Statt über das zu schreiben, was ihr wisst, hast du zu uns gesagt, schreibt über das, was ihr seht. Geht davon aus, dass ihr sehr wenig wisst und nie viel wissen werdet, außer ihr lernt, zu sehen. Führt ein Notizbuch, um aufzuschreiben, was ihr seht, zum Beispiel, wenn ihr draußen auf der Straße seid.
Ich habe vor langer Zeit aufgehört, ein Notizbuch oder ein Tagebuch zu führen. Wenn ich heute durch die Straßen gehe, sehe ich viele Obdachlose oder Menschen, die so bettelarm wirken, dass ich sie für obdachlos halte. Es ist jedoch nicht ungewöhnlich, dass so eine Person ein Handy hat. Und wenn ich mich nicht irre, haben immer mehr von ihnen ein Haustier.
Auf dem Broadway beim Astor Place sehe ich einen Hund, der ganz allein und umgeben von Habseligkeiten ist: einem vollen Rucksack, ein paar Taschenbüchern, einer Thermoskanne, Bettzeug, einem Wecker und ein paar Essensbehältern aus Styropor. Es ist das Fehlen eines Menschen, das die Szene so unerträglich ergreifend macht.
Ich sehe einen Betrunkenen, der sich vollgepisst hat, in einem Hauseingang liegen. Ich bin der Architekt meines Schicksals, steht auf seinem T-Shirt. In der Nähe ein Bettler mit einem handgeschriebenen Schild: Ich war mal jemand.
In einer Buchhandlung: Ein Mann geht von Tisch zu Tisch, legt die Hand mal auf dieses Buch, dann auf jenes, ohne eins davon näher zu betrachten. Ich folge ihm eine Weile, neugierig, für welches Buch er sich anhand dieser Methode entscheiden wird. Doch er verlässt den Laden mit leeren Händen.
Hier ist etwas, was ich nicht gesehen habe, aber gesehen hätte, wenn ich ein paar Minuten früher um die Straßenecke gegangen wäre: eine Person, die aus dem Fenster eines Bürogebäudes springt. Als ich dort vorbeikomme, ist die Leiche bereits zugedeckt. Später konnte ich nur herausfinden, dass es eine Frau Ende fünfzig war. Kurz vor Mittag an einem schönen Herbsttag, in einer dicht bevölkerten Gegend. Wie hat sie es eingeschätzt, frage ich mich, dass sie niemanden trifft? Oder hatte sie nur … hatten wir alle nur … Glück?
Graffiti an der Philosophischen Fakultät: Das geprüfte Leben ist auch nicht lebenswert.
Verleihung eines Literaturpreises in einem privaten Club auf der Upper East Side. Ich komme an der Fifth Avenue aus der U-Bahn. Der Club ist sechs Blocks entfernt. Ich sehe zwei Personen, die ebenfalls aus der U-Bahn kommen: eine Frau, die in den Sechzigern zu sein scheint, begleitet von einem halb so alten Mann. Sie könnten in dieser Gegend zu einer Million Orte gehen, doch ich glaube, sie gehen dorthin, wohin auch ich gehe. Ich habe recht. Was haben sie an sich? Ich weiß es nicht. Es ist mir ein Rätsel, warum Leute aus der Welt der Literatur so leicht zu identifizieren sind. Wie damals, als ich an drei Männern in einer Nische in einem Restaurant in Chelsea vorbeikam, und es wusste, bevor ich einen sagen hörte: Das ist das Großartige, wenn man für den New Yorker schreibt.
In der Post das Leseexemplar eines Romans und ein Brief des Lektors: Ich hoffe, Sie finden dieses Erstlingswerk auf so trügerische Weise tiefgründig wie ich.
Notizen für den Unterricht.
Alle Schriftsteller sind Ungeheuer. Henry de Montherlant.
Schriftsteller hintergehen immer jemanden. [Schreiben] ist ein aggressiver, ja sogar feindseliger Akt … die Taktik eines heimlichen Tyrannen. Joan Didion.
Jeder Journalist … weiß …, dass moralisch nicht zu rechtfertigen ist, was er tut. Janet Malcolm.
Jeder Schriftsteller, der sein Geld wert ist, weiß, dass nur ein Bruchteil der Literatur mehr für die Menschen tut, als einen Teil des Schadens auszugleichen, den sie beim Lesenlernen genommen haben. Rebecca West.
Es scheint kein Kraut gewachsen gegen das Laster der Schriftstellerei; die ihm Verfallenen fahren in ihm fort, sogar, wenn die Lust am Schreiben längst vergangen ist. W. G. Sebald.
Wann immer er seine Bücher in einer Buchhandlung sah, fühlte er sich, als wäre er mit etwas davongekommen, sagte John Updike.
Der zudem der Ansicht war, dass ein netter Mensch nicht Schriftsteller würde.
Das Problem des Selbstzweifels.
Das Problem der Scham.
Das Problem des Selbsthasses.
Du hast es einmal so ausgedrückt: Wenn ich so genug habe von etwas, an dem ich schreibe, dass ich beschließe, damit aufzuhören, und mich später wieder unwiderstehlich davon angezogen fühle, denke ich immer: Wie ein Hund von seiner Kotze.
Wenn mich jemand fragt, was ich unterrichte, sagt einer meiner Kollegen, warum kann ich dann nie »Schreiben« antworten, ohne dass es mir peinlich ist.
