P ain und Agony verließen den Tatort durch die Vordertür, schoben sich an dem immer noch tadellosen, gelben Tatortband vorbei und gingen zu Bertha.
»Sie war ein süßes Kind«, sagte Pain, als er sich anschnallte und Agony zum Leichenschauhaus fuhr.
»Und sie wird immer noch ein süßes Kind sein, wenn wir sie finden.« Sie war nicht in der Stimmung, über das Kind in der Vergangenheit zu reden.
Als sie am Klavierzimmer vorbeigekommen waren, hatte sie sich einen kleinen Winnie und einen kleinen Tigger geschnappt, den sie Shayla persönlich überreichen wollte. Sie hatte sogar einen I-Aah hinzugefügt, damit das Kind jemanden hatte, mit dem es sich identifizieren konnte, denn natürlich würde der Hundertmorgenwald nie wieder derselbe sein.
»Wir müssen essen«, sagte er.
»Jetzt?« Sie ließ den Fuß auf dem Gaspedal, während sie der Navi-Route aus Oakdale heraus folgte.
»Jetzt.« Er war bei solchen Sachen immer hartnäckig. »Zwei Tassen Kaffee und eineinhalb Donuts werden nicht ausreichen, um mich durch den Rest des Tages zu bringen.«
Sie wollte darauf hinweisen, was für Weicheier Regierungsbeamten waren, aber ihr Magen erinnerte sie plötzlich daran, dass sie in einem Glashaus lebte und sich die Steine für später aufheben sollte.
»Vorliebe?«
»Alles, nur nicht bei Kwan’s .« Er schaffte es, leicht zu grinsen. »Ich würde das lieber für so viele Stunden wie möglich vermeiden.«
Agony fuhr Bertha in den ersten Drive-in, den sie finden konnte. Es war kein Restaurant, das Happy Meals anbot. Das war auch gut so, denn das wäre angesichts des Ortes, den sie gerade verlassen hatten, zu ironisch gewesen.
Ein paar Roastbeef-Sandwiches, aus denen der warme Käse herausquoll, begleitet von großen, scharfen Pommes frites und zwei Bechern, gefüllt mit Doktor Peppers, wurden ans Fenster geliefert, dann lenkte sie Bertha in eine Parklücke. Es war schwer, sich auf einen Fall zu konzentrieren, wenn der Magen leer war und schwer, sich auf das Fahren zu konzentrieren, wenn der Käse jeden Moment in den Schoß zu tropfen drohte.
Sie kramte nach einer Serviette, um etwas Käse abzuwischen, als ihr Handy klingelte. Es war eine Nummer, die sie nicht kannte, also legte sie das Mobiltelefon auf das Armaturenbrett und stellte es auf Lautsprecher. Zwischen den Bissen, die sie mithilfe des guten Doktors heruntergespült hatte, befand sie, dass entweder sie oder ihr Partner in der Lage sein würden, ein Gespräch zu führen.
»P&A Schädlingsbekämpfung«, war alles, was sie zur Begrüßung zwischen zwei Bissen herausbrachte.
»Hallo?«, sagte eine fast vertraute Stimme. »Hier spricht Samuel Gaughn aus dem städtischen Leichenschauhaus.«
»Samuel?« Sie zögerte.
»Abbott und Costello«, flüsterte Pain zwischen zwei majogarnierten Pommes. Das Wiedererkennen in Alicias Gesicht setzte ein.
»Sammy!« Sie nahm einen schnellen Schluck durch den Strohhalm. »Es ist schön, von Ihnen zu hören. Wir waren eigentlich auf dem Rückweg zu Ihnen. Als steuerzahlende Bürger sind mein Partner und ich zu dem Schluss gekommen, dass wir mit den Informationen, die Sie uns bei unserem ersten Besuch vorhin geben konnten, nicht ganz zufrieden waren.«
»Dann kann ich Ihnen hoffentlich die Fahrt ersparen.« Er klang aufrichtig versöhnlich. »Unsere Schicht endet gleich, aber Tommy und ich haben unser Bestes getan, um die fragliche Leiche ausfindig zu machen und glauben, dass wir ihren derzeitigen Aufenthaltsort gefunden haben.«
Wenn das stimmte, war das die erste gute Nachricht, die die beiden Partner den ganzen Tag über gehört hatten.
