß, was Sie denken, was Sie tun werden und wo Sie gewesen sind. Ich gäbe mit Vergnügen ein Auge und ein Ohr für ein paar gut funktionierende Schnurrhaare, wie die Katzen sie haben.«
Qwilleran legte die Gabel hin und wischte sich mit der Serviette sorgfältig den Schnurrbart ab. »Das ist sehr interessant« sagte er. Er hüstelte und beugte sich dann zu seinem Gastgeber »Wissen Sie was? Ich habe ein kosmisches Gefühl in bezug auf meinen Schnurrbart. Ich habe das noch niemandem gesagt aber seit ich mir diesen Oberlippenbart habe wachsen lassen, habe ich so ein seltsames Gefühl, daß mir alles – nun, irgendwie bewußter ist! Verstehen Sie, was ich meine?«
Mountclemens nickte aufmunternd.
»Und davon sollte man im Presseclub auch nichts erfahren«, sagte Qwilleran.
Mountclemens war einverstanden.
»Ich scheine die Dinge deutlicher wahrzunehmen«, sagte der Journalist.
Mountclemens verstand.
»Manchmal scheine ich zu spüren, was geschehen wird, und ich tauche zur richtigen Zeit am richtigen Ort auf. Es ist unheimlich.«
»Kao K’o-Kung macht dasselbe.«
Ein tiefes Grollen ertönte vom Schrank. Der Kater erhob sich, machte einen Katzenbuckel und streckte sich kräftig durch, gähnte ausgiebig und sprang gurrend mit einem weichen Plumps auf den Boden.
»Passen Sie auf«, sagte der Kritiker. »In drei oder vier Minuten wird es an der Tür läuten, und die Zeitung wird gebracht. Im Augenblick ist der Zeitungsjunge auf seinem Fahrrad ein paar Blocks von hier entfernt, aber Kao K’o-Kung weiß, daß er auf dem Weg hierher ist.«
Der Kater spazierte durch das Wohnzimmer und hinaus auf den Gang, wo er auf dem Treppenabsatz wartete. Nach ein paar Minuten läutete es. Mountclemens sagte zu Qwilleran: »Wären Sie so nett, die Zeitung von unten zu holen? Er liest sie gerne, solange die Nachrichten frisch sind. In der Zwischenzeit kümmere ich mich um den Salat.«
Der Kater wartete am oberen Ende der Treppe mit einem Ausdruck würdevollen Interesses, während der Reporter hinunterging, um die Zeitung zu holen, die in den Vorraum geworfen worden war. »Legen Sie die Zeitung auf den Boden«, wies ihn Mountclemens an, »und Kao K’o-Kung wird die Schlagzeilen lesen.«
Der Kater ging sehr gründlich vor. Seine Nase zuckte erwartungsvoll. Seine Schnurrhaare bewegten sich zweimal auf und ab. Dann neigte er den Kopf zu den Zweizoll-Lettern der Schlagzeile hinunter; er berührte jeden einzelnen Buchstaben mit der Nase und zeichnete die Worte nach: TSSAFEG RELLIK RERRI.
Qwilleran sagte: »Liest er immer von hinten nach vorne?«
»Er liest von rechts nach links«, sagte Mountclemens. »Übrigens, ich hoffe, Sie mögen Cäsar-Salat.«
Es war ein Salat, wie Männer ihn mögen, würzig und knusprig. Danach kam ein zartbitteres Schokoladendessert, das samtig auf der Zunge zerging, und Qwilleran fühlte sich wunderbarerweise im Einklang mit einer Welt, in der Kunstkritiker kochen konnten wie französische Küchenchefs und in der Katzen lesen konnten.
Später tranken sie im Wohnzimmer türkischen Kaffee aus kleinen Tassen, und Mountclemens sagte: »Wie gefällt Ihnen Ihr neues Milieu?«
»Ich lerne interessante Persönlichkeiten kennen.«
»Die Künstler in dieser Stadt haben mehr Persönlichkeit als Talent, muß ich leider sagen.«
»Aus diesem Cal Halapay werde ich nicht schlau.«
»Er ist ein Scharlatan«, sagte Mountclemens. »Seine Bilder gehören auf Reklame für Haarshampoo. Seine Frau ist sehr dekorativ, wenn sie den Mund hält, aber zu dieser Großtat ist sie leider nicht fähig. Dann hat er noch einen Hausburschen oder Protegé – oder wie immer man das barmherzigerweise nennen soll –, der die Unverschämtheit besitzt, im Alter von einundzwanzig Jahren eine Ausstellung zu verlangen, die eine Retrospektive seines Lebenswerks zeigt. Haben Sie noch andere Vertreter des bemerkenswerten Kunstlebens dieser Stadt kennengelernt?«
»Earl Lambreth. Er scheint…«
»Das ist ein bemitleidenswerter Fall. Absolut kein Talent aber er hofft, an den Schürzenzipfeln seiner Frau zu Ruhm zu gelangen. Seine einzige Leistung bestand darin, eine Künstlerin zu heiraten. Wie er eine so attraktive Frau für sich gewinnen konnte, übersteigt meine Vorstellungskraft.«
»Sie sieht wirklich gut aus«, pflichtete Qwilleran ihm bei.
»Und ist eine ausgezeichnete Künstlerin, obwohl sie lernen muß, sich besser zu verkaufen. Sie hat ein paar Studien von Kao K’o-Kung gemacht und seine ganze Rätselhaftigkeit, seinen Zauber, seine Bösartigkeit, seine Unabhängigkeit, seine Verspieltheit, seine Wildheit und seine Loyalität eingefangen – alles in einem Augenpaar.«
»Ich habe Mrs. Lambreth letztes Wochenende im Turp and Chisel kennengelernt. Dort war eine Veranstaltung…«
»Verkleiden sich diese alternden Kinder noch immer in verrückten Kostümen?«
»Es war ein Ball zum Valentinstag. Sie kamen alle als berühmte Liebespaare. Den ersten Preis hat eine Bildhauerin namens Butchy Bolton gewonnen. Kennen Sie sie?«
»Ja«, sagte der Kritiker, »und der gute Geschmack verbietet mir, mehr zu sagen. Ich nehme an, auch Madame Duxbury war dort, mit Zobeln und Gainsboroughs behängt.«
Qwilleran zog seine Pfeife hervor und ließ sich Zeit mit dem Anzünden. Dann spazierte Kao K’o-Kung aus der Küche herein, um sich bei seinem Putzritual nach dem Essen bewundern zu lassen. In eifriger Konzentration schleckte er sich mit seiner langen rosa Zunge kraftvoll über das Gesicht. Danach leckte er seine rechte Pfote gründlich ab und wusch damit sein rechtes Ohr. Dann wiederholte er die gleiche Prozedur mit der linken Pfote: einmal über die Schnurrhaare, einmal über den Backenknochen, zweimal über das Auge, einmal über die Stirn, einmal über das Ohr, einmal über den Hinterkopf.
Mountclemens sagte zu Qwilleran: »Sie dürfen sich geschmeichelt fühlen. Wenn sich eine Katze vor Ihnen putzt, gewährt sie Ihnen Zutritt zu ihrer Welt… Wo wollen Sie wohnen?«
»Ich möchte mir so bald wie möglich eine möblierte Wohnung suchen – egal was, nur weg von diesem Plastikhotel.«
»Ich habe unten etwas frei«, sagte Mountclemens. »Klein, aber ausreichend – und ziemlich gut eingerichtet. Die Wohnung hat einen Gaskamin und ein paar meiner zweitbesten Impressionisten. Die Miete wäre sehr niedrig. Mir geht es in erster Linie darum, daß das Haus bewohnt ist.«
»Klingt gut«, sagte Qwilleran aus den Tiefen seines Lehnsessels, noch immer eingelullt von der Erinnerung an den CäsarSalat und die Hummersuppe.
»Ich reise sehr viel, besuche Ausstellungen und fungiere als Sachverständiger bei Preisverleihungen, und in diesem zwielichtigen Viertel ist es von Vorteil, wenn aus der vorderen Wohnung im Erdgeschoß Lebenszeichen dringen.«
»Ich würde sie mir gerne ansehen.«
»Ungeachtet aller Gerüchte, die mich als Ungeheuer hinstellen«, sagte Mountclemens in seinem liebenswürdigsten Tonfall, »werden Sie sehen, daß ich kein schlechter Hausherr bin. Ein Kritiker wird von allen gehaßt, wissen Sie, und ich kann mir vorstellen, daß die Schwätzer mich als eine Art kultivierten Beelzebub mit künstlerischen Ambitionen beschrieben haben. Ich habe nur wenige Freunde und – Gott sei Dank – keine Verwandten, mit Ausnahme einer Schwester in Milwaukee, die sich weigert, mich zu verleugnen. Ich lebe ziemlich zurückgezogen.«
Qwilleran machte eine verständnisvolle Geste mit seiner Pfeife.
»Ein Kritiker kann es sich nicht leisten, gesellschaftlich mit Künstlern zu verkehren«, fuhr Mountclemens fort, »und wenn man für sich bleibt, fordert man Eifersucht und Haß heraus. All meine Freunde sind hier in diesem Zimmer, und an etwas anderem liegt mir nicht. Mein einziger Ehrgeiz ist es, Kunstwerke zu besitzen. Ich bin niemals zufrieden. Ich zeige Ihnen meine letzte Errungenschaft. Wußten Sie, daß Renoir zu einem bestimmten Zeitpunkt in seiner Laufbahn Rouleaus bemalt hat?« Der Kritiker beugte sich vor und senkte die Stimme; sein Gesicht leuchtete seltsam verzückt. »Ich habe zwei Rouleaus, die Renoir bemalt hat.«
Kao K’o-Kung stieß einen schrillen Schrei aus; er saß aufrecht und kompakt da und starrte ins Feuer. Es war ein siamesischer Kommentar, den Qwilleran nicht übersetzen konnte. Am ehesten klang er nach einer unheilverkündenden Prophezeiung.