Sprechstunde. Der Student erwähnt ein bestimmtes Detail aus seinem Leben und sagt: Aber das wussten Sie ja schon. Nein, sage ich, das wusste ich nicht. Er wirkt verärgert. Wie meinen Sie das? Haben Sie meine Geschichte nicht gelesen? Ich gehe nie automatisch davon aus, erkläre ich, dass ein literarisches Werk autobiographisch ist. Als ich ihn frage, warum er glaubt, ich hätte wissen sollen, dass er über sich schreibt, blickt er verwirrt drein und sagt: Über wen sollte ich denn sonst schreiben?
Eine Freundin, die an einem Memoir arbeitet, sagt: Ich hasse die Vorstellung, Schreiben sei so etwas wie eine Katharsis, weil mir scheint, dass es dann unmöglich ein gutes Buch werden kann.
Es ist nicht so, dass man hoffen kann, sich schreibend über seine Trauer hinwegzutrösten, warnt Natalia Ginzburg.
Dann aber Karen Blixen, die glaubte, dass man jeden Kummer erträglich machen kann, indem man ihn in eine Geschichte einbaut oder eine Geschichte darüber erzählt.
Ich nehme an, dass ich für mich selbst tat, was Psychoanalytiker für ihre Patienten tun. Ich drückte ein lange und tief empfundenes Gefühl aus. Und indem ich es zum Ausdruck brachte, erklärte ich es und bettete es zur Ruhe. Woolf spricht über das Schreiben über ihre Mutter; zwischen dreizehn (als ihre Mutter starb) und vierundvierzig, als sie – in großer, offenbar unfreiwilliger Hast – Zum Leuchtturm schrieb, dachte sie obsessiv über sie nach. Danach legte sich die Obsession: Ich höre ihre Stimme nicht mehr; ich sehe sie nicht mehr.
Frage: Hängt die Wirksamkeit der Katharsis von der Qualität des Schreibens ab? Und wenn das Schreiben eines Buchs für jemanden eine kathartische Erfahrung ist, ist es dann wichtig, ob das Buch etwas taugt?
Meine Freundin schreibt auch über ihre Mutter.
Schriftsteller zitieren gern Milosz: Wird ein Schriftsteller in eine Familie geboren, ist es mit der Familie vorbei.
Dass ich meine Mutter in einem Roman erwähnt habe, hat sie mir nie verziehen.
Oder aber zum Beispiel Toni Morrison, die es eine Urheberrechtsverletzung nannte, eine fiktive Figur einer realen Person nachzuempfinden. Eine Person ist die Eigentümerin ihres Lebens, sagt sie. Es steht jemand anderem nicht an, sie literarisch zu benutzen.
In einem Buch, das ich lese, spricht der Autor von Wortmenschen versus Faustmenschen. Als könnten Wörter keine Fäuste sein. Als wären sie nicht oft Fäuste.
Ein wichtiges Thema in Christa Wolfs Werk ist die Angst, dass es eine Art Mord an einer Person ist, wenn man über sie schreibt. Jemandes Leben in eine Geschichte zu verwandeln ist, als würde man die Person in eine Salzsäule verwandeln. In einem autobiographischen Roman beschreibt sie einen immer wiederkehrenden Traum ihrer Kindheit, in dem sie Mutter und Vater tötet, indem sie über sie schreibt. Die Scham, Schriftstellerin zu sein, verfolgte sie ihr ganzes Leben.
Ich frage mich, wie viele Psychoanalytiker wirklich für ihre Patienten tun, was Woolf für sich selbst getan hat. Ich wette, es sind nicht viele.
Sie können Freuds Ideen auseinandernehmen, wie sie wollen, hast du gesagt. Aber niemand kann behaupten, der Mann wäre kein großer Schriftsteller gewesen.
War Freud überhaupt ein realer Mensch?, hörte ich einmal einen Studenten fragen.
Es war selbstverständlich ein Psychoanalytiker, dem der Begriff Schreibblockade einfiel. Edmund Bergler war wie Freud ein österreichischer Jude und Anhänger der Freud’schen Theorie. Laut Wikipedia war er der Ansicht, dass der Masochismus die grundlegende aller menschlichen Neurosen sei, dass nur die Unmenschlichkeit gegenüber sich selbst schlimmer sei als die Unmenschlichkeit gegenüber anderen.
(Doch eine Schriftstellerin bekommt die doppelte Dosis ab, sagte Edna O’Brien: den Masochismus der Frau und den der Künstlerin.)
Eine Einladung, einen Workshop in einem Behandlungszentrum für Opfer von Menschenhandel zu geben. Die Person, die mich fragte, war jemand, den ich kannte, beziehungsweise gekannt hatte: Wir waren im College befreundet gewesen. Damals wollte auch sie Schriftstellerin werden. Stattdessen wurde sie Psychologin. Sie arbeitet seit zehn Jahren in dem Zentrum, das an eine große psychiatrische Klinik angegliedert ist, eine kurze Busfahrt außerhalb von Manhattan. Die Frauen, mit denen sie arbeitete, hatten gut auf Kunsttherapie reagiert (später sah ich einige ihrer Zeichnungen und fand sie höchst verstörend). Sie glaubte, dass Schreiben vielleicht noch hilfreicher sein könnte, da es auch anderen traumatisierten Personen wie Kriegsveteranen mit posttraumatischer Belastungsstörung geholfen hatte.
Ich sagte zu. Als gemeinnütziger Einsatz, als Gefallen für eine alte Freundin und als Schriftstellerin.
Ich dachte an die heftig gepiercte und tätowierte junge Frau, die ich ein paar Monate zuvor bei einem Workshop anlässlich einer Schriftstellerkonferenz im Sommer kennengelernt hatte. Es war ein literarischer Workshop, doch was sie schrieb, war mehr ein Memoir – nennen wir es Autofiktion, Selbsterfindung, Realitätsdichtung, was immer –, die in der ersten Person erzählte Geschichte von Larette, einem Mädchen, das in die Prostitution verkauft worden war.