»Sprechen Sie mit mir, Sammy«, sagte sie aufmunternd.
Sie konnten das Rascheln von Papier hören, als er seine Notizen überprüfte, bevor er fortfuhr.
»Der Ort ist das ›Miles & Ignatius Funeral Home and Mortuary‹. Ich fürchte, Tommy und ich kennen es nicht, aber ich habe die Adresse.«
»Miles und Ignatius?«, wiederholte Agony, während sie Pain ansah, der die Augen schloss und den Kopf senkte. Die gute Nachricht war anscheinend immer noch hartnäckig und wollte ihnen an diesem Tag keinen Besuch abstatten.
»Ja«, fuhr der Mann fort und versuchte hilfsbereit zu sein. »Soll ich es für Sie buchstabieren?«
»Nein, Sammy.« Sie seufzte. »Wir sind damit vertraut.«
»Leider«, fuhr er mit den guten und schlechten Nachrichten fort, »endete die Geschäftszeit von Miles und Ignatius vor einer halben Stunde, also werden Sie bis zum Morgen warten müssen, um die Leiche zu untersuchen.«
»Es scheint«, war Tommy im Hintergrund zu hören, »dass die Eltern von Justin LeVaul wollten, dass die Leiche ihres Sohnes mit aller Sorgfalt und Rücksicht behandelt wird. Da es laut den zuständigen Behörden keine Zweifel an der Todesursache gab« – ein kleiner Seitenhieb darauf, dass ›P&A Schädlingsbekämpfung‹ den mit dem Fall betrauten Detectives untergeordnet war – »wurde die Freigabe der Leiche genehmigt.«
»Mister und Misses LeVaul«, fügte Sammy hinzu und versuchte, etwas weniger aufgeregt zu klingen als sein Kollege, »kommen von außerhalb und haben sich für Miles und Ignatius entschieden, weil sie das einzige Bestattungsunternehmen sind, das so kurzfristig eine Leiche aufnehmen kann.«
Pain konnte nur traurig den Kopf schütteln, während Agony das Gespräch fortsetzte.
»Als Gefallen für Sie und Ihren netten Partner«, versuchte Sammy immer noch, sich beliebt zu machen und einen weiteren persönlichen Besuch zu vermeiden, »habe ich die Mutter des Jungen ausfindig gemacht und mit ihr gesprochen.«
»Und was hatte sie zu sagen?« Sie versuchte, in aller Ruhe so viele Informationen wie möglich zu sammeln.
»Die arme Frau war außer sich vor Kummer.« Die Stimme des Mannes wurde durch die Erinnerung weicher. »Wie jede Mutter es wäre. Der Vater brachte es nicht einmal über sich, mit uns zu sprechen. Sie müssen verstehen, dass, obwohl die vorherige Schicht im Leichenschauhaus den ganzen Papierkram erledigt hatte …«
»Papierkram«, unterbrach Tommy, »den sie nicht ordnungsgemäß eingereicht hatten, wie ich betonen möchte!«
»Es reicht, Tommy!«, schnitt Sammy seinem Partner das Wort ab. »Wir wissen inzwischen alle, dass du und ich keine Schuld an der Sache haben. Also, wo war ich?«
»Es war nicht Ihre Schuld.« Agony war froh, dass sie dieses Gespräch nicht von Angesicht zu Angesicht führten, während sie auf nüchternen Magen war, denn so konnte sie ihre Stimme vernünftig klingen lassen, während ihr Kopf eine Gewaltfantasie nach der anderen sponn.