6

Am Donnerstag brachte der Daily Fluxion Qwillerans ersten Beitrag über einen Künstler. Er befaßte sich mit Onkel Waldo, dem ältlichen Künstler, der primitive Bilder von Tieren malte. Qwilleran hatte sorgfältig jeden Kommentar hinsichtlich des künstlerischen Talents des Alten vermieden und konzentrierte sich in seiner Story eher auf die persönliche Philosophie des Fleischhauers, der sein Leben damit zugebracht hatte, Hausfrauen der unteren Mittelschicht den Sonntagsbraten zu verkaufen.

Das Erscheinen des Artikels ließ das Interesse für Onkel Waldos Gemälde wieder aufleben, und am Freitag verkaufte die unbedeutende Galerie, die seine Werke betreute, all ihre verstaubten Bilder von Rindern und wolligen Schafen, und man drängte den alten Mann, wieder zu malen anzufangen. Es trafen Leserbriefe ein, in denen Qwillerans Behandlung des Themas gelobt wurde. Und Onkel Waldos Enkel, der Lastwagenfahrer, kam mit einem Geschenk für Qwilleran in die Redaktion des Daily Fluxion – zehn Pfund hausgemachter Wurst, die der pensionierte Fleischhauer im Souterrain hergestellt hatte.

Am Freitagabend erregte Qwilleran dann im Presseclub selbst einiges Aufsehen, als er Knackwürste verteilte. Er traf Arch Riker und Odd Bunsen an der Bar und bestellte den üblichen Tomatensaft.

Arch sagte: »Du mußt ja geradezu ein Kenner von diesem Zeug sein.«
Qwilleran schwenkte das Glas unter der Nase und prüfte nachdenklich das ›Bouquet‹. »Ein anspruchsloser Jahrgang«, sagte er. »Nichts Bemerkenswertes, aber er hat einen naiven Charme. Leider wird das Bouquet überdeckt vom Rauch von Mr. Bunsens Zigarre. Ich würde meinen, die Tomaten stammen aus…« er nippte am Glas und ließ den Schluck über die Zunge rollen »aus dem nördlichen Illinois. Offenbar von einem Tomatenfeld in der Nähe eines Bewässerungsgrabens, das die Morgensonne aus dem Osten und die Nachmittagssonne aus dem Westen bekam.« Er nahm noch einen Schluck. »Mein Gaumen sagt mir, daß die Tomaten früh am Tag gepflückt wurden – an einem Dienstag oder Mittwoch –, und zwar von einem Landarbeiter, der eine Wunde an der Hand hatte. Im Nachgeschmack klingt ein Hauch von Jod durch.«
»Du bist gut gelaunt«, meinte Arch.
»Stimmt«, sagte Qwilleran. »Ich ziehe aus dem Plastikpalast aus. Ich miete eine Wohnung bei Mountclemens.«
Arch knallte vor Überraschung sein Glas auf den Tisch, und Odd Bunsen verschluckte sich am Zigarrenrauch.
»Eine möblierte Wohnung im Erdgeschoß. Sehr gemütlich. Und sie kostet nur fünfzig Dollar im Monat.«
»Fünfzig! Wo ist der Haken?« fragte Odd.
»Da ist kein Haken. Er will nur nicht, daß das Haus leer steht, wenn er verreist.«
»Es muß einen Haken geben«, beharrte Odd. »Der alte Monty ist viel zu knauserig, um etwas zu verschenken. Sind Sie sicher, daß er nicht von Ihnen erwartet, daß Sie den Katzensitter spielen, wenn er weg ist?«
Arch sagte: »Odd hat recht. Wenn unser Bote die Bänder von ihm abholt, trägt ihm Mountclemens alle möglichen persönlichen Handlangerdienste an, und er gibt dem Jungen niemals ein Trinkgeld. Stimmt es, daß er das ganze Haus voller wertvoller Kunstwerke hat?«
Qwilleran trank einen Schluck Tomatensaft. »Er hat eine Menge Zeug herumliegen, aber wer kann schon sagen, ob es was wert ist?« Er unterließ es, den van Gogh zu erwähnen. »Die große Attraktion ist der Kater. Er hat einen chinesischen Namen – hört sich an wie Koko. Mountclemens sagt, Katzen haben es gern, wenn Silben wiederholt werden, wenn man sie anspricht, und ihre Ohren sind besonders empfänglich für Palatale und Velarlaute.«
»Irgend jemand spinnt hier«, sagte Odd.
»Es ist ein Siamkater, und er hat eine Stimme wie eine Polizeisirene. Wißt ihr etwas über Siamkatzen? Das ist eine Rasse von Superkatzen – sehr intelligent. Dieser Kater kann lesen.«
»Lesen!«
»Er liest die Schlagzeilen von Zeitungen, aber sie müssen frisch aus der Presse kommen.«
»Was hält dieser Superkater von meinen Fotos?« fragte Odd.
»Es ist fraglich, ob Katzen bildliche Darstellungen erkennen können, sagt Mountclemens, aber er glaubt, eine Katze kann den Inhalt eines Bildes spüren. Koko zieht die moderne Kunst den alten Meistern vor. Meine Theorie ist, daß die frischere Farbe seinen Geruchssinn erreicht. Genau wie frische Druckerschwärze.«
»Wie ist das Haus?« fragte Arch.
»Alt. Heruntergekommenes Viertel. Aber für Mountclemens ist sein Haus ein Heiligtum. Rundherum reißen sie alles ab, aber er sagt, er gibt sein Haus nicht auf. Es ist sehr beeindruckend. Kronleuchter, schön gearbeitetes Holz, hohe Decken – alle stuckverziert.«
»Staubfänger«, sagte Odd.
»Mountclemens wohnt im ersten Stock, und das Erdgeschoß ist in zwei Wohnungen aufgeteilt. Ich nehme die vordere. Die hintere steht auch leer. Es ist schön ruhig dort, außer, wenn die Katze schreit.«
»Wie war das Essen am Mittwochabend?«
»Wenn man Mountclemens’ Essen kostet, verzeiht man ihm, daß er redet wie eine Figur aus einem Stück von Noel Coward. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er mit seiner Behinderung solche Speisen zaubert.«
»Du meinst seine Hand?«
»Ja. Was hat er?«
»Er trägt eine Prothese«, sagte Arch.
»Im Ernst? Sie sieht ganz echt aus, nur ein bißchen steif.«
»Das ist der Grund, warum er seine Kolumne auf Band spricht. Er kann nicht maschineschreiben.«
Qwilleran dachte ein Weilchen darüber nach. Dann sagte er: »Irgendwie tut mir Mountclemens leid. Er lebt wie ein Einsiedler. Er findet, Kritiker sollten nicht mit Künstlern verkehren, und dabei gilt sein ganzes Interesse der Kunst – der Kunst und der Erhaltung eines alten Hauses.«
»Was hat er über die Kunstszene in der Stadt gesagt?« fragte Arch.
»Komisch, er hat gar nicht viel über Kunst geredet. Wir haben hauptsächlich über Katzen gesprochen.«
»Sehen Sie? Was habe ich Ihnen gesagt?« sagte Odd. »Monty hat Sie als Teilzeit-Katzensitter vorgesehen. Und erwarten Sie kein Trinkgeld!«

