A gony drehte die Lautstärke der Oper leiser und brüllte in Richtung Kofferraum.
»Wir parken jetzt! Zehn Minuten Ruhe. Wir sind bald wieder zurück.«
»Was ist, wenn ich mal pissen muss?«
»Du hättest deine Inkontinenzwäsche anziehen sollen«, scherzte Pain.
»Zehn Minuten Stille – und ich meine absolute Stille.« Sie hoffte, dass sie sich klar ausgedrückt hatte. »Ich möchte, dass du so still bist, dass ich die Sterne hören kann.«
»Viel Glück dabei«, antwortete der Mann und murmelte: »Toll, ich werde von einer verrückten Tussi gefangen gehalten, die glaubt, sie könne die Sterne hören.«
Sie führte ihren Partner von Bertha weg in Richtung Lichtung und hielt an den Überresten eines Geländers an, das einst rot-weiß gewesen sein mochte, jetzt aber nur noch ein verblasstes, rostbedecktes Grau war. Er folgte ihr, als sie darüber stieg, ein paar Schritte machte und das internationale Zeichen zum Anhalten gab.
»Willkommen«, sagte sie, »in Cutter’s Cove.«
Er blieb neben ihr stehen und konnte von dort aus einen riesigen Abgrund sehen, dessen Wasserspiegel gut fünfzehn Meter tiefer lag.
»Es war ein Steinbruch.« Sie zeigte auf die andere Seite. »Der eigentliche Bergbau befand sich auf der anderen Seite und hinter einer Kurve. Man kann ihn von hier aus nicht sehen und heutzutage wäre er auch nicht mehr schön anzusehen.«
»Haben sie zu tief gegraben?« Pains Vermutung war naheliegend.
»Vor ungefähr fünfzig Jahren.« Sie nickte. »Das hat den besten Platz für waghalsige Sprünge in vier Counties geschaffen – ganz zu schweigen davon«, fügte sie mit einem leichten Lächeln hinzu, »dass, obwohl es hier weit und breit kein Fischrestaurant gibt, das Austernöffnen zu einem der Hauptgründe für den Ruhm dieses Ortes wurde, wenn du verstehst, was ich meine. Glaub mir, das Austernöffnen ging in beide Richtungen.«
Er dachte darüber nach und beschloss, ihr einfach mal zu glauben.
»Es scheint jetzt ein wenig verlassen zu sein«, bemerkte er.
»Die Abwässer einer Fabrik achtzig Kilometer flussaufwärts sickerten in die unterirdische Wasserversorgung.« Sie seufzte. »Und es gibt nähere Plätze in den nahe gelegenen Orten, wo abends die Highschool-Schüler in ihren Autos ihre ersten Erfahrungen sammeln können, aber Cutter’s Cove? Als sich das Wasser von kristallklar zu orange verfärbte, kamen die Leute nicht mehr.«
»Wie schade«, antwortete er, als sie sich umdrehten und wieder zu Bertha und dem bevorstehenden Verhör zurückgingen. »Ich muss dich trotzdem fragen. Hast du jemals den waghalsigen Sprung gemacht?«
»Einmal.« Sie lächelte bei der Erinnerung an die Tapferkeit ihres siebzehnjährigen Ichs. »Mit den Füßen zuerst, die Nase den ganzen Weg nach unten zugehalten und ich habe sogar Jesus gefunden, Sekunden, bevor meine Füße das Wasser erreichen.«
»Und du hast überlebt?« Es war eine einfache, aber reflexartige Frage.
»Nun …« Sie hielt ihre Antwort so einfach wie möglich.
»Die meiste Zeit«, bemerkte Pain und sprach einen Gedanken aus, über den er oft nachgedacht hatte, »denke ich, dass dieser Jesus-Typ über die Gräueltaten weinen muss, die in seinem Namen begangen wurden. Aber bisweilen hat er auch einen Grund zum Lächeln. Du hast deinen Sturzflug überlebt, kannst die Geschichte erzählen und jetzt sind wir hier.«
Die Partner sahen sich an und merkten plötzlich, dass dies einer Diskussion zu nahe kam, die keiner von ihnen jemals mit dem anderen führen wollte oder musste.