Was sie schrieb, war vor allem aus drei Gründen gut: keine Sentimentalitäten, kein Selbstmitleid, aber mit Sinn für Humor. (Wenn Letzteres unwahrscheinlich klingt, versuche man, auch nur ein Beispiel für ein gutes Buch zu finden, das nicht irgendetwas Komisches enthält, gleichgültig, wie düster das Thema ist. Wenn ein Mensch Sinn für Humor hat, haben wir das Gefühl, ihm vertrauen zu können, sagt Milan Kundera.) Eine dieser Lebensgeschichten, die abgemildert werden musste, um glaubwürdig zu sein. (Leser wären erstaunt, wie oft Schriftsteller das tun.) Sie hatte zwei Jahre in einem Rehabilitationsheim verbracht, gegen Drogensucht, Scham und die Versuchung gekämpft, zu ihrem Zuhälter zurückzugehen, dessen Name an drei verschiedenen Stellen auf ihren Körper tätowiert war. Später schrieb sie sich in einem Community College ein, wo sie auch ihren ersten Schreibkurs belegte.
Wie viele Leute, die ich getroffen habe, glaubt sie, dass ihr das Schreiben das Leben gerettet hat.
Was Schreiben als Selbsthilfe angeht, warst du immer skeptisch. Du hast gern Flannery O’Connor zitiert: Nur die Begabten sollten für die Öffentlichkeit schreiben.
Aber wie selten trifft man eine Person, die der Ansicht ist, alles, was sie geschrieben hat, sollte privat bleiben. Und wie oft trifft man jemanden, der glaubt, alles, was er schreibt, räumt ihm nicht nur das Recht auf Öffentlichkeit, sondern auch auf Ruhm ein.
Du hast geglaubt, die Leute wären auf dem falschen Weg. Du hast geglaubt, das, wonach sie suchen – Selbstdarstellung, Gemeinsamkeit, Anschluss – findet man besser woanders. Gemeinsames Singen und Tanzen. Quiltgruppen. Das hätten die Menschen in der Vergangenheit getan, hast du gesagt. Schreiben ist zu schwer! Nicht umsonst sagte Henry James, dass jeder, der Schriftsteller sein will, seinem Banner das Wort Einsamkeit einschreiben muss. Schreiben ist Frustration und Demütigung, sagte Philip Roth. Er verglich es mit Baseball: Zwei Drittel der Zeit versagt man.
Das ist die Realität, hast du gesagt. Doch in unserem aufs Schreiben versessenen Zeitalter, sei die Realität verloren gegangen. Jetzt schreibt jeder, so, wie jeder kackt, und wenn das Wort Begabung fällt, würden viele gern zur Waffe greifen. Die vermehrten Möglichkeiten zum Veröffentlichen im Selbstverlag sind eine Katastrophe, hast du gesagt. Der Tod der Literatur. Was den Tod der Kultur bedeutet. Und du hast gesagt, dass Garrison Keillor recht hat: Wenn alle Schriftsteller sind, ist es niemand. (Andererseits war das genau die Sorte Behauptung, vor der du uns gewarnt hast: Klingt gut, aber bei näherer Betrachtung fällt sie in sich zusammen.)
Nichts davon ist so neu, wie es sich vielleicht anhört.
Schreiben und veröffentlicht werden ist immer weniger etwas Besonderes. Warum nicht auch ich?, fragt jeder.
Schrieb der französische Kritiker Sainte-Beuve.
1839.
Nicht, dass du mir davon abgeraten hättest, an diesem Zentrum zu unterrichten. Ich kann mir vorstellen, dass es sehr deprimierend sein kann, hast du gesagt, aber es wird nicht uninteressant.
Ja, es war deine Idee, dass ich darüber schreiben sollte.
Die Frauen im Opferzentrum wurden dazu angehalten, Tagebuch zu führen. Oder, wie meine Freundin, die Psychologin, es ausdrückte, zu tagebuchen. Die Tagebücher sind privat, sagte sie. Manche Frauen hatte der Gedanke beunruhigt, dass jemand lesen könnte, was sie schrieben, und sie hatte ihnen zugesichert, dass das nicht der Fall sei. Sie konnten schreiben, was immer sie wollten, sie waren vollkommen frei, da sie wussten, dass niemand anders es lesen würde. Nicht einmal sie.
Sie schlug vor, dass diejenigen, für die Englisch eine Fremdsprache war, in ihrer Muttersprache schreiben sollten.
Manche Frauen versteckten ihre Tagebücher gewissenhaft, wenn sie nicht darin schrieben. Andere trugen ihr Tagebuch immer mit sich. Doch ein paar wenige bestanden darauf, zu zerstören, was immer sie geschrieben hatten, entweder sofort oder kurz darauf. Und auch das war in Ordnung, sagte sie.
Die Frauen sollten jeden Tag mindestens eine Viertelstunde schreiben, schnell, ohne lange zu überlegen oder sich ablenken zu lassen. Sie schrieben mit der Hand, in Notizbücher, die ihnen das Zentrum zur Verfügung stellte (meine Freundin glaubt an Studien, die belegen, dass mit der Hand schreiben gut für die Konzentration ist und liniertes Papier einladender ist als ein leerer Bildschirm, um Intimitäten und Geheimnisse aufzunehmen).
Natürlich weigerten sich ein paar der Frauen, zu tagebuchen.