Das für Februar unnatürlich warme Wetter ging in jener Woche zu Ende. Die Temperatur sank rapide, und Qwilleran kaufte sich von seinem ersten vollen Gehalt einen schweren Tweedmantel.

Den Großteil des Wochenendes verbrachte er daheim und genoß seine neue Wohnung. Sie besaß ein Wohnzimmer mit Schlafnische und Kochnische und, wie Mountclemens es ausdrücken würde, Ambiente. Qwilleran nannte es Ramsch. Trotzdem sagte ihm der Effekt zu. Es war behaglich, die Sessel waren bequem, und im Kamin brannte ein Gasfeuer. Das Bild über dem Kaminsims war, wie ihm der Besitzer sagte, eines von Monets weniger erfolgreichen Werken.

Das einzige, was Qwilleran störte, war die düstere Beleuchtung. Bei der Glühbirnenstärke schien Mountclemens zu sparen. Qwilleran ging am Samstagmorgen einkaufen und besorgte sich ein paar 75- und 100-Watt-Lampen.

Er hatte sich in der Bücherei ein Buch ausgeliehen, das dem Leser die moderne Kunst näherbringen wollte, und am Samstagnachmittag plagte er sich gerade mit dem Dadaismus im Kapitel neun ab, kaute an seiner gefüllten, aber kalten Pfeife herum, als ein gebieterisches Jammern vor seiner Tür ertönte. Obwohl es eindeutig die Stimme einer Siamkatze war, schien der Schrei in zwei gut gewählten Silben aufgeteilt zu sein, so als laute der Befehl ›Laß mich rein‹.

Und Qwilleran kam dem Befehl ohne zu zögern nach. Er öffnete die Tür, und da stand Kao K’o-Kung.
Zum ersten Mal sah Qwilleran den Kater des Kritikers bei hellem Tageslicht, das durch die facettierten Glasscheiben der Eingangshalle fiel. Das Licht unterstrich den Glanz des hellen Felles, das satte Dunkelbraun des Gesichts und der Ohren, das unheimliche Blau der Augen. Die langen braunen Beine, gerade und schlank, endeten in zierlichen Füßen, und die kühnen Schnurrhaare schimmerten in allen Regenbogenfarben. Die Stellung seiner Ohren, die er wie eine Krone trug, war die Erklärung für sein königliches Auftreten.
Kao K’o-Kung war kein gewöhnlicher Kater, und Qwilleran wußte kaum, wie er ihn anreden sollte. Sahib? Eure Hoheit! Einem Impuls folgend, beschloß er, den Kater als Gleichgestellten zu behandeln, und sagte daher nur: »Willst du nicht hereinkommen?« und trat beiseite; er merkte nicht, daß er sich leicht verneigte.
Kao K’o-Kung trat zur Türschwelle vor und begutachtete die Wohnung eingehend, bevor er die Einladung annahm. Das dauerte eine Weile. Dann schritt er stolz über den roten Teppich und begann mit einer Routineuntersuchung: der Kamin, der Aschenbecher, etwas Käse und Cracker auf dem Tisch, Qwillerans Jacke, die über der Sessellehne hing, das Buch über moderne Kunst und ein nicht identifizierter und fast unsichtbarer Fleck auf dem Teppich, alles wurde genau inspiziert. Als er schließlich mit allem zufrieden war, wählte er einen Platz mitten auf dem Fußboden – in sorgsam kalkulierter Entfernung vom Gasfeuer – und streckte sich in stolzer Haltung aus.
»Kann ich dir etwas anbieten?« erkundigte sich Qwilleran.
Der Kater gab keine Antwort; er sah seinen Gastgeber nur an und kniff die Augen zusammen, was Zufriedenheit zu bedeuten schien.
»Koko, du bist ein toller Bursche«, sagte Qwilleran. »Mach es dir gemütlich. Stört es dich, wenn ich weiterlese?«
Kao K’o-Kung blieb eine halbe Stunde, und Qwilleran genoß das Bild, das sie boten – ein Mann, eine Pfeife, ein Buch, eine teuer aussehende Katze –, und er war enttäuscht, als sein Gast aufstand, sich streckte, ein scharfes ›Ciao‹ von sich gab und hinauf in seine eigene Wohnung ging.

Den Rest des Wochenendes freute sich Qwilleran auf seine Verabredung mit Sandra Halapay zum Lunch am Montag. Er umging das Problem, ihren Mann zu interviewen, indem er einen Artikel über Cal Halapay ›aus der Sicht seiner Familie und Freunde‹ schrieb. Sandra sollte ihn zu den richtigen Leuten führen, und sie hatte versprochen, scharfe Schnappschüsse mitzubringen, die ihren Mann zeigten, wie er die Kinder Skifahren lehrte, die Truthähne auf der Farm in Oregon fütterte, und wie er dem irischen Terrier beibrachte, Männchen zu machen.

Den ganzen Sonntag hatte Qwilleran das Gefühl, daß sein Schnurrbart ihm Botschaften sandte – oder vielleicht mußte er nur gestutzt werden. Egal, sein Besitzer hatte jedenfalls das Gefühl, daß die kommende Woche etwas Besonderes sein würde. Ob besonders gut oder besonders schlecht, das verriet die informierte Quelle nicht.

Der Montagmorgen kam und mit ihm eine unerwartete Mitteilung aus dem ersten Stock.

Qwilleran zog sich gerade an und wählte eine Krawatte aus, die Sandys Beifall finden könnte (blau-grünes Karo, eine Krawatte aus Schottland), als er ein gefaltetes Blatt Papier auf dem Boden bemerkte, das halb unter der Tür durchgeschoben worden war.