»Gut, danke.« Sammy war kurz davor, für heute Feierabend zu machen und wollte nur noch weg. »Wir haben unser Bestes getan, um so viel wie möglich herauszufinden und uns bei Ihnen zu melden. Wir sind städtische Angestellte und Sie sind ein Teil der Öffentlichkeit und wir versuchen, so gut wie möglich zu dienen, auch wenn das manchmal bedeutet, dass wir über die uns zugewiesenen Aufgaben hinausgehen müssen.«
»Vielen Dank dafür«, bestätigte sie. »Es ist schön zu wissen, dass meine Steuergelder gut angelegt sind.«
Sammy verschwendete keinen Gedanken daran, herauszufinden, ob das Sarkasmus war oder nicht. »Aber hier ist noch etwas, von dem ich dachte, es könnte Sie interessieren.« Er warf einen Blick auf die Uhr und sah, dass er nur noch eine Minute von seinem Feierabend entfernt war. »Die Mutter fragte, ob wir etwas über die Tochter des Verstorbenen wüssten. Leider musste ich ihr sagen, dass dies nicht unsere Abteilung ist. Aber wenn Sie sich morgen mit den Eltern treffen, haben Sie vielleicht ein paar Informationen, die Sie mit ihnen teilen können?«
»Vielleicht.« Sie war vorsichtig optimistisch.
»Und außerdem …« Er hatte noch dreißig Sekunden auf der Uhr übrig. »Wenn Sie noch Beweise sammeln wollen, sobald man die Leiche für die Beerdigung vorbereitet, sind alle Beweise gefährdet, falls der Fall jemals vor Gericht kommt. Aber ich bin sicher, dass Sie sich dessen bewusst sind – oh, es ist Feierabend.«
Agony hörte, wie eine Stechuhr benutzt wurde und der Anruf endete.
Sie packten die Reste ihres Essens ein und Pain mühte sich aus dem Auto hinaus, um sie in einen Mülleimer zu werfen. Sie verbrachten so viel Zeit zusammen in Bertha, dass sie sich geschworen hatten, den Innenraum so frei von Styropor und Papierverpackungen zu halten, wie sie konnten.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich bis morgen warten will«, sagte sie ihm, als er zurück auf seinen Sitz rutschte. »Wir sind doch alle alte Freunde, oder?«
»›Und weit zu wandern bis zum Ruh’n‹.« Pain zitierte eine seiner Lieblingsgedichtzeilen von Robert Frost und amüsierte sich über das Wortspiel, während er die Adresse des ihnen bereits bekannten Bestattungsunternehmens in Berthas Navi eingab.
* * *
Es war irgendwie beruhigend zu wissen, dass in einer Welt, die sich ständig weiterzuentwickeln schien, einige Dinge unerschütterlich gleich blieben. Das Bestattungsunternehmen ›Miles & Ignatius Funeral Home and Mortuary‹ schien eines davon zu sein.
Die Sonne hatte sich kaum unter den Horizont gesenkt, als Agony vor dem Haus parkte, aber das Verbrechen richtete seine Uhr nicht nach der Bewegung der Himmelskörper am Himmel. Das Verbrechen und seine Täter konzentrierten sich auf Körper, die niemand jemals mit dem Himmel verwechseln würde.
»Ernsthaft?«, fragte sie, als sie ausstiegen und den Bass hörten, der die Scheiben des großen Geländewagens, in dem eine Wache stationiert war, zum Klirren brachte.
»Du nimmst das Klebeband«, bestimmte Pain. »Ich schnappe mir den gleich leblosen Körper des Wächters.«
Boom-da-boom-boom-da-boom-boom-boom. Boom-da-boom-boom-da-boom-boom-boom-boom.
Abgesehen davon, dass er versuchte, das, was von seinem Gehör übrig war, zu retten, hatte er keine Schwierigkeiten, als er sich dem Fahrzeug näherte, die Fahrertür öffnete und den Wächter herauszog. Er warf ihn auf den geschotterten Parkplatz, auf dem seine Partnerin dem Mann fachkundig die Hände, Füße und den Mund mit Klebeband verband, während er die rollende Disco ausschaltete.
»Besorg dir seinen Namen«, empfahl er ihr, als es still wurde.
