D a sie kein bestimmtes Ziel im Auge hatten, gab es nichts, was sie in Berthas Navigationssystem eingeben konnten, aber das war Agony egal. Jetzt, da es später Nachmittag war und sich die Abendstunden näherten, musste sie nur noch eine Straße erreichen, auf der sie die Sonne auf der linken Seite halten konnte. Sie würde zwar nicht genau nach Norden fahren, wie es ein Kompass anzeigen würde, aber für ihre Zwecke musste es reichen.
Ihre Route führte sie zu einer ihr bekannten Autobahn, die in Ost-West-Richtung verlief und sie fuhren zwanzig Minuten lang nach Westen, bis sie die Stadt hinter sich gelassen hatten.
»Ah, da ist die Ausfahrt ja«, verkündete sie fröhlich.
Sie nahm die Ausfahrt und bog am Ende rechts ab und tatsächlich, die Sonne blendete sie nicht mehr. Sie schien sanft durch das Fenster und auf ihre linke Schulter.
»Ich weiß jetzt, wo wir hinfahren«, informierte sie ihren Partner. »Es wird eine Stunde dauern, bis wir dort ankommen und wenn wir dort sind … nun, sagen wir, es gibt nicht viele Annehmlichkeiten. Sag Bescheid, wenn du Hunger bekommst, aber warte nicht zu lange. Wir werden durch drei Ortschaften mit nur einer Ampel fahren und danach gibt es nur noch überfahrene Tiere als Streetfood und wir haben eine lange Nacht der Verhöre vor uns.«
Agony war in der Gegend aufgewachsen und Pain vertraute ihr, dass sie wusste wo es was zu essen gab.
»Ich könnte einen amtlichen Burger vertragen«, gab er zu.
»Dann eben Burger.«
In der ersten der drei Kleinstädte wurde sie langsamer. Es gab mittlerweile vier Fast-Food-Restaurants, nicht nur das eine, das sie kannte. Sie fuhr durch, um die Möglichkeiten zu prüfen und wandte sich dann demjenigen zu, den sie in ihrer Jugend so oft besucht hatte.
»Warum gerade der?«, erkundigte sich ihr Partner, als sie in die Drive-In-Spur einfuhr.
»Sie schummeln bei den Belägen.«
»Das klingt für mich nicht nach einer guten Empfehlung.«
»Sie schummeln auf eine gute Art.« Sie grinste ihn an, als sie anhielt, das vierte Auto in der Schlange vor dem Drive-In-Schalter.
»Dieser Laden hier gehört einem lokalen Franchisenehmer«, versuchte sie schnell zu erklären, »der ein wenig Spielraum hat. Er betreibt auch einen kleinen Milchviehbetrieb, in dem er und seine Familie ihre eigene geheime Soße herstellen und er nutzt seine Rechte als Franchise-Nehmer, um sie zu kaufen. Wenn jemand einen Burger mit Spezialsoße bestellt, weiß er genau, was er bekommt.«
Bertha war mittlerweile der zweite Wagen in der Reihe vor dem ersten Schalter, als das Treten und Schreien des Insassen im Käfig begann.
Agony seufzte und zog mit Bertha aus der Schlange heraus. Auf keinen Fall wollte sie den Strom der hungrigen Menschen hinter ihnen unterbrechen.
»Ich übernehme das Steuer«, informierte sie ihren Partner, während sie zu einer ruhigen Ecke des Parkplatzes fuhr und rückwärts einparkte, damit niemand einen klaren Blick darauf hatte, was passierte, wenn Pain Berthas Heckklappe öffnen würde. »Du bist für das Arschloch im Kofferraum zuständig.«
»Arbeit, Arbeit, Arbeit.« Er seufzte, als er ausstieg, beugte sich aber vor, um zu fragen: »Wie ist denn die Spezialsoße?«
»Zum Sterben schön.« Bei der Erinnerung daran lief ihr fast das Wasser im Mund zusammen. »Brich ihm das Genick und wirf ihn in den Müllcontainer, wenn nötig. Es ist lange her und ich gehe nicht ohne einen Burger mit extra viel Spezialsoße!«
Na ja , dachte er, wenigstens sind meine Anweisungen klar .
Er richtete sich auf und ging nach hinten, kehrte aber schnell zurück und öffnete erneut seine Tür.