Er hob es auf. Die Handschrift war miserabel – wie das Gekritzel eines Kindes –, und die Botschaft war knapp und in Abkürzungen gehalten:

Mr. Q – Tonb. bitte bei A. R. ablief. Spart Bot. Weg – GBM. Qwilleran hatte seinen Hausherrn seit Freitagabend nicht mehr gesehen, als er seine beiden Koffer aus dem Hotel in die Wohnung gebracht und die Miete für einen Monat bezahlt hatte. Eine vage Hoffnung, daß ihn Mountclemens zum Sonntagsfrühstück einladen würde – zu Eier Benedict oder zu einem Hühnerleberomelette vielleicht – hatte sich in Luft aufgelöst. Wie es schien, würde nur der Kater gesellschaftlichen Kontakt zu ihm pflegen.
Nachdem er die Mitteilung entziffert hatte, öffnete Qwilleran die Tür; die Tonbänder lagen für ihn auf dem Fußboden der Eingangshalle bereit. Er lieferte sie bei Arch Riker ab, fand die Bitte jedoch seltsam – und unnötig. Der Fluxion hatte eine ganze Reihe Botenjungen, die meist auf ihrer Bank herumsaßen und sich die Zeit mit Spielen vertrieben.
Arch sagte: »Machst du Fortschritte mit der Halapay-Story?«
»Ich gehe heute mit Mrs. Halapay Mittagessen. Meinst du, daß der Flux die Rechnung bezahlt?«
»Klar, ein paar Dollar sind schon drin.«
»Wo gibt es hier ein gutes Lokal, in das ich mit ihr gehen kann? Etwas Besonderes.«
»Frag doch unsere hungrigen Fotografen. Die gehen ständig mit irgendwelchen Leuten auf Spesen essen.«
Im Fotolabor traf Qwilleran auf sechs Paar Füße, die auf Schreibtischen, Tischen, Papierkörben und Aktenschränken lagen und warteten – auf einen Auftrag oder darauf, daß die Fotos trockneten, oder daß der Dunkelraum frei wurde.
Qwilleran sagte: »Wo gibt es ein gutes Lokal, in das man jemanden für ein Interview zum Lunch ausführen kann?«
»Wer zahlt?«
»Der Flux
»Dann Sitting Bull’s Chop House«, sagten die Fotografen einmütig.
»Das Lendensteak dort wiegt ein Pfund«, sagte einer.
»Der Käsekuchen ist zehn Zentimeter hoch.«
»Die haben ein doppeltes Lammkotelett, das ist so groß wie mein Schuh.«
Hörte sich gut an, fand Qwilleran.

Das Lokal befand sich in dem Bezirk, in dem die Verpackungsindustrie beheimatet war, und der charakteristische Geruch drang in den Speisesaal und vermischte sich mit dem Zigarrenrauch.

»Oh, was für ein lustiges Lokal«, quietschte Sandy Halapay. »Wie gescheit von Ihnen, mit mir hierher zu gehen. So viele Männer! Ich liebe Männer.«

Die Männer liebten Sandy auch. Ihr auffallender roter Hut zog alle Aufmerksamkeit auf sich. Sie bestellte Austern, die das Lokal nicht führte, also begnügte sie sich mit Champagner. Doch mit jedem Schluck wurde ihr Lachen schriller; es wurde von den sterilen weißgefliesten Wänden des Restaurants zurückgeworfen, und die Begeisterung ihres Publikums schwand.

»Jim, mein Lieber, Sie müssen mit mir in die Karibik hinunterfliegen, wenn Cal nächste Woche nach Europa fährt. Ich werde das Flugzeug ganz für mich alleine haben. Wäre das nicht lustig?«
Doch sie hatte die Informationen vergessen, die Qwilleran benötigte, und die Schnappschüsse von ihrem Mann waren unbrauchbar. Das Lammkotelett war wirklich so groß wie der Schuh des Fotografen, und es schmeckte auch so. Die Serviererinnen trugen Uniformen wie Krankenschwestern und waren eher tüchtig als herzlich. Das Essen war kein Erfolg.

In der Redaktion mußte sich Qwilleran am Nachmittag telefonische Beschwerden über Mountclemens Artikel in der Sonntagsausgabe anhören. Der Kritiker hatte einen Aquarellmaler einen verhinderten Innenausstatter genannt, und die Freunde und Verwandten des Aquarellmalers riefen an, um sich am Daily Fluxion zu rächen und ihre Abonnements zu kündigen.

Alles in allem war der Montag nicht der angenehmste Tag für Qwilleran. Am Ende des ermüdenden Nachmittags floh er in den Presseclub, um dort zu Abend zu essen. Bruno, der ihm den Tomatensaft eingoß, sagte: »Wie ich höre, sind Sie zu Mountclemens gezogen.«

»Ich habe eine seiner leerstehenden Wohnungen gemietet«, fuhr ihn Qwilleran an. »Ist was dagegen einzuwenden?«
»Solange er nicht anfängt, Sie herumzukommandieren, wohl nicht.«
Dann blieb Odd Bunsen lange genug stehen, um den Reporter wissend anzugrinsen und zu sagen: »Ich habe gehört, der alte Monty gibt Ihnen bereits kleine Aufträge.«

Als Qwilleran zum Blenheim Place 26 kam, nach Hause, war er nicht in der Stimmung für das, was er dort vorfand. Unter seiner Tür lag eine weitere Mitteilung.

Mr. Q. Bitte Flugticket abh. – Buchg. Mi. 15h NY – Rechn. an mich – GBM.
Qwillerans Schnurrbart sträubte sich. Schön, das Reisebüro der Fluglinie befand sich direkt gegenüber dem Gebäude des Daily Fluxion, und wenn er das Flugticket abholte, dann war das nur ein kleiner Gefallen, um den sein Hausherr ihn als Gegenleistung für ein gutes Abendessen bat. Was ihn störte, war die schroffe Form der Bitte. Oder war es ein Befehl? Glaubte Mountclemens, er sei Qwillerans Chef?
Morgen war Dienstag. Der Flug war für Mittwoch gebucht. Er hatte keine Zeit, um viel Aufhebens zu machen, also murrte Qwilleran vor sich hin und holte das Ticket am nächsten Morgen auf dem Weg zur Arbeit.
Später am Tag traf ihn Odd Bunsen im Aufzug und sagte: »Fahren Sie weg?«
»Nein. Warum?«
»Habe Sie ins Büro der Fluglinie gehen gesehen. Dachte, Sie hauen ab.« Dann grinste er spöttisch. »Erzählen Sie mir nicht, daß Sie schon wieder den Laufburschen für Monty machen!«
Qwilleran strich seinen Schnurrbart mit den Knöcheln in Form und versuchte, ruhige Überlegungen darüber anzustellen, daß Neugier und eine scharfe Beobachtungsgabe einen guten Pressefotografen ausmachen.