»Candyman, Candyman, Candyman!«, schrie Pain in den nun sternenübersäten Himmel.
»Jesus, Jesus, Jesus!« Agony schrie genauso laut wie er.
Ihre Bitten wurden mit dröhnendem Schweigen beantwortet und die Partner tauschten ein unsicheres Lächeln aus.
»Es war einen Versuch wert«, sagte er achselzuckend.
»Man weiß es nie, wenn man es nicht versucht.« Sie zuckte auch mit den Schultern und war genauso erleichtert wie er.
Da weder Jesus noch der Candyman auftauchten, konzentrierten sie sich auf ihren Gefangenen.
Nach Pain und der Aufarbeitung seiner Treble-Hook-Realität, Agony und ihren Erinnerungen an Cutter’s Cove und ihrem gemeinsamen Schreien, gingen die Partner gelassen zu Bertha. Sie fühlten sich wie ein Paar, das eine sehr intensive, aber erfolgreiche Therapiesitzung hinter sich hatte und bereit war, in geselliger Stille nach Hause zu gehen.
»Hey! Hey! Hey!«, schrie der Idiot, der immer noch in Berthas Käfig eingesperrt war. »Ich muss jetzt wirklich, wirklich, wirklich pissen!«
»Mist.« Pain ließ den Kopf hängen. »Wir hätten einen Babysitter anheuern sollen.«
»Wenn es ein Mädchen wäre«, sagte sie und war sich sicher, dass sie in diesem Fall die Oberhand hatte, »würde ich ihr gerne helfen. Aber das ist ein Junge und du kennst dich mit Hosenställen viel besser aus als ich. Er gehört ganz dir.«
Er schätzte das Kichern seiner Partnerin nicht, aber sie hatte nicht ganz unrecht.
Nachdem er Berthas Heckklappe aufgemacht hatte, schloss er den Käfig auf, zog den großen Schläger heraus, half ihm, auf seinen eigenen zwei Füßen auf festem Boden zu balancieren und sagte: »Deine Hände sind vorn gefesselt und nicht auf dem Rücken, also kannst du dir deinen verdammten Reißverschluss selbst suchen und dir alle Zeit nehmen, die du brauchst.«
»Du solltest vielleicht zurücktreten«, gab der Gefangene eine faire Warnung ab, kurz bevor seine Hände den Reißverschluss endlich hatten öffnen können und den Strahl auf den entferntesten Platz richtete, den er finden konnte. Drei Minuten später schien er sich endlich erleichtert zu haben und schaffte es, den Reißverschluss seines Hosenschlitzes zu schließen – wofür Pain sehr dankbar war – und stieß einen erleichterten Seufzer aus, als er sich an die Kante von Berthas Kofferraum setzte.
»Danke, Mann«, sagte der mit den Kabelbindern gefesselte Mann. »Das wäre beinahe ganz übel in die Hose gegangen.«
Der Mann musste wirklich! Dem ehemaligen Agenten wurde klar, dass Evans Wächter fast acht Stunden zuvor ohne Vorwarnung überrumpelt und anschließend in den Kofferraum von Bertha geworfen worden war, wo er nichts als Drohungen und einen Burger mit Spezialsoße bekommen hatte. Verdammt, das nenne ich mal Kontrolle über die Blase.
»Also, was haben wir denn hier?« Agony fühlte sich endlich sicher, sich an dem Gespräch beteiligen zu können, ohne dass ihre Stiefel Gefahr liefen angepinkelt zu werden.