»Darf ich fragen, warum?«, fragte sie, als sie ihre Arbeit beendet hatte.
»Ich möchte eine Liste für potenzielle Späher für uns anlegen und seinen Namen ganz unten auf der Liste haben.«
»Das wäre eine brauchbare Liste«, gab sie zu, als sie aufstand und sie in Richtung des ach so noblen Bestattungsinstituts gingen.
Wie zuvor war die Eingangstür nicht verschlossen und sie schritten den Flur entlang, bis sie den Raum erreichten, in dem Doktor Ignatius seine medizinische Ausbildung auf schändliche Weise einzusetzen pflegte.
»Aus dem Weg! Hier kommt der Landvogt und seine Praktikantin, wir möchten uns die fachkundige Arbeit mal ansehen«, verkündete Pain, als er mit Agony dicht hinter ihm eintrat.
Auf dem Tisch von Doc Iggy lag etwas, das ein Mitglied einer jungen Bande gewesen sein könnte. Der Verletzte hatte nur eine bösartig aussehende Messerwunde, die eine Rippe gestreift haben musste. Die Wunde war natürlich schmerzhaft und musste genäht werden, aber sie war keineswegs lebensbedrohlich.
»Beruhigt euch, Leute, beruhigt euch!«, befahl Pain den vier nervösen Knallköpfen, die sich um ihren verwundeten Kameraden gekümmert hatten, während der Arzt seine Nadel- und Fadenzauberei durchführte. »Wir sind keine Polizisten und wollen, dass die Lebenden weiterleben. Wir brauchen den guten Doktor nur, um uns einen Patienten zu zeigen, der bereits tot ist.«
Nervöse Blicke wurden zwischen den Gangmitgliedern ausgetauscht, bis der Arzt das Wort ergriff und versuchte, sie zu beruhigen. »Die beiden sind Freunde von mir. Es wäre toll, wenn alle ruhig bleiben und ich heute Abend keine zusätzliche Arbeit mehr bekomme.« Ignatius blickte von seinem Tisch auf und stellte sich den Eindringlingen. »Noch vier Stiche und ein Pflaster und in zehn Minuten schicke ich sie alle auf den Weg. Einverstanden?«
»Einverstanden«, antwortete Pain. Iggy hatte zweifellos einen Verdacht, wegen wem sie dort waren, also traten er und Agony zur Seite und gaben dem Arzt die gewünschten zehn Minuten, während die anderen warteten. Die Zeit verging und die Bande zeigte nur ein paar Zuckungen, bevor sie ihrem Kameraden vom Tisch auf den Parkplatz half, wo sie ihren Spähposten vom Klebeband befreiten, einstiegen und losfuhren.
»Wie immer«, schnauzte Ignatius die beiden an, als sie den Raum für sich allein hatten, »ist es mir eine Freude, euch wiederzusehen.«
»Es freut mich zu sehen«, antwortete Pain, »dass du deinem heuchlerischen Eid immer noch treu bleibst.«
»Man tut, was man kann. Kann ich mit mehr Gesellschaft rechnen, so wie beim letzten Mal?«
»Nicht, dass wir wüssten«, befand Agony, wohl wissend, dass die Schlampenschwester nur einen Parkplatz entfernt Agenten geparkt haben könnte.
Ignatius hatte Pain eine Leiche erwähnen hören. »Ich nehme an, du bist wegen Justin LeBall hier?«
»LeVaul«, korrigierte sie, »und ja.«
Der Arzt, von dem sie nicht sicher waren, ob er noch die Lizenz hatte, an Lebenden zu praktizieren, zog seine medizinische Ausrüstung aus, schrubbte sich ab und griff nach der Sprechanlage des Bürotelefons.
»Douglas? Wir haben Besuch. Könntest du uns auf dem Flur treffen?«
»Wir sind beschäftigt«, raunte Douglas Miles und im Hintergrund war das Kichern eines Mädchens zu hören.