Als er an diesem Abend heimkam, erwartete ihn die dritte Mitteilung unter seiner Tür. Sie war mehr nach seinem Geschmack: Mr. Q – Bitte frühstü. Sie m. mir Mi. 8.30 – GBM.
Am Mittwoch morgen ging Qwilleran mit dem Flugticket hinauf und klopfte an Mountclemens Tür.
»Guten Morgen, Mr. Qwilleran«, sagte der Kritiker und hielt ihm eine dünne weiße Hand zum Gruß entgegen, die Linke.
»Ich hoffe, Sie haben es nicht eilig. Ich habe einen EierKäseauflauf mit Kräutern und saurer Sahne, den ich sofort in den Ofen schieben werde, wenn Sie so lange warten können. Und etwas Hühnerleber und Speck en brochette.«
»Darauf kann ich warten«, sagte Qwilleran.
»Der Tisch ist in der Küche gedeckt. Wir können frische Ananas essen, während wir den Herd im Auge behalten. Ich hatte Glück und habe auf dem Markt eine perfekt ausgereifte Ananas gefunden.«
Der Kritiker trug eine Seidenhose und eine kurze orientalische Jacke, die mit einer Schärpe um seine bemerkenswert dünne Taille gebunden war. Ein Duft nach Limonenschale umgab ihn. Seine Ledersandalen schlappten, als er über den langen Korridor zur Küche vorausging.
Die Wände des Ganges waren vollständig mit Wandteppichen, Schriftrollen und gerahmten Bildern bedeckt. Qwilleran machte eine Bemerkung darüber, wie viele es waren.
»Und gut sind sie auch«, sagte Mountclemens und klopfte auf eine Reihe von Zeichnungen, an denen er gerade vorbeiging.
»Rembrandt… Holbein. Sehr schön… Millet.«
Die Küche war groß, sie hatte drei hohe, schmale Fenster. Bambusjalousien hielten das Licht gedämpft, doch Qwilleran spähte durch sie hinaus und sah eine Außentreppe – offenbar eine Feuertreppe –, die zu einem von einer Ziegelmauer umgebenen Hinterhof hinunterführte. In der kleinen Gasse hinter der hohen Mauer konnte er den oberen Teil eines Lieferwagens erkennen.
»Ist das Ihr Auto?« fragte er.
»Dieses groteske Gefährt«, sagte Mountclemens mit einem leisen Schaudern, »gehört dem Schrotthändler gegenüber. Wenn ich ein Auto hätte, dann eines mit einem edleren Design – vermutlich eine europäische Marke. Aber wie es ist, vergeude ich mein Vermögen mit Taxis.«
In der Küche herrschte ein fröhliches Durcheinander von Antiquitäten, Kupferutensilien und Büscheln getrockneter Pflanzen.
»Ich trockne meine eigenen Kräuter«, erklärte Mountclemens. »Möchten Sie die Ananas mit etwas Minze mariniert? Ich finde, das gibt der Frucht eine neue Dimension. Ananas kann etwas zu direkt sein. Ich ziehe die Minze in einem Topf auf dem Fensterbrett – hauptsächlich für Kao K’o-Kung. Sein Lieblingsspielzeug ist ein Sträußchen getrocknete Minzeblätter, das in den Vorderteil eines Sockens gebunden ist. In einem Augenblick von seltenem Witz haben wir dieses Spielzeug Minzi-Maus genannt. Eine ziemlich freie Abstraktion einer Maus, aber an solchen Dingen findet sein künstlerischer Intellekt Gefallen.«
Mountclemens schob zwei kleine Auflaufformen einzeln in das Backrohr, alles mit der linken Hand. »Wo ist Koko heute morgen?« fragte Qwilleran.
»Sie sollten seinen Blick eigentlich spüren. Er liegt am Kühlschrank und beobachtet Sie – es ist der einzige Kühlschrank mit Daunenkissen westlich des Hudson. Es ist sein Bett. Er weigert sich, woanders zu schlafen.«
Das Aroma von Speck, Kräutern und Kaffee begann sich in der Küche zu verbreiten, und Koko – auf einem Kissen, das so blau war wie seine Augen – hob den Kopf und schnupperte. Qwilleran tat dasselbe.
Er sagte: »Was machen Sie mit dem Kater, wenn Sie nach New York fahren?«
»Ah, das ist das Problem«, sagte der Kritiker. »Er braucht ein gewisses Maß an Betreuung. Wäre es sehr viel verlangt, wenn ich Sie bitten würde, ihm während meiner Abwesenheit seine Mahlzeiten zu bereiten? Ich werde nicht mal eine Woche weg sein. Er braucht nur zwei Mahlzeiten am Tag, und seine Kost ist einfach. Im Kühlschrank ist rohes Rindfleisch. Sie brauchen es nur in kleine Stücke zu schneiden, so groß wie Limabohnen, mit ein wenig Brühe in eine Pfanne zu geben und langsam zu wärmen. Eine Prise Salz und etwas Salbei oder Thymian weiß er zu schätzen.«
»Also…« sagte Qwilleran und löffelte den letzten Rest mit Minze gewürzten Ananassaftes.
»Damit es am Morgen für Sie leichter ist, wenn Sie in die Redaktion müssen, kann er zum Frühstück eine Scheibe Pâté de la maison statt Rindfleisch essen. Das ist eine angenehme Abwechslung für ihn. Möchten Sie Ihren Kaffee jetzt gleich oder später?«
»Später«, sagte Qwilleran. »Nein – ich trinke ihn gleich.«
»Und dann ist da noch sein Kistchen.«
»Was für ein Kistchen?«
»Das Katzenkistchen. Es ist im Badezimmer. Man braucht sich nicht viel darum zu kümmern. Er ist ein äußerst reinlicher Kater. Den Sand für das Kistchen finden Sie in dem chinesischen Teeschränkchen neben der Badewanne. Trinken Sie den Kaffee mit Zucker oder Sahne?«
»Schwarz.«
»Wenn das Wetter nicht zu unfreundlich ist, kann er sich im Hinterhof ein bißchen Bewegung verschaffen, vorausgesetzt, Sie bleiben bei ihm. Normalerweise bekommt er genug Bewegung, wenn er die Vordertreppe auf- und abläuft. Ich lasse meine Wohnungstür angelehnt, damit er ein und aus kann. Zur Sicherheit gebe ich Ihnen auch einen Schlüssel. Kann ich in New York irgend etwas für Sie tun?«
Qwilleran hatte gerade den ersten Bissen Hühnerleber im Speckmantel mit einem Hauch Basilikum gekostet und drehte die Augen dankbar gen Himmel. Dabei begegnete er dem Blick von Kao K’o-Kung, der auf dem Kühlschrank saß. Der Kater kniff langsam und bedächtig ein Auge zu – unverkennbar: Er zwinkerte.

7

»Ich möchte mich beschweren«, sagte Qwilleran am Mittwoch abend zu Arch.

»Ich weiß, worum es geht. Dein Name ist gestern mit U geschrieben worden, aber wir haben es bei der zweiten Ausgabe schon korrigiert. Du weißt, was kommen wird, nicht wahr? Wenn sich der Betriebsrat der Schriftsetzer das nächste Mal mit der Geschäftsleitung zusammensetzt, wird eine seiner Beschwerden die Schreibweise deines Namens sein.«

»Ich habe noch etwas. Ich bin nicht als Dienstbote für euren Kunstkritiker angestellt, aber das glaubt er anscheinend. Weißt du, daß er heute abend verreist?«