Dieselben Frauen, die wütend auf mich werden, wenn ich sie auffordere, sich schlimmen Erfahrungen zu stellen, sagte sie. Du musst verstehen, was diese Frauen durchgemacht haben. Für die meisten begannen die Misshandlungen nicht erst, als sie verkauft wurden. (Ich muss von Geburt an Gewalt erlebt haben.) Manche wurden von Mitgliedern ihrer eigenen Familie vorsätzlich in Gefahr gebracht – in einigen Fällen regelrecht verkauft. Und nur, weil sie jetzt nicht mehr misshandelt werden, heißt das nicht, dass sie nicht noch leiden. Irgendwann frage ich jede, was sie glaubt, dass das Beste wäre, das ihr passieren könnte, und ich kann dir gar nicht sagen, wie viele antworten: Ich glaube, das Beste wäre, ich würde sterben.
Doch es gab auch eine Gruppe Frauen, die sehr gern Tagebuch führten, oft viel länger als eine Viertelstunde am Tag schrieben. Meine Freundin wollte diesen Frauen die Gelegenheit geben, an einem Workshop teilzunehmen, an einem sicheren Ort, wo sie nicht nur schreiben, sondern das Geschriebene miteinander und mit einer Lehrerin teilen konnten. Unter denen, die sich angemeldet hatten, sagte sie, könne ich mit einem gewissen Niveau an Englisch rechnen, aber nicht alle seien Muttersprachlerinnen. Doch auch die Muttersprachlerinnen hätten Bedenken, insbesondere Orthographie und Grammatik bereiteten ihnen Sorgen. Sie hatte den Frauen gesagt, sie sollten wie in ihren Tagebüchern nicht auf Orthographie und Grammatik achten.
Es ist wichtig, dass du diese Fehler ignorierst, sagte sie. Ich weiß, dass das nicht einfach für dich sein wird, aber diese Frauen haben genug Probleme mit ihrem Selbstwertgefühl, und wir wollen sie nicht blockieren.
Ich dachte an ein Gedicht von Adrienne Rich mit Zeilen, die ein Student in einem frei zugänglichen Kurs am City College von New York geschrieben hatte. Menschen in Armut leiden stark. … Ein paar Leide sind:
Meine Freundin zeigte mir die Bilder, die die Frauen gezeichnet hatten: kopflose Körper, brennende Häuser, Männer mit Mündern wie wilde Tiere, nackte Kinder, denen in die Genitalien oder ins Herz gestochen wurde.
Sie spielte mir Tonbandaufnahmen vor, die ein paar Frauen als Zeugenaussagen gemacht hatten, und die Zeichnungen erwachten zum Leben.
Ich nenne sie immer Frauen, sagte sie. Aber viele von ihnen sind noch Mädchen. Und das sind oft die tragischsten Fälle. Wir haben eine Vierzehnjährige hier, die letzten Monat aus einem Haus gerettet wurde, in dem sie im Keller an eine Liege gekettet war. Wenn zum sexuellen Missbrauch noch Gefangenschaft kommt – dann ist die Schädigung am gravierendsten. Im Augenblick ist das Mädchen nicht in der Lage, zu sprechen. Mit ihren Stimmbändern ist alles in Ordnung – die Ärzte können jedenfalls nichts finden –, aber sie schweigt hartnäckig. Wir sehen hin und wieder diese psychosomatischen Symptome: Stummheit, Blindheit, Lähmungserscheinungen.
Meine Freundin wollte, dass ich mir einen schwedischen Film mit dem Titel Lilja 4-Ever ansehe. Ich hatte ihn schon gesehen, vor Jahren, als er anlief. Damals wusste ich nicht, dass er auf einer wahren Geschichte beruhte. Ich wusste überhaupt nicht viel darüber; ich hatte eines Tages spontan beschlossen, ihn anzuschauen, weil mir ein früherer Film des Regisseurs gefallen hatte und er in einem nahen Kino gezeigt wurde. Es ist mehr als nur wahrscheinlich, dass ich Lilja 4-Ever nicht angeschaut hätte, hätte ich gewusst, was mich erwartete. Die Erfahrung ist unauslöschlich: Sogar über zehn Jahre später musste ich ihn mir nicht noch einmal ansehen.
Lilja ist ein sechzehnjähriges Mädchen, das mit ihrer Mutter in einem trostlosen Sozialbau irgendwo in der früheren Sowjetunion lebt. Sie glaubt, dass sie und ihre Mutter und der Freund der Mutter gemeinsam in die USA emigrieren werden, doch als es so weit ist, wird Lilja zurückgelassen. Dann übernimmt eine herzlose Tante die Wohnung und zwingt Lilja, in ein dreckiges Loch zu ziehen. Allein und mittellos rutscht Lilja in die Prostitution.
Lilja hat gelernt, von den Leuten in ihrer Umgebung nur Grausamkeit und Verrat zu erwarten. Die einzige Ausnahme ist Wolodja, ein Junge, der ein paar Jahre jünger ist als sie und von seinem betrunkenen Vater misshandelt wird. Wolodja liebt Lilja, die sich mit ihm anfreundet und ihn aufnimmt, als sein Vater ihn hinauswirft. Gemeinsam erleben die beiden verwahrlosten Kinder ein paar glückliche Augenblicke. Doch Liljas Leben ist überwiegend unerbittlich.
Hoffnung kommt in Gestalt eines gut aussehenden jungen Schweden mit sanfter Stimme namens Andrej. Er erzählt Lilja, die sich sofort in ihn verliebt, dass sie mit seiner Hilfe nach Schweden ziehen und ein neues Leben beginnen kann. Sie ergreift die Gelegenheit beim Schopf trotz der Folgen für Wolodja, der sich aufgrund der Abreise seiner einzigen Freundin auf der Welt das Leben nimmt.