»Waffe, bitte.«
»Es war nur ein Scherz, ihn zu töten.« Er hatte sie noch nie nach einer Waffe gefragt.
»Ich denke nicht, dass er das weiß«, sagte er lächelnd.
Agony öffnete die Konsole zwischen den Sitzen und holte die Glock heraus, mit der Evan vorhin gewunken hatte. Er hob sie hoch und überlegte, ob er sie in seinen Gürtel stecken sollte, aber dann überlegte er es sich anders und ging mit ihr in der Hand nach hinten.
»Gibt es ein Problem?«, fragte er, als er die Kofferraumklappe öffnete.
»Ja, ich habe ein verdammtes Problem!«, rief der Mann, der ihnen als Sylvester vorgestellt worden war. »Ich werde entführt!«
»Komisch«, antwortete Pain, ohne seine Stimme zu erheben. »Evan hat uns vor ein paar Stunden die gleiche Geschichte erzählt.« Er hob die Waffe ins Blickfeld des Schlägers. »Also lass mich noch einmal fragen. Gibt es ein Problem?«
»Ein paar.« Ihr unfreiwilliger Passagier senkte seine Stimme und schien nun bereit zu sein, eine zivilisierte Unterhaltung zu führen.
»So sieht der Deal aus«, erklärte der Agent. »Du kommst mit uns.«
»Wohin?«
»Irgendwo, weit weg von den Menschenmassen und weit weg von allen Vertretern der Behörden, die in den Städten lauern. Wir würden gerne in Ruhe dorthin fahren, aber das können wir nicht, wenn du hier weiter so einen Aufstand machst.«
»Ich kann ziemlich laut werden«, gab der große Schläger zu. »Das ist Teil meines Einschüchterungstrainings.«
»Und das« – der ehemalige Agent nickte in Richtung der Glock in seiner Hand – »ist Teil meines Einschüchterungstrainings.«
Sylvesters Augen verrieten, dass der Typ, der fast so groß war wie er, in dieser Situation die Oberhand hatte, wenn es um Einschüchterung ging.
»Es wäre uns wirklich lieber, dich nicht töten zu müssen, aber ich bin bereit, dich mit dem Kolben der Glock zum Schweigen zu bringen. Aber wenn du versprichst, still zu sein, während wir durch den Drive-In fahren, können wir dir etwas zu essen kaufen. Es ist schon eine Weile her, seit wir das letzte Mal etwas gegessen haben, also bin ich sicher, dass du genauso hungrig bist wie wir.«
»Was sind die Menüoptionen?« Der Magen des Mannes riet ihm anscheinend, nett zu sein.
»Ernsthaft?«
»Was ist, wenn du mir etwas kaufst, gegen das ich allergisch bin?«
»Allergisch?« Das war nicht die Richtung, die Pain von dem Gespräch erwartet hatte. »Erdnussprodukte sind hier nicht erhältlich. Wenn du eine Laktoseintoleranz hast, sag mir Bescheid und wir versprechen, dir keinen Milchshake aufzudrängen.«
»Es geht um Barbecue-Soße«, gestand Sylvester. »Sie verbrennt meine Eingeweide. Du weißt schon – Entzündungen und Irritationen da unten und sie lässt mein Gesicht anschwellen. Alles Mögliche in dieser Richtung.«
»Was wird dein Gesicht noch mehr anschwellen lassen?« Er wollte dieses Gespräch schnell beenden, denn er hatte Hunger und der Blick von Agony, als sie von der speziellen Spezialsoße sprach, ließ ihm fast den Speichelfluss kommen. »Eine allergische Reaktion oder die Anzahl der Zähne, die du verlieren wirst, wenn die Glock auf deinen Mund trifft?«
»Gutes Argument.«
»Gut. Jetzt halt die Klappe und lass uns die Bestellungen aufgeben, damit wir uns wieder auf den Weg machen können.«
Agony fädelte sie wieder in die Drive-In-Schlange ein, dieses Mal fünf Autos weiter hinten.
»Habt ihr Musik in diesem Auto?«, rief Sylvester von hinten.
Pain schüttelte den Kopf, antwortete aber trotzdem. »Wir haben Satellitenradio. Hast du eine Vorliebe?«
»Versprichst du, nichts zu verraten?«
»Ich bin mit diesem Genre nicht vertraut«, antwortete er.