»Danke für die Pinkelpause.« Evans großer, opernbegeisterter Wächter fand seine Stimme. »Und danke für den Burger – auch wenn ich jetzt eine Serviette oder zwei gebrauchen könnte. Etwas von der Soße ist auf meinen Anzug getropft. Ihr habt keine Ahnung, wie schwer es ist, einen der leckersten Burger, die ich je gegessen habe, mit gefesselten Händen zu essen, ohne dass etwas von der Soße heruntertropft.«
Agony kramte vorn im Handschuhfach herum und kam mit ein paar Servietten zurück, reichte sie ihm und hoffte, dass er in der Lage sein würde, seinen eigenen Schlamassel abzuwischen.
»Also«, sagte er, nachdem er sein Bestes getan hatte, um die Soße abzuwischen, »das ist es nun?«
»Das ist was?« Pain war sich bei der Intention der Frage nicht sicher.
»Hier sterbe ich – jemand muss für die Entführung des Briten Evan bezahlen und da ich der Einzige bin, den du mitgebracht hast, werde ich wohl das Opferlamm sein.«
»Wir haben dir bereits gesagt«, antwortete er geduldig, »dass wir nicht vorhaben, dich zu töten …«
»Es sei denn, wir müssen«, fügte Agony zur Verdeutlichung hinzu.
»Dann sagt mir, was ich tun muss, damit ihr mich nicht umbringt.«
»Beantworte ein paar Fragen«, sagte der Ex-Agent entschlossen, obwohl Evan nur vermutet hatte, dass der Wächter ein wenig mehr über den Liquidationsverkauf wissen könnte.
»Oh.« Sylvester schien sich zu entspannen. »Dann frag mich ruhig. Ich bin ein offenes Buch.«
»Was?« Pain schien sichtlich enttäuscht zu sein. »Kein ›Du wirst mich niemals brechen‹ oder ›Du weißt nicht, mit wem du dich anlegst‹ oder Gerede über deine mächtigen Freunde in hohen Positionen, die jetzt sicher überall nach uns drei Hübschen suchen?«
»Ich spreche nur für mich«, antwortete der Wächter, »aber ich hoffe, sie finden uns nicht.«
»Wie bitte?« Agonys Partner schien nicht sehr erfreut darüber zu sein, wie die Sache lief.
»Sieh mal …« Sylvester zuckte mit den Schultern. »Die Jungs in der Lobby und ich hatten nur eine Aufgabe, nämlich den Briten und das Kind zum Liquidationsverkauf zu bringen. Ihr zwei habt diesen Auftrag so effizient beendet, wie ich es noch nie erlebt habe. Magpie wird im Moment nicht sehr glücklich mit mir sein, also würde ich gerne Abstand von ihnen halten, zumindest bis nach dem Verkauf. Dann kann ich herausfinden, welche Stücke verkauft wurden, wer die wertvollsten gekauft hat und mich vielleicht mit einem der Käufer zusammentun. Also frag bis dahin ruhig. Ich habe nichts mehr zu verbergen, was es wert wäre, dafür verletzt oder getötet zu werden.«
»Wie jetzt?« Pain ließ den Kopf hängen. »So einfach ist das? Wir fragen und du antwortest?«
»Sicher.« Der Mann verstand nun nicht, was daran so kompliziert war. »Warum nicht?«
»Willst du dich jetzt etwa wirklich beschweren«, warf Agony ein und schaute ihren Partner wundernd an, »dass ein Verdächtiger, der verhört wird, bereit ist, vollständig zu kooperieren?«
»Ich weiß es nicht.« Ihr Partner schritt in einem kleinen Kreis umher. »Ich schätze, ich bin ein wenig verwirrt. Es ist, als ob du dich auf einen Herausforderer vorbereitest« – er warf ein paar schnelle Stöße in die Luft – »und obwohl du weißt, dass du ihn vernichten wirst, setzt das Adrenalin ein und muss irgendwo ein Ventil finden.«
»Ich könnte ein paar Sprüche klopfen«, bot Sylvester an, »wenn dich das in eine bessere Fragestimmung bringt. Ich kann gut mit harten Worten umgehen, aber du musst mir versprechen, mich nicht von der Klippe da drüben zu werfen oder mich mehr als ein paar Mal zu schlagen. Ich kann gut Schläge einstecken, aber nicht in den Bauch. Mein Magen verdaut immer noch den Burger.«
»Und keine Nierenschläge«, versprach Pain, während er das Angebot zu überdenken schien.