Wolodja taucht im Film weiterhin als Engel auf.
Lilja trifft allein in Schweden ein (Andrej hat ihr versprochen, nachzukommen) und wird von einem Mann am Flughafen abgeholt, der sie angeblich unter seine Fittiche nehmen wird. Der Mann fährt sie zu ihrem neuen Zuhause, einem Apartment hoch über der Straße, und sperrt sie ein. Rapunzel, Rapunzel. Er ist der Erste, der sie vergewaltigt. Liljas neues Leben hat begonnen. Jetzt wird sie Tag für Tag zu Kunden gebracht – eine große Bandbreite an Typen jeden Alters –, von denen keiner zulässt, dass ihre offensichtliche Jugend und die offensichtliche Tatsache, dass sie genötigt wird, seine Lust beeinträchtigen. Im Gegenteil, alle verhalten sich, als wäre Lilja für die Sexsklaverei geboren.
Als sie das erste Mal zu flüchten versucht, wird sie erwischt und geschlagen. Beim zweiten Mal sieht man sie auf einer Autobahnbrücke stehen. Eine Polizistin nähert sich ihr, um ihr zu helfen, doch Lilja gerät in Panik und springt.
Nachdem das Mädchen, auf dessen Geschichte Lilja 4-Ever basiert, gesprungen war, fand man bei ihrer Leiche ein paar Briefe, die sie geschrieben hatte. Auf diese Weise wurde ihre Geschichte bekannt.
Ich sah den Film in dem kleinen Arthouse-Kino in meinem Viertel an einem Nachmittag unter der Woche. Es war nur eine Handvoll Zuschauer da. Ich erinnere mich, dass ich nach dem Ende des Films warten musste, bis ich mich wieder gefasst hatte, bevor ich das Kino verlassen konnte. Es war ein demütigendes Gefühl. Mehrere Reihen vor mir saß eine Frau, die ebenfalls allein gekommen war und jetzt schluchzte. Als ich schließlich ging, saß sie noch immer schluchzend da. Ich fühlte mich auch für sie gedemütigt.
Laut meiner Freundin wird Lilja 4-Ever häufig in Hilfsorganisationen und Menschenrechtsgruppen vorgeführt, sowie in Schulen in Gegenden, wo Menschenhändler Mädchen bekanntermaßen besonders im Auge haben.
Nicht brutal genug, lautete die Reaktion einer Gruppe moldawischer Prostituierter, die man gebeten hatte, sich den Film anzusehen.
Noch schockierter war ich, als ich hörte, wie der Regisseur sagte, er glaube, dass Lilja bei Gott sei (wie Wolodja erscheint sie nach ihrem Tod als Engel auf der Leinwand), dass er ohne diesen Glauben den Film nicht hätte machen können. Ich glaube, ich hätte mich umgebracht, sagte er.
Und was, glaubt er, sollen die tun, die diesen Glauben nicht haben, die nicht eine Minute darauf zählen, dass die Liljas dieser Welt bei Gott sind?
Meine Freundin sagte: Menschen, die selbst Opfer von Ungerechtigkeit und Ausbeutung sind wie die Leute, die in Liljas Slum festsitzen, haben vielleicht ein gewisses Verständnis dafür, wie sie sich gegenseitig misshandeln. Vielleicht können sie einander sogar verzeihen, sagte sie. Aber das verwahrloste Verhalten all dieser privilegierten Mitglieder des reichen nordischen Wohlfahrtsstaates – das ist schwieriger zu akzeptieren.
Ich habe einmal ein Foto in einer Zeitschrift gesehen: Eine lange Schlange Männer vor einer Hütte, in der ein paar Prostituierte im Teenageralter arbeiteten. Ich weiß nicht mehr, in welchem Teil der Welt es war. Ich erinnere mich aber noch, dass die Männer nichts Ungewöhnliches an sich hatten. Mehrere von ihnen rauchten Zigaretten. Der eine blickte auf die Uhr, der andere betrachtete den Himmel, wieder ein anderer las Zeitung. Insgesamt eine Atmosphäre geduldiger Langeweile. Sie hätten auf einen Bus oder vor dem TÜV warten können.
Meine Freundin erzählte mir von einem anderen Fall. Wieder fanden die Ärzte keine Verletzung und keine Krankheit, die die Patientin am Sprechen gehindert hätten. Aber sie sprach nicht. Auf den Vorschlag, ein Tagebuch zu schreiben, reagierte sie begeistert. In einer Woche füllte sie einen ganzen Stapel Notizbücher. Sie hatte eine erstaunlich verkrampfte Handschrift, es waren die winzigsten Buchstaben, die du dir vorstellen kannst, sagte meine Freundin. Ihr beim Schreiben zuzusehen war furchterregend. Ihre Hand schwoll an, ihre Finger waren mit Blasen überzogen und bluteten, aber sie wollte – konnte – nicht aufhören.
Wir haben nie erfahren, was sie geschrieben hat, weil sie es uns nicht gezeigt hat, sagte meine Freundin. Aber es würde mich nicht wundern, wenn es überwiegend immer wieder dasselbe und unsinnig war. Glücklicherweise konnten wir ihr Medikamente geben, die ihr dabei halfen, mit dem manischen Schreiben aufzuhören und wieder zu sprechen.
Auch Larette durchlebte nach eigenen Angaben eine Phase der Stummheit. Wann immer sie versuchte, zu sprechen, zog sich ihre Kehle schmerzhaft zusammen, als würden sie unsichtbare Hände würgen.