»Ich habe mir so was gedacht«, meinte Arch. »Die letzten

Bänder reichen für drei Kolumnen.«
»Zuerst habe ich diese Bänder für ihn abgeliefert. Und dann
habe ich das Ticket für den Drei-Uhr-Flug heute nachmittag
abgeholt. Und jetzt soll ich Latrinendienst für seine Katze machen!«
»Warte, bis Odd Bunsen das hört!«
»Sag es ihm nicht! Neugierig wie er ist, findet Bunsen das ü
ber seine eigenen verzweigten Kanäle früh genug heraus. Ich
soll den Kater zweimal täglich füttern, sein Trinkwasser wechseln und sein Kistchen saubermachen. Weißt du, was ein Katzenkistchen ist?«
»Ich kann es mir vorstellen.«
»Für mich war das etwas Neues. Ich habe geglaubt, Katzen
laufen einfach in den Hof hinaus.«
»Im Vertrag des Journalistenverbandes steht nichts über Reporter, die niedrige Dienste verrichten«, sagte Arch. »Warum
hast du nicht abgelehnt?«
»Mountclemens gab mir keine Chance. Er ist wirklich gerissen! Da saß ich in seiner Küche, total im Bann von frischer
Ananas, geschmorter Hühnerleber und Eier-Rahmauflauf. Noch
dazu eine perfekt ausgereifte Ananas! Was konnte ich tun?« »Du wirst zwischen Stolz und Gefräßigkeit wählen müssen,
das ist alles. Magst du keine Katzen?«
»Klar, ich mag Tiere, und dieser Kater ist menschlicher als ein
paar Leute, die ich nennen könnte. Aber er gibt mir das unangenehme Gefühl, daß er mehr weiß als ich – und daß er mir nicht
sagt, was.«
Arch sagte: »Wir haben daheim ständig Katzen. Die Kinder
bringen sie nach Hause. Aber keine davon hat mir je einen
Minderwertigkeitskomplex eingejagt.«
»Deine Kinder haben nie eine Siamkatze heimgebracht.« »Du wirst es drei, vier Tage aushallen. Wenn es dir zuviel
wird, schicken wir einen Laufburschen mit Doktortitel. Der
sollte wohl mit einer Siamkatze fertig werden.«
»Schluß damit. Da kommt Odd Bunsen«, sagte Qwilleran. Noch bevor der Fotograf auftauchte, konnte man seine Zigarre
riechen und seine Stimme hören, die über die Kälte draußen
schimpfte.
Odd klopfte Qwilleran auf die Schulter. »Sind das Katzenhaare auf Ihrem Kragen, oder haben Sie eine blonde Freundin mit
Bürstenhaarschnitt?«
Qwilleran kämmte seinen Schnurrbart mit einem Cocktailstäbchen.
Odd sagte: »Ich habe noch immer Nachtdienst. Will einer von
euch mit mir essen? Ich habe eine Stunde Zeit zum Abendessen,
wenn niemand das Rathaus in die Luft sprengt.«
»Ich esse mit Ihnen«, sagte Qwilleran.

Sie suchten sich einen Tisch und studierten die Karte. Odd bestellte ein Salisbury-Steak, machte der Kellnerin Komplimente über ihre schmale Taille und sagte dann zu Qwilleran: »Nun, haben Sie den alten Monty inzwischen durchschaut? Würde ich herumlaufen und alle Leute beleidigen wie er, dann würde man mich feuern – oder zur Klatschspalte versetzen, was noch schlimmer ist. Wie kommt er damit durch?«

»Die Freiheit des Kritikers. Außerdem haben die Zeitungen gerne kontroverse Autoren.«
»Und woher hat er das ganze Geld? Ich habe gehört, er lebt recht gut. Reist viel. Fährt einen teuren Wagen. Von dem, was ihm der Flux zahlt, kann er sich das nicht leisten.«
»Mountclemens fährt kein Auto«, sagte Qwilleran. »Aber klar doch. Ich habe ihn am Steuer eines Wagens gesehen. Erst heute morgen.«
»Mir sagte er, er hätte kein Auto. Er fährt Taxi.«
»Vielleicht hat er kein eigenes, aber er fährt manchmal mit einem.«
»Wie, glauben Sie, schafft er das?«
»Kein Problem. Ein Automatik-Auto. Sind Sie noch nie mit einem Arm gefahren? Sie müssen ein miserabler Liebhaber sein. Ich bin schon Auto gefahren, habe den Schalthebel betätigt und dabei einen Hot Dog gegessen.«
»Ich habe auch ein paar Fragen«, sagte Qwilleran. »Sind die Künstler hier wirklich so schlecht, wie Mountclemens sagt? Oder ist er wirklich so ein Schwindler, wie die Künstler glauben? Mountclemens sagt, Halapay ist ein Scharlatan. Halapay nennt Zoe Lambreths Bilder eine Zumutung. Zoe sagt, Sandy Halapay ist ungebildet. Sandy hält Mountclemens für verantwortungslos. Mountclemens sagt, Farhar ist unfähig. Farhar sagt, Mountclemens hat keine Ahnung von Kunst. Mountclemens sagt, Earl Lambreth ist bemitleidenswert. Lambreth sagt, Mountclemens ist ein Ausbund an gutem Geschmack, Wahrheitsliebe und Integrität. Also… wer hat damit angefangen?«
»Hören Sie mal«, sagte Odd. »Ich glaube, sie rufen mich aus.«
Die murmelnde Durchsage war über den Lärm in der Bar kaum zu hören.
»Ja, das ist für mich«, sagte der Fotograf. »Es muß doch jemand das Rathaus gesprengt haben.«
Er ging zum Telefon, und Qwilleran dachte über die Komplexität der Kunst weit nach.
Als Odd Bunsen von der Telefonzelle zurückkam, war er ganz außer sich vor Aufregung.
Qwilleran dachte, er ist seit fünfzehn Jahren Pressefotograf, und noch immer strahlt er, wenn es Feueralarm gibt.
»Ich habe Neuigkeiten für Sie«, sagte Odd. Er beugte sich über den Tisch und sprach mit leiser Stimme.
»Was ist los?«
»Ärger in Ihrem Ressort.«
»Was für Ärger?«
»Mord! Ich bin unterwegs zur Lambreth Gallery.«
»Zur Lambreth!« Qwilleran sprang so schnell auf, daß er seinen Stuhl umwarf. »Wer ist es?… Doch nicht Zoe?«
»Nein. Ihr Mann.«
»Wissen Sie, was passiert ist?«
»Sie haben gesagt, er ist erstochen worden. Wollen Sie mitkommen? Ich habe Ihrer Redaktion gesagt, daß Sie hier sind, und sie meinten, es wäre gut, wenn Sie die Berichterstattung übernehmen könnten. Kendall ist in einer anderen Sache unterwegs, und die beiden anderen Reporter haben zu tun.«
»Okay, ich komme.«
»Rufen Sie lieber zurück und geben Sie ihnen Bescheid. Mein Auto steht draußen.«

Als Qwilleran und Bunsen vor der Lambreth Gallery ankamen, herrschte eine völlig unangemessene Ruhe auf der Straße. Das Finanzviertel war normalerweise nach halb sechs verlassen, und selbst ein Mord hatte keine große Menschenmenge anziehen können. Ein scharfer Wind blies durch die von den nahen Bürohäusern gebildete Schlucht, und nur ein paar bibbernde Nachzügler standen auf dem Gehsteig herum, gingen aber bald weiter. Einsamkeit erfüllte die Straße. Vereinzelte Stimmen klangen unmäßig laut.

Die Zeitungsleute wiesen sich bei dem Polizisten an der Tür aus und gingen hinein. Die teuren Kunstwerke und die luxuriöse Einrichtung der Galerie gaben einen irrealen Hintergrund für die Ansammlung ungeladener Gäste ab. Ein Polizeifotograf machte Bilder von ein paar Gemälden, die böse zerfetzt worden waren. Bunsen zeigte Qwilleran den Revierinspektor und Harnes, einen Beamten des Morddezernats. Harnes nickte ihnen zu und deutete mit dem Daumen nach oben.