»Ich mag Opern irgendwie«, war die zögerliche Antwort. »Ich verstehe zwar nichts von dem, was sie singen, selbst Gilbert und Sullivan nicht, weil sie zu viele Wörter einbauen, aber es ist immer so emotional, weißt du?«
»Es ist die Oper.« Er schaute seine Partnerin an. »Wer hätte das gedacht?«
Es dauerte ein paar Minuten, bis er den Opernkanal gefunden hatte, aber er fand ihn. Er schaltete Berthas vordere Lautsprecher stumm und drehte sie hinten auf.
»Oper?«, fragte Agony grinsend.
»Ich kann mir vorstellen, dass er im Club der harten Schläger nicht sehr beliebt ist.« Er zuckte mit den Schultern.
Als sie endlich am Anfang der Schlange standen, sprach sie mit dem Angestellten am ersten Schalter und gab ihre Bestellung auf. Drei Minuten später kehrte sie zum hinteren Teil des Parkplatzes zurück, damit ihr Partner seine Lieferung abgeben konnte, während sie hinten die Lautstärke herunterdrehte.
»Burger mit Spezialsoße, aber nicht dieses Barbecue-Zeug.« Pain schob ihn durch den Käfig zu den ausgestreckten, mit Kabelbindern gefesselten Händen.
»Danke.« Sylvester nahm den großen Burger und begann, ihn auszupacken.
»Wir haben noch ein ganzes Stück Fahrt vor uns.« Er wollte seine nächste Bitte deutlich machen und hoffte, dass er nicht zur Glock greifen musste. »Aber wir werden irgendwann ankommen. Wenn du einmal – und sei es nur einmal – ›Sind wir schon da?‹ fragst, werde ich die Glock nicht benutzen. Wir werden an den Straßenrand fahren, genug zusätzliche Kabelbinder anbringen, um dich völlig bewegungsunfähig zu machen und dich in den Wald schleifen, damit die Opossums, Waschbären und Eulen dich Stück für Stück auffressen können. Vielleicht hast du Glück und es kommt ein streunender Bär oder ein Wolfsrudel vorbei und beendet dein Elend schnell.«
»Ich wette, du würdest als Betreuer einer Pfadfindergruppe auf einer Exkursion jede Menge Spaß haben.«
Pain widerstand dem Drang, durch die Käfigstäbe zu greifen und ihn mit bloßen Händen zu erdrosseln, aber sie mussten wissen, was er über den bevorstehenden Liquidationsverkauf wusste.
»Genieß den Burger und die Oper«, war alles, was er sagte, aber er gab der Versuchung nach, einen Finger durch die Gitterstäbe zu stecken und auf Sylvesters Kinn zu zeigen. »Du hast da schon einen Fleck.«
»Wo?« Der Mann fiel darauf herein und folgte dem Finger, wodurch dieser einen schnellen und kräftigen Fingerschnipp auf die Nasenspitze des Gefangenen ausführen konnte.
Pain kehrte zu seinem Platz vorn im Wagen zurück. Agony war schon halb durch den ersten ihrer Burger. Ihr Gesichtsausdruck war pure Ekstase.
»Ich werde mindestens einen genießen«, erklärte sie zwischen zwei Bissen, »bevor wir uns wieder auf den Weg machen.«
Er packte seinen aus, nahm einen Bissen und verstand. Die spezielle Spezialsoße hielt, was sie versprach.
Sie beendete ihren ersten Burger, stellte die Tüte mit den weiteren Burgern sorgfältig hinter ihren Sitz, um sie später zu genießen und setzte den Weg nach Norden fort. Sie wartete lange genug, damit ihr Partner seinen ersten Burger genießen und aufessen konnte – er hatte es verdient, ihn zu genießen – aber dann war es Zeit zu reden.
»Treble Hook«, sagte sie eher, als dass sie fragte.
»Oper?«, rief gleichzeitig eine Stimme von hinten.
Pain drehte die Lautstärke auf, was einen doppelten Zweck erfüllte. Es würde den Mann ruhig halten, aber auch verhindern, dass er das längst überfällige Gespräch mit seiner Partnerin mitbekam. Er war dankbar, dass sie geduldig war, während er seinen Burger aß, denn ihm würde der Appetit für eine Weile vergehen.