»Und keine Tritte in den Schritt, okay?« Der Wächter stand auf. »Vielleicht will ich eines Tages doch Kinder haben.«
»Was zum Teufel?«, rief Agony, weil sie befürchtete, dass ihr Partner die Kabelbinder aufschneiden würde, damit die beiden Macho-Männer zur Sache kommen konnten. »Willst du das wirklich?«
Sie schob Sylvester, dessen Hand- und Fußgelenke immer noch gefesselt waren, wieder auf die Kante des Kofferraums und wandte sich Pain zu. »Antworte nicht darauf. Ich will nicht noch mehr Einblicke in dein krankes Hirn haben, als ich bisher schon das zweifelhafte Vergnügen hatte.«
Ihr Gefangener hatte in den Tagen, in denen er bei seinen verschiedenen Jobs zumeist als Handlanger fürs Grobe diente, zahlreiche Agenten gesehen, aber diese beiden waren außerhalb seines Erfahrungsbereichs. Einer von ihnen – oder beide – war eine tickende Zeitbombe, die an der Schwelle zum Psychotiker stand. Er tippte allerdings auf beide.
»Entschuldigung«, rief der gefesselte Gefangene. »Ich würde eigentlich niemals wagen, den Streit zwischen Liebenden zu unterbrechen, aber ich, Sylvester, der gedungene Schläger, bin bereit, jede Frage zu beantworten, die einer von euch beiden Verrückten stellen möchte. Aber ich kann mich immer nur mit einem Psycho auf einmal befassen.«
»Mein Fuß in deinem Gesicht?« Agony nahm vor Pain eine Kampfhaltung ein.
»Das ist nicht fair«, antwortete ihr Partner. »Du hast zwei Füße. Ich habe nur ein Gesicht.«
»Du hast weise gewählt«, antwortete sie und wandte ihre Aufmerksamkeit ihrem Gefangenen zu, während Pain loszog und eine Runde Schattenboxen machte, um ein wenig Energie abzubauen.
Sie beugte sich vor und stellte sich dem gescheiterten Wächter gegenüber, während sie ihren Teleskopschlagstock herausholte und ihn ein paar Mal gegen sein Schienbein tippte. Damit wollte sie nur sicherstellen, dass er wusste, dass sie ihm zwar noch keine Schmerzen zugefügt hatten, er aber bei Bedarf immer noch ernsthaft verletzt werden konnte.
»Entweder du konzentrierst dich auf mich«, begann sie, jetzt, da sie seine volle Aufmerksamkeit hatte – denn Schienbeinhiebe waren zwar nie tödlich, aber sie konnten wehtun wie die Faust aufs Auge –, »oder du kannst es mit meinem idiotischen Partner versuchen, der jetzt darauf aus zu sein scheint, den nächsten Stern, der es wagt, aufzutauchen, zu erledigen.«
»Bitte sei nicht beleidigt, wenn ich das falsch formuliere.« Sylvester traf seine Wahl. »Aber ich ziehe die Schlampe mit dem Schlagstock dem Psycho vor, der gerade versucht, die Sterne zu verprügeln.«
Zu einem anderen Zeitpunkt und unter anderen Umständen hätte sich Agony vielleicht über den Spruch mit der Schlampe geärgert, aber angesichts seiner Möglichkeiten hatte der Mann recht.
»Hier ist, was wir bereits wissen«, informierte sie ihren Gefangenen, einen bisher scheinbar sehr willigen Informanten, »und wir hoffen, dass du uns helfen kannst, indem du ein paar Lücken füllst.«
»Ich werde mein Bestes geben und versuchen, keine Platzpatronen abzufeuern.« Er schmunzelte über sein Wortspiel.