Die Journalisten wollten die Wendeltreppe hinaufsteigen, mußten aber zurücktreten, um den Fingerabdruckspezialisten herunterzulassen. Er führte Selbstgespräche. Er sagte: »Wie können die da eine Bahre hinuntertragen? Sie werden ihn durch das Fenster hinablassen müssen.«

Oben sagte eine scharfe Stimme: »Kommt schon, Leute. Das könnt ihr auch unten machen. Wir brauchen Platz!«

»Das ist Wojcik vom Morddezernat«, sagte Bunsen. »Mit dem ist nicht zu spaßen.«
Die Rahmenwerkstatt war ungefähr so, wie Qwilleran sie in Erinnerung hatte – abgesehen von den Männern mit Dienstabzeichen, Fotoapparaten und Notizheften. Ein Polizist stand in Lambreths Bürotür, mit dem Rücken zum Büro. Über seine Schulter konnte Qwilleran sehen, daß das Büro ziemlich verwüstet war. Die Leiche lag am Boden neben dem Schreibtisch.
Er sprach Wojcik an und schlug ein kleines Notizheft auf. »Ist der Mörder bekannt?«
»Nein«, sagte der Kriminalbeamte.
»Opfer: Earl Lambreth, Leiter der Galerie?«
»Stimmt.«
»Methode?«
»Mit einem Werkzeug von der Werkbank erstochen. Einem scharfen Meißel.«
»Wo?«
»In die Kehle. Sehr feuchte Angelegenheit.«
»Wo wurde der Tote gefunden?«
»In seinem Büro.«
»Von wem?«
»Seiner Frau, Zoe.«
Qwilleran mußte schlucken und verzog das Gesicht.
»Das wird Z-o-e geschrieben«, sagte der Kriminalbeamte.
»Ich weiß. Anzeichen für einen Kampf?«
»Büro praktisch auf den Kopf gestellt.«
»Was ist mit dem Vandalenakt in der Galerie?«
»Einige Bilder zerstört. Eine Statue zerbrochen. Sie können das unten sehen.«
»Wann ist es passiert?«
»Die elektrische Uhr wurde vom Schreibtisch gestoßen. Steht auf sechs Uhr fünfzehn.«
»Die Galerie war zu der Zeit geschlossen.«
»Stimmt.«
»Irgendwelche Hinweise auf gewaltsames Eindringen?«
»Nein.«
»Dann könnte der Mörder jemand gewesen sein, der Zutritt zur Galerie hatte.«
»Kann sein. Wir haben die Eingangstür versperrt vorgefunden. Ob die Hintertür versperrt war, als Mrs. Lambreth kam, ist nicht sicher.«
»Wurde etwas gestohlen?«
»Auf den ersten Blick nicht zu sagen.« Wojcik schickte sich an, wegzugehen. »Das ist alles. Sie haben die Geschichte.«
»Noch eine Frage. Gibt es Verdächtige?«
»Nein.«
Während Bunsen herumsauste und Fotos machte, betrachtete Qwilleran das Zerstörungswerk genauer. Zwei Ölgemälde waren mit einem scharfen Instrument aufgeschlitzt worden. Ein gerahmtes Bild lag am Boden, das Glas war zerbrochen, als wäre jemand mit dem Fuß drauf getreten. Eine rötliche Tonskulptur schien von einem Tisch mit Marmorplatte gestoßen worden zu sein; die Trümmer lagen überall herum.
Die Bilder von Zoe Lambreth und Scrano – die einzigen beiden Namen, die Qwilleran kannte – waren unversehrt.
Die Skulptur war ihm von seinem vorherigen Besuch noch in Erinnerung. Das langgezogene Gebilde mit den willkürlichen Ausbuchtungen war offenbar eine Frauenfigur gewesen. Das dazugehörige Schild hing noch immer an dem leeren Podest: ›Eva – von B. H. Riggs – Terrakotta.‹
Das Aquarell am Boden hatte Qwilleran in der vorherigen Woche nicht bemerkt. Es ähnelte einem vielfarbigen Puzzle – einfach ein angenehmes Muster. Es trug den Titel ›Interior‹, und die Künstlerin hieß Mary Ore. Auf dem Schild wurde es als Gouache bezeichnet.
Dann untersuchte Qwilleran die zwei Ölgemälde. Beide bestanden aus wellenförmigen, vertikalen Farbstreifen, die mit einem breiten Pinsel auf einem weißen Hintergrund aufgetragen waren. Die Farben waren sehr kräftig – rot, purpur, orange, rosa –, und die Bilder schienen förmlich zu vibrieren. Qwilleran fragte sich, wer diese nervenzermürbenden Kunstwerke wohl kaufte. Da zog er seinen zweitklassigen Monet vor.
Er trat näher, um die Schilder zu lesen. Auf einem stand ›Strandszene Nr. 3 von Milton Ore – Öl‹, während das andere ›Strandszene Nr. 2‹ vom selben Künstler war. Irgendwie halfen einem die Titel, die Bilder richtig zu würdigen. Sie begannen Qwilleran an flimmernde Hitzewellen zu erinnern, die von heißem Sand aufstiegen.
Er sagte zu Bunsen: »Sehen Sie sich diese beiden Bilder an. Würden Sie sagen, das sind Strandszenen?«
»Ich würde sagen, der Künstler war betrunken«, erwiderte Odd.
Qwilleran trat ein paar Schritte zurück und betrachtete die beiden Ölbilder mit zusammengekniffenen Augen. Plötzlich sah er eine Gruppe stehender Figuren. Er hatte auf die roten, orangen und purpurnen Streifen geschaut, und er hätte die weißen Stellen dazwischen sehen müssen. Die weißen vertikalen Streifen deuteten weibliche Körper an – abstrakt, aber erkennbar.
Er dachte: ›Weibliche Figuren in diesen weißen Streifen… ein weiblicher Torso aus zerbrochenem Ton. Sehen wir uns das Aquarell nochmals an‹.
Jetzt, wo er wußte, wonach er suchte, war es nicht schwer zu finden. In den gezackten Keilen, aus denen sich das Muster von Mary Ores Bild zusammensetzte, konnte er ein Fenster erkennen, einen Stuhl, ein Bett – auf dem eine menschliche Figur lag. Eine weibliche Figur.
Er sagte zu Odd Bunsen: »Ich würde gerne zum Haus der Lambreths hinausfahren und schauen, ob Zoe mit mir spricht. Vielleicht hat sie ja auch ein Foto des Toten. Sollen wir in der Redaktion anrufen?«
Nachdem er dem Redakteur, der den Artikel ausarbeiten sollte, die Details durchgegeben und das Okay von der Lokalredaktion erhalten hatte, zwängte sich Qwilleran in Odd Bunsens engen Zweisitzer, und sie fuhren zur Sampler Street 3434.

Die Lambreths hatten ein modernes Stadthaus in einer neuen Viertel (dem man die sorgfältige Planung ansah), in einer Gegend, die früher ein Slum gewesen war. Die beiden Männer läuteten an der Tür und warteten. Hinter den großen Fenstern waren die Vorhänge zugezogen, doch man konnte sehen, daß in jedem Raum, oben und unten, Licht brannte. Sie läuteten nochmals.

Die Tür ging auf, und eine Frau in Hosen stand vor ihnen – die Arme streitbar verschränkt, die Füße fest auf die Schwelle gepflanzt; sie kam Qwilleran bekannt vor. Sie war groß und kräftig. Ihr weiches Gesicht blickte streng.