»Treble Hook.« Er seufzte, als er aus dem Seitenfenster sah und bemerkte, dass die zweispurige Landstraße tiefer in eine bewaldete Landschaft führte. Die Straße war nur leicht kurvig und die Bäume versperrten die Sicht auf die Sonne, aber er vertraute darauf, dass sie sie zu ihrem Ziel bringen würde, egal ob es nun genau in Richtung Norden lag oder nicht.
»Treble Hook«, wiederholte sie. »Gibt es hier ein Echo im Auto?«
»Hast du schon mal geangelt?«
»Oh ja.« Eine schlechte Imitation eines Südstaatenakzents schlich sich in eine Stimme, der es ernsthaft an Aufrichtigkeit fehlte. »Paps nahm mich jeden Sonntagmorgen mit zum Angeln, weil das friedlicher war, als eine Stunde lang dem Prediger zuzuhören.«
»Bist du jetzt fertig?« Er sah sie mit einer hochgezogenen Augenbraue an.
»Ja.« Sie nickte zerknirscht. »Erklär es mir.«
»Das werde ich, aber du musst dich entscheiden, welche Version des Südstaaten-Akzents du in Zukunft verwenden willst, denn dieser war eine Mischung aus drei verschiedenen Staaten. Du hast North Carolina mit dem südlichen Georgia gemischt und bist dann über den Mighty Mississippi nach Arkansas gesprungen. Du musst dich für einen entscheiden und ihn perfektionieren, sonst hörst du dich an wie ein klugscheißender Yankee.«
»Du sagst das, als ob es etwas Schlechtes wäre.«
»Das kann sein.« Er sprach wie aus Erfahrung. »Wenn du es am falschen Ort zur falschen Zeit versuchst.«
»Das werde ich mir merken. Hast du noch andere Ablenkungsmanöver parat, damit du nicht erklären musst, was zum Teufel Treble Hook ist?«
»In der Fischerei ist es ein dreizackiger Haken.«
»Oookay … Ich glaube, ich kann so weit mithalten, aber versuch bitte, nicht zu kompliziert zu werden.«
»Sarkasmus zur Kenntnis genommen und akzeptiert. Die Wälder hier draußen sind ziemlich schön. Es ist eine Weile her, dass ich echte Tannenbäume gesehen habe, außer zu Weihnachten.«
»Zwing mich nicht, meinen Schlagstock zu zücken und dich zu Sylvester in den Käfig zu stecken. Treble! Hook!«
»Tief in den Eingeweiden der amerikanischen Geheimdienstgemeinschaft.«
»Spiel mir jetzt bloß nicht das Lied von den Alphabet-Agenturen vor.«
»Ich weiß nicht, wer sich das ausgedacht hat.« Pain wurde ernst. »Ich habe erst davon erfahren, kurz, bevor Kip und ich verbrannt wurden – oder besser gesagt, Kip wurde verbrannt und ich bin nur knapp entkommen.«
»Kip.« Die Stimme von Agony wurde weicher. »Der Schachspielpartner, den du verloren hast?«
»Ja … dieser Kip. Treble Hook ist der Name für ein fortschrittliches, hochrangiges Geheimdienstverfahren, das darauf abzielt, stabile, funktionierende, demokratische Staaten ins Visier zu nehmen und sie in Richtung Destabilisierung zu bewegen.«
»Warum sollte man das tun?«
»Aus alter Gewohnheit?« Er zuckte mit den Schultern. »Oder vielleicht einfach, um in Übung zu bleiben? Deine Vermutung ist so gut wie meine. Tatsache ist, dass Uncle Sam seit einem Jahrhundert durch meist verdeckte Aktionen und gelegentlich auch durch offene Taschenspielertricks Regime in unruhigen Gebieten auf der ganzen Welt destabilisiert oder gestützt hat. Chaos verbreiten? Wenn es gut für uns ist – das heißt finanziell – dann stützen wir es, ungeachtet der Kosten für Menschenleben und der Gräueltaten, die hinter den Kulissen geschehen.«
Sie fuhren durch die zweite Ortschaft mit nur einer Ampel. Sie stellte fest, dass seit ihrer letzten Durchfahrt zwei Stoppschilder, eine Tankstelle und ein Lebensmittelgeschäft sowie ein kleines Einkaufszentrum hinzugekommen waren. Manchmal war es wirklich einfacher, sich auf die kleinen Dinge zu konzentrieren.