»Der war gut.« Sie schmunzelte mit ihm. »Wir wissen, dass Magpie Municipal einen Liquidationsverkauf abhalten wird. Was kannst du mir darüber sagen?«
»Das kommt darauf an«, antwortete Sylvester mit einer Stimme, die nicht gerade hinterhältig klang, aber verhandlungsbereit zu sein schien.
»Kommt worauf an?« Anfangs hatte sie sich noch Hoffnung gemacht, nachdem sie ihrem Partner geholfen hatte, eine Ablenkung zu finden, aber sie begann, an ihrer Strategie zu zweifeln.
»Das hängt davon ab«, antwortete der große, mit Kabelbindern gefesselte Schläger leise, »wie viele von den Burgern du noch übrig hast und ob ich dir und deinem Partner gleichzeitig die Fragen beantworten kann. Außerdem wäre es schön, wenn wir so tun könnten, als ob wir nur ein freundliches Gespräch führen würden, während wir unter den Sternen sitzen«, fügte er wehmütig hinzu. »Es ist lange her, dass ich so viele Sterne auf einmal gesehen habe.«
»Pain?«, rief Agony. »Auf ein Wort bitte?«
Eine halbe Stunde später waren die Verhandlungen abgeschlossen und die drei saßen auf dem Boden in der Mitte der Lichtung. Die Kabelbinder an Sylvesters Beinen waren entfernt und wieder angebracht worden, um seine Bewegungen einzuschränken, aber sie waren zumindest locker genug, damit er in die Bäume humpeln konnte, wenn er sich erleichtern musste. Die Fesseln um seine Handgelenke waren komplett entfernt worden, damit sie alle die Extrasoßen-Burger genießen konnten.
»Frag los.« Der Gefangene war bereit, sein Verhör zu beginnen, in der Hoffnung, dass er wenigstens einen Bissen von seinem jetzt leicht warmen, aber immer noch sehr leckeren Burger bekommen würde.
Agony nahm ebenfalls einen Bissen. »Erzähl uns, was du über den Liquidationsverkauf von Magpie weißt.«
»Jeder lokale Vermögenswert wird verkauft.« Sylvester spürte, dass die beiden es merken würden, wenn er lügen würde und er hätte keine Chance mehr, seinen Burger zu Ende zu essen, bevor man ihn über die Klippe werfen würde. »Einige Vermögenswerte haben einen festen Wert. Andere werden an den Meistbietenden versteigert.«
Sie hatte plötzlich den Drang, ihn von der Klippe zu stürzen, fertiger Burger hin oder her. »Und was glaubst du, wie hoch das höchste Gebot für ein vierjähriges Mädchen wäre?«
Er sah die Wut in den Augen der vernehmenden Ex-Polizistin, die der Frage folgte, aber er wusste, dass er sie beantworten musste und tat sein Bestes nach dem, was er mitbekommen hatte. Schließlich war er nur eine angeheuerte Arbeitskraft.
»Du darfst nicht vergessen«, antwortete er und versuchte, die Situation zu erklären, »dass alles, was Magpie Municipal tut, mit lokalen Mitteln geschieht. Jede Aktivität, die die Staatsgrenzen überschreitet, würde die Bundespolizei anlocken wie die Fliegen den Zucker.«
»Wie Scheiße die Fliegen, heißt das richtig.« Pain wünschte, der Mann könnte seine Metaphern richtig anwenden. »Und Bienen zu Honig. Ich glaube, Ameisen haben das Monopol auf Zucker.«
»Ja, wie jeder von denen.« Sylvester nickte, nahm aber anscheinend keinen Anstoß an den Korrekturen. »Staatliche Aufmerksamkeit ist etwas, das Magpie meidet wie die … äh … Pest?«
»Herzlichen Glückwunsch.« Der Agent versuchte krampfhaft, seinen Sarkasmus zu unterdrücken, was allerdings nicht wirklich klappte. »Du hast einen richtig erwischt.«
»Das kleine Mädchen?« Agony versuchte, die Befragung aufrechtzuerhalten, ehe die ganze Angelegenheit in ein Sprichwortquiz ausartete.