»Ich glaube, diese beiden sind es wert, dass du dir die Zeit nimmst, sie kennenzulernen.«
»In Ordnung, in Ordnung.« Das unverwechselbare Geräusch eines Schniefens war zu hören, als die Verbindung unterbrochen wurde.
»Ich nehme an, Miles dealt immer noch mit Opioiden und nutzt seine Straßenverbindungen?«, mutmaßte Pain.
Ignatius zuckte mit den Schultern. »Weißt ja wie das ist. Einmal ein Apotheker, immer ein Apotheker.«
Sie verließen den kleinen Operationssaal und befanden sich auf dem Flur, als Miles erschien, gefolgt von der Besitzerin des Kicherns. Sie sah alt genug aus, um die Highschool abgeschlossen zu haben, aber nicht alt genug, um legal Bier zu kaufen. Aber wer brauchte schon Alkohol, wenn man Zugang zu Miles und seinem Vorrat hatte?
Douglas hatte seit dem letzten Mal, als Agony ihn gesehen hatte, etwas abgenommen. Damals schätzte sie ihn auf knapp 1,70 m und über 140 Kilo. Jetzt war er keineswegs schlank, sondern sah aus, als würde er weniger als hundert Kilo auf die Waage bringen. Außerdem fiel ihr auf, dass sein legendäres Nasenhaar jetzt gestutzt war. Das macht das Schniefen einfacher , vermutete sie.
Er hielt seinen Arm um das Mädchen, als ob sie die gegenseitige Unterstützung bräuchten, um aufrecht zu stehen. »Ihr zwei wisst schon, dass wir Feierabend haben? Habt ihr eine Leiche abzuliefern?« Er drehte sich zu dem jungen Mädchen um und legte seinen Kopf an ihren. »Silvia, weißt du, ob eine Leiche angekommen ist?«
»Nö.« Silvia schüttelte den Kopf. »Ich nicht. Sie müssen im falschen Laden stehen.« Sie lehnte ihren Kopf näher und man konnte sie flüstern hören: »Wo wir gerade von Stehen reden…«
»Später«, versprach er ihr. »Zuerst müssen wir uns um unsere beiden ungebetenen und höchst unwillkommenen Besucher kümmern.«
Sie tat ihr Bestes, um sich aufzurichten und zu konzentrieren, als sie fragte: »Habt ihr beide euch ins Besucherbuch eingetragen?«
»Ich fürchte, diesen Schritt haben wir irgendwie verpasst, aber ich kann dir mal zeigen, wie kraftvoll ich mich eintrage.« Agony machte einen Schritt nach vorn, hielt aber inne, als Pain ihren Arm festhielt. Es hatte keinen Sinn, den schlaksigen Opioiddealer und sein Flittchen jetzt zu verprügeln. Vielleicht auf dem Weg nach draußen, aber zuerst mussten sie eine Leiche untersuchen.
»Justin LeVaul, Douglas.« Ignatius versuchte, die Aufmerksamkeit seines Partners auf das eigentliche Anliegen zu lenken. »Sie möchten die Leiche untersuchen und dann ohne weiteren Schaden wieder abreisen.« Er wandte sich zurück zu Agony, die widerwillig nickte.
»Na dann«, sagte Silvia fröhlich, »warum hast du das nicht gleich gesagt? Ich weiß, wo er ist.«
Sie schritt an ihnen vorbei, ihr Gang nicht mehr ganz so wackelig. Ihr Oberteil war in einem hellen Grünton gehalten und durchsichtig genug, um zu zeigen, dass ihr BH knallrot war – das ideale, verheißungsvolle Ensemble für eine Betriebsweihnachtsfeier. Ihr Rock war eng, schwarz und ein wenig zu kurz für den Anstand, der in einem Bestattungsinstitut erwartet wurde.
Miles blieb in sicherem Abstand hinter ihr. Er kannte Agony noch aus ihrer Zeit als Polizistin. Obwohl er Gerüchte gehört hatte, dass sie nicht mehr bei der Polizei war, hielt er es für klüger, auf Distanz zu bleiben und die angeheuerte Hilfe mit diesem Fall zu betrauen.