Trotz der Schmerzen versuchte ich es immer wieder, aber ich brachte nur ein trockenes Fiepsen heraus wie eine asthmatische Maus, und die Leute mussten lachen. Ich schämte mich so, dass ich es nicht mehr versuchte. Wenn ich etwas sagen wollte, schrieb ich es auf oder benutzte eine Art Zeichensprache oder formte die Worte lautlos. Trotzdem hatte ich ständig Halsweh.
In der Therapie erinnerte sie sich an einen Vorfall, an den sie seit vielen Jahren nicht mehr gedacht hatte. Er hatte mit ihrer Großmutter zu tun, die sie möglichst aus ihren Gedanken verbannte. Als Larette zehn war, erstach ein Freund ihre Mutter. Da kein Vater vorhanden war, wurde sie der Obhut ihrer Großmutter übergeben. Larette bezeichnete diese Frau, eine zunehmend verzweifelte Meth-Süchtige, als »meine erste Sklavenhalterin«.
Sie hat mich als Erste an Männer verkauft. Ich weiß noch, wie wir am Küchentisch saßen, und sie stand auf und ging zum Kühlschrank. Sie öffnete das Gefrierfach und holte ein Eis mit zwei Stielen heraus, packte es aus und brach es in zwei Hälften. Ich erinnere mich, dass es Kirsche war, meine Lieblingssorte. Sie steckte mir eine Hälfte in den Mund. Ich zeig’s dir, Schätzchen. Sie steckte sich die andere Hälfte in den Mund und fing an, sie zu bearbeiten.
Das war eine der Erinnerungen, von denen Larette nicht wusste, ob sie sie in ihr Buch aufnehmen sollte. Sie hatte Angst, es würde zu erfunden klingen. Sie löschte sie immer wieder, setzte sie wieder ein, löschte sie wieder.
Ich kenne eine andere Frau, eine Schriftstellerin, die ihren Lebensunterhalt zeitweise als Sexarbeiterin verdient hat. Sie widerspricht der neuesten Denkweise, die behauptet, jede Prostituierte sei ein Opfer von Menschenhandel. Sie verlangt, dass eine klare Grenze gezogen wird zwischen einer Sklavin und einer freien und freiwilligen Sexarbeiterin wie ihr. Bordellrazzien, Undercovereinsätze gegen Freier und öffentliche Bekanntgabe der Namen von Freiern bringen sie in Rage.
Gott schütze uns vor den Rettern in der Not, sagt sie. Warum ist es so schwer, zu glauben, dass wir nicht alle gerettet werden müssen oder wollen? Aber war es andererseits der Gesellschaft nicht schon immer unmöglich, zu akzeptieren, dass es strikt ihre eigene Angelegenheit ist, was eine Frau mit ihrem Körper macht?
Diese Frau erzählte gern die Geschichte der französischen Schauspielerin Arletty, die 1945 wegen Landesverrats verurteilt wurde, weil sie während der Besatzung eine Affäre mit einem deutschen Offizier hatte. Zu ihrer Verteidigung sagte sie: Mein Herz ist französisch, aber mein Arsch ist international. (Meine Freundin zieht eine andere, prägnantere Version von Arlettys berühmter Bemerkung vor: Mein Arsch ist nicht Frankreich.)
Meine Freundin, die Sexarbeiterin, sagt, dass es sie erstaune, wie naiv die meisten Frauen seien. Sie haben keine Ahnung, dass die meisten Männer Sex mit einer Prostituierten hatten, darunter ihre Väter und Brüder, Freunde und Männer. Ich habe Larette das Gleiche sagen gehört – so, wie ich Männer sagen gehört habe, dass sie es bezweifeln, wenn Männer behaupten, sie hätten nie für Sex gezahlt.
Kürzlich erklärte eine ehemalige Prostituierte, die in einem Vorort-Motel arbeitete, in einer Dokumentation im Fernsehen, dass der Montagmorgen ihre betriebsamste Zeit sei: Offenbar ist nichts so gut für das Geschäft wie ein Wochenende mit Frau und Kindern.
Ich fragte meine Freundin einmal, ob es ihr Spaß mache, Sexarbeiterin zu sein. Ich war sehr sicher, dass sie mit Ja antworten würde. Doch sie sah mich an, als hätte sie nicht recht gehört. Ich mache es fürs Geld, sagte sie. Das hat überhaupt nichts mit Spaß zu tun. Wenn ich vom Schreiben leben könnte, würde ich es überhaupt nicht tun. Es ist einfacher als unterrichten, sagte sie.
Ich musste versprechen, nichts von dem zu verwenden, was die Frauen in dem Workshop schrieben. Aber meine Freundin, die Psychologin, war einverstanden, dass ich über sie und ihre Arbeit schreibe. Du hast auf deine großzügige Art und Weise einem Lektor, mit dem du zufälligerweise zum Mittagessen verabredet warst, die Idee vorgeschlagen. Bald hatte ich einen Vertrag und einen Abgabetermin.
Nicht lange nach dem College-Abschluss publizierte meine Freundin ein paar Erzählungen. Die Zeitschriften, in denen sie erschienen, waren klein, aber renommiert, die Art literarischer Magazine, die mit großer Aufmerksamkeit verfolgt werden. Eine der Geschichten gewann einen Preis, und später im selben Jahr wurde sie noch für einen wesentlich höher dotierten Preis nominiert, der jährlich an vielversprechende junge Autoren vergeben wird, und gewann ihn.
Ich wollte wissen, warum sie aufgehört hatte, zu schreiben.