»Wie ich schon zu sagen versuchte, wird alles lokal beschafft und lokal verteilt. Das Gerücht besagt, dass der örtliche Nesthäkchen-Agent eine Verbindung zu jemandem hoch oben in den Reihen der Polizei hat. Dieser Polizist, wer auch immer er ist, weiß, dass das Mädchen verschwunden ist. Er weiß auch, dass eine zwielichtige Bundesbehörde, mit der der Polizist schon einmal zu tun hatte und von der er über den Tisch gezogen wurde, ebenfalls nach dem Mädchen sucht. Der Polizist und der Nesthäkchen-Agent haben einen Deal ausgehandelt. Der Polizist kauft das Mädchen zu einem sehr günstigen Preis und darf es als Trophäe benutzen – eine Art großer PR-Schachzug, um den Arschlöchern der besagten Bundesbehörde den Stinkefinger zu zeigen.«
»Hm.« Sie verschränkte die Arme und sah ihren Partner an. »Eine zwielichtige Bundesbehörde voller Arschlöcher. Ich frage mich, wie oft ich raten müsste, um auf die richtige Antwort zu kommen.« Sie wandte sich wieder an Sylvester. »Wir alle wissen, dass Lösegelder von Einzelpersonen gezahlt werden, aber ich habe noch nie von einem Beamten gehört, der einen Deal macht, um …«
»Nichts für ungut.« Er unterbrach sie. »Und bitte korrigiere mich, wenn ich falsch liege, aber du siehst nicht so aus, als hättest du jemals auf dieser hohen Ebene bei der Polizei gearbeitet.«
»Er mag ein Klugscheißer sein«, warf Pain ein, bevor seine Partnerin ihren Schlagstock einsetzen konnte, »aber das heißt nicht, dass er Unrecht hat.«
»Oder vielleicht spinnt er sich einfach nur irgendeinen Scheiß zusammen, um seinen Arsch zu retten, denn wenn wir nur fünf Sekunden darüber nachdenken würden, welche Art von Scheißkerlen ein Kind auf einer Auktion kaufen würde, würden wir ihn über den Rand der Klippe werfen und nie wieder zurückschauen.«
»Nun …« Sylvester wurde langsam nervös. »Das mag ja alles wahr sein, aber ich lüge nicht. Vergiss nicht, dass jetzt alle Beteiligten in Sicherheit sind.«
»Was man von dir nicht unbedingt behaupten kann«, betonte sie.
»Aber das Mädchen ist in Sicherheit und ich nehme an, dass Evan in Gewahrsam genommen wurde, also bin ich mir nicht sicher, welches Interesse du noch an dem Liquidationsverkauf hast. Kannst du mir vielleicht einen Tipp geben?«
»Sagt dir das Wort Treble Hook etwas?«, übernahm Pain das Gespräch.
»Treble Hook?« Der Wachmann wiederholte die Worte, als wolle er entweder sein Gedächtnis durchforsten oder Zeit gewinnen.