»Ta-da!«, verkündete Silvia, als sie die Doppeltür zum Vorbereitungsraum öffnete.
Sie trat zur Seite, als Pain und Agony eintraten.
»Wir haben vorgeschlagen, dass sie eine Trauerfeier am geschlossenen Sarg abhalten«, informierte Ignatius sie von der Tür aus. »Die Möglichkeiten der modernen Gesichtsrekonstruktion waren in diesem Fall leider … sehr begrenzt.«
Miles, Ignatius und Silvia sahen von der Tür aus zu, wie die beiden ihre Inspektion durchführten. Sammy aus dem Leichenschauhaus hatte recht gehabt. Sie waren schon zu spät dran, um noch Beweise für eine Ermittlung zu sammeln, aber wenigstens hatten sie jetzt die Leiche.
Sie drehten ihn um und bestätigten, dass die Todesursache höchstwahrscheinlich eine einzelne Kugel war, die in den Hinterkopf abgefeuert wurde. Es war wahrscheinlich ein Hohlspitzgeschoss, das zersplittert war und so viel Schaden wie möglich angerichtet hatte, bevor es an verschiedenen Stellen des einst so schönen Gesichts austrat.
»Iggy.« Agony winkte ihn zu sich. »Erzähl mir von den Händen. Hast du sie nachgearbeitet?«
»Das war nicht nötig«, erklärte er, als er sich näherte. »Sie waren tadellos. Sie waren gut gepflegt und wenn du nach Abwehrverletzungen fragst, kann ich dir versichern, dass es keine gab. Aus Sicht der Polizei würde ich sagen, dass es keine Anzeichen eines Kampfes an der Leiche gab.«
»Danke.« Sie nickte und er ging zurück zur Tür.
»Eine in den Hinterkopf von jemandem, dem er vertraute.« Pain bestätigte den ersten Instinkt von Agony. »Es muss der Lebenspartner gewesen sein.«
»Aber warum hat er die Tochter mitgenommen?«
»Zeugen aus dem Spiel nehmen.« Es tat ihm weh, das zu sagen.
»Scheiße. Wir müssen diesen Wichser finden.«
»Sind wir hier bald fertig?« Douglas Miles wurde langsam unruhig.
»Ich hoffe es.« Pain hatte genug gesehen. »Der Gestank macht mir langsam zu schaffen.«
»Ja, tote Menschen stinken schon irgendwie.« Silvia rümpfte die Nase.
»Ich habe nicht von den Toten gesprochen.«
Mit einem Nicken zu seiner Partnerin führte er die Prozession aus dem Raum an und gab Miles und Iggy mit einem Zeichen zu verstehen, sich ihm anzuschließen, während Agony mit der Aushilfe zurückblieb.
»Hört mal, Leute.« Er versuchte eine sanfte Annäherung. »Wir werden sicherlich nie auf der Weihnachtskartenliste des jeweils anderen stehen, aber wir suchen ein kleines Mädchen. Das war ihr Vater auf der Bahre da drin und sie wird seit dem Vorfall vermisst. Ihre Großeltern kommen morgen und wir würden ihnen gerne wenigstens eine positive Nachricht überbringen.«
Pain wusste, dass der Blechmann aus Oz ein größeres Herz hatte als sie beide zusammen, also war er sich nicht sicher, woran er appellieren konnte, aber er war sich auch nicht sicher, was für Drohungen er aussprechen sollte. Beide Männer blieben still.