Es war nicht wirklich eine Entscheidung, meinte sie. Es ist einfach passiert. Ich hatte angefangen, einen Roman zu schreiben, und hatte Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren, und jemand, den ich kannte, schlug vor, dass ich es mit Meditation versuchen sollte. So kam ich zum Buddhismus. Ich verbrachte einen Monat in einem Retreat und lernte zu meditieren, und seitdem tue ich es. Ich weiß, dass sich viele Schriftsteller für den Buddhismus interessieren – und wer meditiert heutzutage nicht oder macht kein Yoga? Und ich weiß, dass manche Leute sagen, dass Meditation ihnen bei ihrer Karriere geholfen hat. Aber als ich anfing, mich für den Buddhismus zu interessieren, stellte ich fest, dass das nicht zusammengeht mit dem Wunsch, Schriftstellerin zu sein.
Doch um es klarzustellen, ich habe nie aufgehört, zu schreiben. Das musste ich nicht. Zum einen führe ich Tagebuch – ja, ich betrachte das Tagebuch als eine Art Meditation –, und ich schreibe Gedichte. Die Dinge, die ich jeden Tag bei der Arbeit sehe, sind sehr verstörend, und ich finde, dass Dichten hilft. Nicht, dass ich je über die Arbeit schreiben würde. Meine Gedichte handeln in der Regel von der Schönheit der Welt – von der Natur vor allem. Es sind keine besonders guten Gedichte, das weiß ich, und ich verspüre nicht den Wunsch, sie jemandem zu zeigen. Gedichte zu schreiben ist für mich wie Beten, und Beten ist nicht etwas, das man gemeinsam mit anderen Leuten tun muss.
Es war nicht so, dass ich mich völlig aus der Welt zurückziehen wollte. Ich wollte keine buddhistische Nonne oder dergleichen werden. Aber wie gesagt, ich hatte Zweifel am Beruf der Schriftstellerin. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich eine literarische Karriere mit dem Ziel, frei von Bindungen zu werden, in Einklang bringen sollte. Kurz nach dem buddhistischen Retreat war ich eine Zeitlang in einer Künstlerkolonie – ich hoffte, mit dem Roman weiterzukommen. Ich weiß noch, dass ich die anderen Leute dort – manche standen wie ich erst am Anfang, andere waren schon etabliert – angesehen und mich gefragt habe, was es – abgesehen von Talent natürlich – braucht, um Erfolg zu haben. Man muss ehrgeizig sein, richtig ehrgeizig, und wenn man etwas wirklich Gutes schaffen will, muss man getrieben sein. Man muss übertreffen wollen, was andere gemacht haben. Man muss glauben, dass das, was man selber macht, unglaublich ernsthaft und bedeutend ist. Und all das schien mir im Widerstreit zu stehen mit dem Wunsch, zu lernen, wie man stillsitzt. Loszulassen.
Und obwohl Schreiben eigentlich kein Wettkampf sein soll, begriff ich, dass Schriftsteller die meiste Zeit glauben, dass es einer ist. Während ich in der Künstlerkolonie war, bekam ein Autor einen so großen Vorschuss, dass die Times darüber berichtete. An diesem Abend sagte er beim Essen: Da gehen meine letzten zwei Freunde. Es war natürlich als Scherz gemeint, aber mir ist aufgefallen, wenn ein Schriftsteller großen Erfolg hat, wird viel Mühe darauf verwendet, diese Person abzuschießen.
Und mir schien auch, dass alle in erster Linie an Geld dachten. Das habe ich nicht verstanden. Wer um alles in der Welt wird Schriftsteller wegen des Geldes? Ich weiß noch, im ersten Schreibkurs sagte der Lehrer: Wenn ihr Schriftsteller werden wollt, müsst ihr als Erstes einen Eid auf Armut schwören. Und niemand im Raum hat auch nur mit der Wimper gezuckt.
Mir schien, dass sich alle Schriftsteller, die ich kannte – und damals waren das so gut wie alle, die ich kannte –, in einem Zustand chronischer Frustration befanden. Die Leute regten sich ständig darüber auf, wer was bekam und wer übergangen wurde und wie schrecklich ungerecht das ganze Geschäft war. Das war sehr verwirrend. Warum musste es so sein? Warum waren alle Männer so arrogant, und warum waren so viele von ihnen auf Sex aus? Warum waren alle Frauen so wütend und depressiv? Wirklich, es war schwer, nicht Mitleid mit ihnen zu haben.
Wann immer ich zu einer Lesung gegangen bin, war es mir unwillkürlich peinlich für den Autor. Ich habe mich gefragt, ob ich selbst dort oben sitzen wollte, und die ehrliche Antwort war, nein, auf keinen Fall. Und so ging es nicht nur mir. Man konnte es auch bei den anderen spüren, dieses Unbehagen. Und ich dachte: Das hat Baudelaire gemeint, als er davon sprach, dass Kunst Prostitution ist.
Ich kämpfte noch immer mit dem Roman. Und eines Tages sagte ich mir: Schreib das Buch nicht. Gab es nicht Millionen andere Leute, die einen Roman in die Welt setzen wollten? Gab es nicht tatsächlich schon zu viele Romane? Glaubte ich wirklich, dass meiner vermisst würde? Und konnte ich mein Leben als Schriftstellerin rechtfertigen, mein einziges wildes und kostbares Leben, wenn ich etwas tat, das ungetan nicht vermisst würde?