»Du fängst gerade erst an, nicht wahr?«, kommentierte sie, nachdem sie das Ende der Ortschaft erreicht hatten und die offene Straße vor sich sahen.
»Ja.« Pain schätzte den kurzen Einblick in die amerikanische Kultur, durch die sie gerade gefahren waren. Die Bewohner des Ortes hatten vielleicht nur einen begrenzten Erfahrungsschatz, aber sie hatten dafür gekämpft, ihn zu erhalten.
Sie waren wieder zwischen den Bäumen und die Sonne näherte sich ihrem Ziel am westlichen Horizont, bevor er mit seiner Erzählung weiterfuhr.
»Lass alle Gedanken an feindliche Staaten vorerst beiseite«, sagte er ihr.
Dieser Bitte kam Agony gerne nach, denn wer ein befreundeter und wer ein feindlicher Staat war, war für sie schon lange zu schwer zu überblicken. Das führte sie jedoch zu einer Frage, die sie nicht stellen wollte. Da sie darauf bestanden hatte, ihren Partner zu drängen, über Treble-verfickter-Hook zu sprechen und sie einen Gefangenen in Berthas Käfig hatten, schien dies ein guter Zeitpunkt zu sein, um die Geschichte zu erzählen.
»Treble Hook hat es auf befreundete Staaten abgesehen?« Das war ein bisschen unverblümt, aber das Beste, was ihr einfiel. »Warum?«
»Weil …« Ihr Partner seufzte und entschuldigte sich. »Es tut mir leid, dass ich darüber reden muss, während ich durch so eine schöne Gegend fahre. Macht es dir etwas aus, wenn ich mein Fenster wieder aufmache? Ich habe nicht nur schon lange keine Kiefern mehr gesehen, sondern auch nicht mehr gerochen.«
Als Antwort ließ sie ihr Fenster herunter und er tat dasselbe. Der Duft von frischem Kiefernholz wehte herüber. Das Gespräch würde einen gewissen Gestank mit sich bringen, aber wenigstens hatte die frische Brise eine Chance.
»Zurück zu Treble Hook?«, drängte sie in einem Ton, der ihn wissen ließ, dass er sich so viel Zeit nehmen konnte, wie er benötigte.
Pain zitierte leise eine Zeile aus einem seiner Lieblingsfilme. »Nur weil du es kannst, heißt das nicht, dass du es auch solltest.«
»Und?« Agony hatte in ihrer vergeudeten Jugend zweifellos Besseres zu tun gehabt, als Filmzitate auswendig zu lernen.
»Es gibt vier Säulen, auf denen jede Demokratie steht.« Er lehnte seinen Kopf zurück gegen die Kopfstütze. Wie ich schon sagte, irgendwo tief in den Eingeweiden hat jemand, der zu viel Zeit hatte, die Philosophie ›Nur weil man es kann, heißt das nicht, dass man es auch sollte‹ ignoriert und mit einer vielseitigen Strategie herumgespielt. Es ist allgemein anerkannt, dass es vier Säulen einer Demokratie gibt – Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit und Repräsentierung.«
»Ich war in letzter Zeit etwas nachlässig in meinem Politikwissenschaftsstudium, aber ich vertraue dir da.«
»Der effektivste Weg, eine Nation zu Fall zu bringen, ist, drei der vier Säulen einzuhaken und wie Samson daran zu zerren.«
»War er nicht derjenige, der die Säulen auseinander geschoben hat?«
»Geschoben, gezerrt, was auch immer.« Pain seufzte. »Solange du drei von ihnen an den Haken bekommst, bricht der Staat zusammen – daher Treble Hook, der Dreifachhaken.«
Laut Agony kamen sie gut voran, als sie sich der einzigen Ampel in der einzigen verbleibenden Stadt vor dem von ihr gewählten Ziel näherten. Verdammtes Pech, die Ampel war rot.
Er wartete die Ampelphase ab und sprach erst weiter, als sie die Stadt hinter sich gelassen hatten und die Fenster hochgefahren waren. Der Duft von frischem Kiefernholz war erfrischend, aber jetzt war es an der Zeit, sich ohne das Rauschen des Windes zu konzentrieren.