»Okay, keine Antwort ist auch eine Antwort. Habt ihr euch das gut überlegt?« Als sie sich Miles’ Büro näherten, kam ihnen eine Drohung in den Sinn. »Ich werde euch sagen, wie mein Partner und ich es machen werden.« Er brachte die beiden Männer zum Stillstand, als er die Bürotür erreichte. »Wären wir Mitglieder einer autorisierten Polizeieinheit, gäbe es Regeln, die wir befolgen müssten, um einen Durchsuchungsbefehl zu bekommen. Aber da wir außer Agonys Privatdetektiv-Lizenz keinen einzigen offiziellen Ausweis haben, seid ihr beide das Einzige, was mich davon abhalten kann, euer Büro zu betreten. Fühlt sich einer von euch Spezialisten der Aufgabe gewachsen?«
Die beiden ehemals angesehenen Männer tauschten einen Blick aus und ihm wurde klar, dass in diesem Fall Angst die wirksamste Kraft sein würde.
»Und wenn ich in dein Büro gehe …« Er beugte sich vor, damit Miles den Blick in seinen Augen nicht als Bluff missverstehen konnte. »… werde ich es auseinandernehmen, bis ich alle Medikamente gefunden habe, die dort versteckt sind, egal, wie gut du denkst, dass du sie versteckt hast. Wenn ich sie gefunden habe …«
»Ja, ja.« Miles unterbrach ihn. »Du wirst mich bei den Bullen anzeigen. Schon klar.«
»Warum sollte ich das tun wollen?« Pain spielte den Schockierten. »Ich zeige die Drogen an, von denen ich nicht beweisen kann, dass sie dir gehören und du zeigst mich wegen Einbruchs an, obwohl wir alle zusammen reingegangen sind. So viel unnötiger Papierkram und Polizisten hassen Papierkram. Nein. Ich werde einfach einstecken, was ich finde und mit deinem gesamten Inventar verschwinden, während es dir überlassen bleibt, den Diebstahl zu melden.«
»Das würdest du nicht wagen.« Die Angst hatte sich in Panik verwandelt.
»Das würde er, Douglas.« Iggy sagte seine Meinung unverblümt. »Das Arschloch würde es wirklich tun.«
»Schau …« Er wusste, dass er kurz davor war, sie zu brechen. »Ihr gebt uns eine Sache, mit der wir arbeiten können. Nur eine Sache, egal wie belanglos sie erscheinen mag und wir machen weiter, denn ob ihr es glaubt oder nicht, wir versuchen wirklich nur, ein vermisstes, kleines Mädchen zu finden.«
Das Einzige, was Agony aus Silvia herausbekommen hatte, war, dass sie in dem Bestattungsunternehmen in Teilzeit als Empfangsdame und Sachbearbeiterin für die Kundenunterlagen arbeitete. »Ich habe meinen eigenen Schreibtisch und alles«, hatte sie nicht ohne Stolz gesagt. »Und ich kann ›Mein herzliches Beileid‹ sagen, wie keine Zweite.«
»Silvie«, fragte Miles, als die beiden Frauen zum Büro geschlendert kamen. »Sagtest du nicht etwas von Blumen?«
»Oh, ja.« Die Angestellte gab wieder einen ihrer verräterischen Schniefgeräusche von sich, die bei Agony schon nach wenigen Minuten mit ihr auf einen Nerv trafen. »Das war irgendwie seltsam.«
»Kannst du das bitte genauer erläutern?« Sie fixierte Silvia mit einem festen Blick und versuchte, ruhig damit umzugehen. »Was daran seltsam war.«
»Jemand rief an und fragte nach Blumen, obwohl wir keine Beerdigungsankündigung oder ähnliches verschickt hatten. Wir möchten, dass sie die Blumen am Tag vor der Beerdigung schicken, denn wenn sie zu früh ankommen, werden sie ganz … du weißt schon … verwelkt und riechen dann nicht mehr so gut.« Sie schniefte wieder mit der Nase. Ihre Nase hatte in ihrem Arbeitsalltag anscheinend viel zu tun.
»Du hast ihnen also das richtige Datum genannt?«, hakte die ehemalige Polizistin erneut nach, in der Hoffnung etwas herauszufinden, das ihr weiterhelfen könnte.