»Ja?« sagte sie grimmig.
»Ich bin ein Freund von Mrs. Lambreth«, sagte Qwilleran. »Könnte ich sie wohl sprechen und ihr meine Hilfe anbieten? Jim Qwilleran ist mein Name. Das ist Mr. Bunsen.«
»Sie sind von der Zeitung. Sie wird heute nacht nicht mit Reportern sprechen.«
»Das ist kein offizieller Besuch. Wir waren auf dem Nachhauseweg und dachten, wir könnten vielleicht etwas tun. Sind Sie nicht Miß Bolton?«
Aus dem Inneren des Hauses rief eine tiefe, müde Stimme: »Wer ist es, Butchy?«
»Qwilleran und noch ein Mann vom Fluxion.«
»Ist schon gut. Bitte sie herein.«
Die beiden Männer traten in einen hypermodern eingerichteten Raum mit wenigen, aber guten Möbeln. Und da stand Zoe Lambreth, an einen Türpfosten gelehnt, in purpurner Seidenhose und lavendelfarbiger Bluse. Sie wirkte hager und verwirrt.
Butchy meinte: »Sie sollte sich hinlegen und ausruhen.«
Zoe sagte: »Mir geht es gut. Ich bin viel zu aufgeregt, um mich auszuruhen.«
»Sie will auch kein Beruhigungsmittel nehmen.«
»Meine Herren, setzen Sie sich«, sagte Zoe.
Qwillerans Miene drückte das teilnahmsvolle Verständnis aus, für das er berühmt war. Selbst sein Schnurrbart trug zum Ausdruck tiefer Sorge bei. Er sagte: »Ich brauche Ihnen meine Gefühle nicht zu beschreiben. Obwohl unsere Bekanntschaft nur kurz war, empfinde ich einen persönlichen Verlust.«
»Es ist schrecklich. Einfach schrecklich.« Zoe saß am Rand des Sofas und hatte die Hände auf den Knien gefaltet.
»Ich habe die Galerie letzte Woche besucht, wie Sie vorgeschlagen haben.«
»Ich weiß. Earl hat es mir erzählt.«
»Es muß ein unvorstellbarer Schock für Sie gewesen sein.«
Butchy unterbrach ihn. »Ich glaube nicht, daß sie jetzt darüber reden sollte.«
»Butchy, ich muß darüber reden«, sagte Zoe, »oder ich werde verrückt.« Sie sah Qwilleran mit den tiefbraunen Augen an, die ihm noch so gut von ihrer ersten Begegnung im Gedächtnis waren, und jetzt erinnerten sie ihn an die Augen in Zoes eigenen Gemälden in der Galerie.
Er sagte: »War es üblich, daß Sie in die Galerie gingen, nachdem sie geschlossen war?«
»Ganz im Gegenteil. Ich ging überhaupt sehr selten hin. Es wirkt unprofessionell, wenn sich eine Künstlerin ständig in der Galerie aufhält, die ihre Bilder ausstellt. Noch dazu in unserem Fall – als Ehepaar. Es würde allzu sehr nach Anbiederung aussehen!«
»Die Galerie machte einen sehr exquisiten Eindruck«, sagte Qwilleran. »Sehr passend für das Finanzviertel.«
Butchy sagte mit unverhohlenem Stolz: »Das war Zoes Idee.«
»Mrs. Lambreth, weshalb sind Sie heute nacht in die Galerie gegangen?«
»Ich war zweimal da. Das erste Mal kurz vor Ladenschluß. Ich war den ganzen Nachmittag einkaufen und schaute vorbei um zu fragen, ob Earl zum Abendessen in der Stadt bleiben wollte. Er sagte, er könne erst um sieben oder noch später weg.«
»Um welche Zeit haben Sie da mit ihm gesprochen?«
»Die Tür war noch offen, also muß es vor halb sechs gewesen sein.«
»Hat er gesagt, warum er nicht aus der Galerie wegkonnte?«
»Er mußte an den Büchern arbeiten – für den Steuertermin oder so was –, also fuhr ich nach Hause. Aber ich war müde und hatte keine Lust zu kochen.«
Butchy sagte: »Sie hat Tag und Nacht gearbeitet, um alles für ihre Ausstellung fertigzubekommen.«
»Also beschloß ich, ein Bad zu nehmen und mich umzuziehen«, fuhr Zoe fort, »und um sieben Uhr nochmals in die Stadt zu fahren und Earl von seinen Büchern loszueisen.«
»Haben Sie ihn angerufen, um ihm zu sagen, daß Sie nochmals in die Galerie kämen?«
»Ich glaube, ja. Oder vielleicht auch nicht. Ich kann mich nicht erinnern. Ich dachte daran anzurufen, aber in der Hektik, mit der ich mich umzog – ich weiß nicht, ob ich anrief oder nicht… Sie wissen, wie das ist. Man tut solche Dinge automatisch, ohne zu denken. Manchmal kann ich mich nicht erinnern, ob ich mir die Zähne geputzt habe, und muß nachsehen, ob die Zahnbürste naß ist.«
»Wann sind Sie das zweite Mal in der Galerie angekommen?«
»So um sieben, glaube ich. Earl hatte das Auto zur Reparatur gebracht, deshalb rief ich ein Taxi und sagte dem Fahrer, er sollte mich zum Hintereingang der Galerie fahren. Ich habe den Schlüssel für die Hintertür – für den Notfall.«
»War sie verschlossen?«
»Das ist noch etwas, woran ich mich nicht erinnere. Sie hätte verschlossen sein sollen. Ich habe den Schlüssel ins Schloß gesteckt und den Türknopf gedreht, ohne viel dabei zu denken. Die Tür ging auf, und ich ging hinein.«
»Ist Ihnen im Erdgeschoß aufgefallen, daß etwas nicht in Ordnung war?«
»Nein. Das Licht war ausgeschaltet. Ich ging direkt die Wendeltreppe hinauf. Sobald ich in die Werkstatt kam, merkte ich, daß etwas nicht stimmte. Es war totenstill. Ich hatte fast Angst, ins Büro zu gehen.« Die Erinnerung war sichtlich qualvoll. »Aber ich ging. Zuerst sah ich – Papier und alles über den Boden verstreut. Und dann…« Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen, und im Zimmer war es still.
Nach einer Weile sagte Qwilleran sanft: »Soll ich Mountclemens in New York benachrichtigen? Ich weiß, daß er Sie beide sehr schätzt.«
»Wenn Sie wollen.«
»Sind schon Begräbnisvorbereitungen getroffen worden?«
Butchy sagte: »Es wird kein Begräbnis geben. Zoe hält nichts von Begräbnissen.«
Qwilleran stand auf. »Wir gehen, aber wenn ich irgend etwas tun kann, Mrs. Lambreth, bitte wenden Sie sich an mich. Manchmal hilft es schon, wenn man nur mit jemandem reden kann.«
Butchy sagte: »Ich bin hier. Ich kümmere mich um sie.«
Qwilleran fand, die Frau klang besitzergreifend. Er sagte: »Nur noch eins, Mrs. Lambreth. Haben Sie eine gute Fotografie von Ihrem Mann?«
»Nein. Nur ein Porträt, das ich letztes Jahr gemalt habe. Es ist in meinem Studio. Butchy wird es Ihnen zeigen. Ich glaube, ich gehe jetzt hinauf.«
Sie ging ohne weitere Formalitäten aus dem Zimmer, und Butchy führte die beiden Männer in das Studio an der Rückseite des Hauses.
Dort, an der Wand, war Earl Lambreth – kalt, hochmütig, geringschätzig – ohne Liebe gemalt.
»Die Ähnlichkeit ist perfekt«, sagte Butchy stolz. »Sie hat wirklich seine Persönlichkeit eingefangen.«
Fast unhörbar klickte Odd Bunsens Kamera.