»Ich kann nicht sagen, ob die USA es jemals in die Praxis umgesetzt haben. Es bedarf nicht nur chirurgischer Eingriffe, um bestimmte Ergebnisse zu erzielen, sondern auch strategischer Manipulationen der individuellen Wahrnehmung und der Gruppenpsychologie, um vollständig wirksam zu werden. Stell dir vor, du machst im Winter einen Schneeball, bewahrst ihn in der Gefriertruhe auf und rollst ihn im Sommer einen Hügel hinunter, dann schmilzt das verdammte Ding einfach. Aber derselbe Schneeball, der im Januar auf einen Berg oder sogar einen sehr hohen Hügel gesetzt wird, würde sowohl an Geschwindigkeit als auch an Größe gewinnen, bis er alles zerstört hat, was sich am Boden befindet. Zusammen mit allen anderen Schäden, die er auf dem Weg dorthin verursachen könnte.«
»Das hat also überhaupt nichts mit der Theorie vom Flügelschlag des Schmetterlings in Japan zu tun?«
»Nein«, schüttelte Pain den Kopf. »Es bleibt zu viel dem Zufall überlassen, als dass die Chaostheorie als politische Strategie nützlich wäre. Treble Hook ist ein koordinierter Angriff auf ein bestimmtes Ziel. Auch hier handelt es sich nur um eine Theorie, die noch nicht erprobt oder bewiesen ist, aber die Grundlage ist plausibel. Es funktioniert vielleicht nicht genau so wie erwartet, aber jeder oder jede Gruppe, die motiviert und einfallsreich genug ist, um davon zu erfahren und beschließt ›was soll’s, schauen wir mal, ob es funktioniert‹. Nun, niemand weiß, wie viel Schaden selbst eine gescheiterte Version der Umsetzung anrichten könnte.«
»Und wenn die Strategie funktioniert hat?« Agony bog von der zweispurigen Straße nach links auf einen zerfurchten, aber gut ausgetretenen Feldweg ab.
»Das bedeutet, dass eine relativ kleine Gruppierung wie Magpie Municipal innerhalb weniger Monate demokratische Nationen, die seit Jahrhunderten bestehen, destabilisieren und zu Fall bringen kann.«
»Wie groß sind die Demokratien, von denen du sprichst?« Ein Schauer der Beunruhigung durchlief sie.
»Fang mit dem kleinsten Land an, das du dir vorstellen kannst und erweitere den Bereich, bis du das ›Land der Freien und die Heimat der Tapferen‹ erreichst.«
Sie ließ das auf sich wirken und wartete auf eine Antwort. Außer einem besorgten Blick bekam sie keine.
»Ich glaube«, sagte Pain und kam zum Ende seiner Erzählung, »dass die Strategie von einem der besten und klügsten Köpfe Amerikas entwickelt wurde und dass der Versuch, die Herkunft und Existenz von Treble Hook zu vertuschen, Teil der Überlegungen ist, die dazu führten, dass Kip und ich verbrannt wurden. So schmerzhaft das auch war, ich hatte zumindest gehofft, dass alles eingedämmt und vernichtet worden war, aber jetzt bin ich davon nicht mehr überzeugt.«
»Wovon bist du überzeugt?« Sie war am Ende der Straße angekommen und parkte auf einer anscheinend recht großen Lichtung. Vor ihnen lag ein Himmel, an dem die Reste des Sonnenuntergangs und die ersten Sterne zu sehen waren.
»Ich hoffe, dass ich mich irre, aber es gibt keinen Grund, warum derjenige, der die aktuellen, sehr detaillierten Strategien in die Hände bekommt, sie nicht nutzen könnte, um das größte Ziel, die mächtigste Demokratie, anzugreifen. Und sich danach über den großen Teich vorzuarbeiten, um zu sehen, wie viel Schaden er bei unseren Freunden anrichten kann, angefangen in Europa. Denk mal darüber nach. Wenn sie die Vereinigten Staaten zu Fall bringen können, wie viel Hoffnung bleibt dann wohl noch für andere Länder?«
Mit diesem abschreckenden Gedanken schaltete sie den Motor und das Licht aus. Es war an der Zeit, ein ernstes Gespräch mit dem Mann im Käfig zu führen.