»Natürlich habe ich das.« Sie tat so, als würde man ihr etwas vorwerfen. »Das ist doch mein Job, oder?«
»Also …« Es war, als würde man versuchen, einen Backenzahn herauszuziehen, aber sie blieb dran. »Was war so ungewöhnlich an diesen Blumen?«
»Oh, die Blumen waren gut. Es klang nach einer wunderschönen Zusammenstellung der Blumen. Es war der Akzent, der mich überrascht hat.«
»Der Akzent?«
Silvia nickte. »Ja. Zuerst dachte ich, der Anrufer sei wahrscheinlich ein Verwandter, aber ich hatte schon mit der Mutter gesprochen, als sie anrief, um die Vorbereitungen zu treffen und er hörte sich überhaupt nicht wie sie an.«
»Auf welche Weise?«
»Also, die Mutter klang ganz amerikanisch und so, aber der Blumenkavalier wirkte ganz sexy und britisch. Du weißt schon, wie Jude Law oder dieser Cummerbund-Typ.«
»Ich glaube«, warf Miles ein, um die Sache zu beschleunigen, »dass sie den Schauspieler Benedict Cumberbatch meint. Sie hat eine Schwäche für Akzente. Wenn du einem Schwein beibringst, mit britischem Akzent zu sprechen, würde sie ihm in einer Bar bis zur Sperrstunde Drinks spendieren.«
»Ich möchte, dass du ganz genau nachdenkst«, sagte Agony zur Bürokraft, als sie und Pain einen Blick austauschten und sich an den Sprecher des süßen Videos erinnerten, das sie auf Evans Digitalkamera gesehen hatten. »Bist du sicher, dass es ein britischer Akzent war?«
Silvia schniefte wieder mit ihrer Nase und lachte schnaubend. »Als ob ich nicht den Unterschied zwischen britischen, irischen und schottischen Akzenten kennen würde. Der hier war britisch und auch aus dem Stadtteil, wo die Königin wohnt, nicht wie der von Bert aus Mary Poppins.«
»Silvie«, bat Miles seine Angestellte mit einem Unterton der Verzweiflung in der Stimme, »vielleicht kannst du die beiden zu deinem Schreibtisch geleiten und sehen, ob du mehr Informationen über den Anrufer herausfinden kannst?«
Der Besitzer des Bestattungsunternehmens schaute seine beiden aktuellen Nervensägen an, sah, wie sie nickten und schlüpfte erleichtert in sein Büro und schloss die Tür hinter sich.
»Braucht ihr sonst noch etwas von mir?«, fragte Ignatius.
Die Partner schüttelten den Kopf, als Pain gönnerhaft antwortete: »Ihr wart alle sehr, sehr kooperativ.«
Ignatius ignorierte den Sarkasmus und ging den Flur entlang. Für städtische Verhältnisse war es noch früh und er hoffte, ein kurzes Nickerchen machen zu können, bevor das Wartezimmer wieder überfüllt war.
Welche Fehler Silvia als Mensch oder Angestellte auch haben mochte, sie nahm ihre Aufgaben am Schreibtisch gewissenhaft wahr und brauchte nur wenige Sekunden, um den Namen und die Adresse des Blumenhändlers zu nennen.
»Nun«, sagte Agony ein paar Minuten später, als sie Bertha in Gang setzte. »Es war zumindest kein totaler Reinfall.«
Pain stimmte zu. Ein Kopfschuss von hinten, keine Verteidigungswunden und ein Blumenarrangement, das von jemandem mit britischem Akzent bestellt wurde, waren ein Fortschritt. Der Blumenhändler war zwar nur ein kleines Bindeglied, aber immerhin ein Bindeglied, an dem SISTER noch nicht rumgegriffelt hatte.
»Fahren wir uns erst mal ausruhen?«, fragte er.
»Und gleich morgen früh zum Floristen.«
Sie kamen ohne weitere Störungen in ihrer Wohnung über Kwan’s an, was sie beide freute. Auch für die kleinen Dinge musste man mal dankbar sein.
Er konnte nicht sagen, wie erschöpft sie war, aber er hatte es gerade noch geschafft, seine Stiefel auszuziehen, bevor sein Kopf ins Kissen fiel und das Licht ausging.