Ungefähr zur selben Zeit hörte ich im Radio ein Interview mit einem Autor. Ich weiß nicht mehr, wer es war, aber für mich hätte es genauso gut Gott sein können. Ich erinnere mich, dass er sagte, würde nächstes Jahr statt der schwindelerregenden Anzahl an Erzählungen und Romanen, die definitiv publiziert werden, kein einziges literarisches Werk veröffentlicht, hätte es keinerlei Auswirkung auf die Welt. Das stimmt natürlich nicht, weil es vermutlich eine nicht unbedeutende Wirkung auf die Wirtschaft hätte. Aber ich wusste, was er meinte, und ich hatte das Gefühl, er würde es mir persönlich sagen. Und da sagte ich mir: Du musst dein Leben ändern.
Nicht, dass ich es nicht auch bedauerte. Oft hatte ich das lausige Gefühl, dass ich zu schnell aufgegeben habe, dass ich zu faul oder zu feige gewesen bin, meinen Traum zu verwirklichen. Aber wenn ich einen Beweis dafür brauchte, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe, musste ich mir nur anschauen, was ich selbst las. Ich war eine leidenschaftliche Leserin gewesen, doch im Lauf der Jahre habe ich mich immer weniger für das Lesen interessiert, insbesondere für Belletristik. Vielleicht hat es mit der harten Realität zu tun, die ich tagtäglich vor Augen habe, aber Geschichten über erfundene Menschen mit erfundenen Leben voller erfundener Probleme haben mich zunehmend gelangweilt.
Eine Weile habe ich noch gelesen. Ich habe immer mal wieder ein Buch gekauft, das alle als Meisterwerk oder den großen amerikanischen Roman oder was auch immer bezeichnet haben, und in der Hälfte der Fälle habe ich es nicht zu Ende gelesen. Oder wenn ich es zu Ende gelesen habe, habe ich mich nicht daran erinnert. Meistens habe ich es sofort vergessen, kaum hatte ich es zugeschlagen. Dann habe ich fast völlig aufgehört, Belletristik zu lesen, und mir wurde klar, dass ich es nicht vermisse.
Was, wenn sie selbst nicht aufgehört hätte, zu schreiben?, fragte ich. Glaubte sie, dass sie auch dann das Interesse am Lesen verloren hätte?
Ich weiß es nicht, sagte sie. Ich weiß nur, dass ich viel glücklicher bin mit dem, was ich jetzt tue, als ich je sein könnte, würde ich tun, was du tust.
Vielleicht war es ein Kompliment, dass sie glaubte, mir all das sagen zu können, ohne Angst haben zu müssen, meine Gefühle zu verletzen.
Studierende, die ein Creative-Writing-Studium abschließen und dann … das Schreiben aufgeben. Du und ich kannten diesen Typ. In jedem Kurs schien einer zu sein, und wir haben uns immer gefragt: Warum waren es so oft die, die am vielversprechendsten waren? (Wie im Fall von Ehefrau Eins.)
Schreiben Sie über einen Gegenstand. Schreiben Sie über etwas, das Ihnen wichtig ist oder war. Der Gegenstand kann alles sein. Beschreiben Sie den Gegenstand, dann schreiben Sie darüber, warum er für Sie wichtig ist.
Eine Frau schrieb über Zigaretten. Ihre besten Freunde nannte sie sie. Sie hatte mit acht angefangen, zu rauchen. Ohne sie hätte ich mein Leben nie durchgestanden, sagte sie. Ich rauche lieber, als dass ich irgendwas anderes tue. Eine andere Frau schrieb über das Messer, das sie benutzt hatte, um sich zu verteidigen. Sie war nicht die Einzige, die über eine Waffe schrieb. Doch ungefähr die Hälfte der Frauen schrieb über Puppen. Bis auf eine fanden alle Puppen ein schlimmes Ende. Sie gingen verloren oder wurden zerbrochen oder auf eine andere Weise zerstört. Die eine Puppe, die diesem Schicksal entging, war jetzt versteckt an einem geheimen Ort, und die Verfasserin hoffte, sie eines Tages von dort holen zu können. Mehr schrieb die Frau nicht. Sie schüttelte den Kopf, als ich sie daran erinnerte, dass sie den Gegenstand eigentlich beschreiben sollte. Wenn sie das täte, würde sie womöglich das Böse anziehen, sagte sie. Die Puppe würde Schaden nehmen, sie würde sie nie wiedersehen.
Nachdem ich Woche für Woche auf der Busfahrt nach Hause die Geschichten der Frauen gelesen hatte, erschienen sie mir wie eine große Geschichte, wie ein und dieselbe Geschichte, die wieder und wieder erzählt wird. Immer wird jemand geschlagen, immer leidet jemand Schmerzen. Immer wird jemand wie eine Sklavin gehalten. Wie ein Ding.
Ein paar Leide sind:
Die gleichen Substantive: Messer, Gürtel, Seil, Flasche, Faust, Prellung, Blut. Die gleichen Verben: zwingen, schlagen, peitschen, verbrennen, würgen, hungern, schreien.
Schreiben Sie ein Märchen. Für manche die Gelegenheit für Rachephantasien. Erneut immer eine Geschichte von Gewalt und Demütigung. Immer das gleiche Vokabular.
Nichts Geschriebenes ist vergeblich, hast du immer gesagt. Auch wenn etwas nicht funktioniert und man es am Ende wegwirft, man lernt immer etwas als Schriftsteller.
Das habe ich gelernt: Simone Weil hatte recht. Das imaginäre Böse ist romantisch und vielfältig; das reale Böse ist düster, einförmig, öde, langweilig.
Das war das Letzte, worüber du und ich gesprochen haben. Danach kam nur noch deine E-Mail mit der Liste der Bücher, von denen du glaubtest, dass sie für meine Recherche hilfreich sein könnten. Und, weil es der Jahreszeit entsprach, die besten Wünsche für das neue Jahr.