»Treble … Hook.« Er versuchte es mit der geduldigen, wenn auch etwas gefährlich klingenden Methode. »Soll ich es für dich buchstabieren?«
»Nein.« Sylvester schüttelte den Kopf. »Ich habe die Worte gehört, aber ich bin nicht im Bilde darüber, was sie bedeuten, außer der Tatsache, dass es sich um einen der wichtigsten Gegenstände handelt, die versteigert werden. Entweder du glaubst mir das oder du lässt mich den Burger aufessen und führst mich dann zur Klippe.«
Pain glaubte ihm. »Sagen wir, wir wären gerne eine der Parteien, die sehr daran interessiert sind, dafür zu bieten und das, mein Freund, ist der Grund, warum du noch am Leben bist. Wir müssen wissen, wann und wo diese Auktion stattfindet und wie wir eine Einladung dazu bekommen.«
»Der Nesthäkchen-Agent verschickt keine Einladungen …«
»Nesthäkchen dies!« Agony schnappte zu. »Nesthäkchen das! Hat dieses verdammte Nesthäkchen auch einen Namen?«
»Der einzige Name, den ich je von ihm gehört habe, ist Havoc.«
»Hast du Havoc gesagt?« Am Tonfall ihres Partners konnte sie erkennen, dass er vielleicht eine Ahnung hatte, was oder vielmehr wer Havoc war.
»Ja.« Sylvester nickte. »Havoc.« Er konnte sehen, dass der große Kerl ernsthaft sauer war und die Frau … Nun, er hatte bereits einen sanften Schlag ihres Schlagstocks gespürt und hatte wirklich keine Lust, ihn mit voller Geschwindigkeit gegen seinen Körper schwingen zu sehen, also wollte er dem glücklichen Paar so gut wie möglich helfen.
»Hört zu«, fuhr der Mietschläger fort, »ich muss nichts mehr über diesen Treble Hook wissen oder darüber, wie viel ihr beide bereit seid, dafür zu zahlen oder welchen Schaden ihr auch immer anrichten wollt, um einen Käuferrabatt zu bekommen. Aber ich habe euch beide in Aktion gesehen und das einzige wirkliche Problem, das ihr habt, ist, dass ihr nicht wisst, wo oder wann Havocs Schlussverkauf stattfinden wird. Das ist etwas, bei dem ich euch helfen kann.«
»Du hast unsere volle Aufmerksamkeit«, ermutigte Pain ihn.
»Die beiden anderen Handlanger sind inzwischen verschwunden. Sie waren nur angeheuerte Schläger. Ich war derjenige, der den Kontakt zu Havoc aufrechterhalten hat. Ich hatte noch keine Gelegenheit, ihm zu sagen, dass wir unseren Auftrag vermasselt haben und soweit er weiß, sind Evan und das Mädchen immer noch in Sicherheit und bereit zur Auslieferung.«
»Und?« Der Agent winkte ungeduldig das Gespräch weiter.
»Der Plan ist, dass Havoc mir eine SMS schickt. Ich schreibe ihm die Passphrase und er schickt mir eine weitere SMS mit der Zeit und dem Ort. Du musst mich nur lange genug am Leben halten, um sie zu empfangen und zu beantworten, dann hast du alle Informationen, die du benötigst, um die Party zu stürmen. Dann haben wir drei keinen Grund mehr, uns zu bekriegen und ich, der ich ein kleiner, unbedeutender, überhaupt nicht nachtragender Wicht bin, bin froh, wenn ich für immer aus eurem Leben verschwinden darf.«
»Wo ist dein Handy?« Pain wurde klar, dass sie sich zwar vergewissert hatten, dass er keine Waffen bei sich hatte, bevor sie ihn aus dem Hotel eskortiert hatten, aber sie hatten nicht nach der vielleicht gefährlichsten Waffe überhaupt gesucht.
»Hintere rechte Hosentasche. Mit den Kabelbindern an der Hand hätte ich es nicht erreichen können, selbst wenn ich es gewollt hätte. Es ist ein Wegwerf-Klapphandy. Holt es heraus und ihr könnt selbst sehen, dass es seit gestern nicht mehr benutzt wurde, als ich mich per SMS zurückgemeldet habe, dass die Einkäufe sicher und unter Kontrolle sind.«
Sie ließen Sylvester aufstehen. Pain drehte ihn, um das Gerät aus seiner Tasche zu fischen und sprang zurück, als es summte.
»Es ist wahrscheinlich Havoc.« Der Mietschläger wollte eine Panik verhindern. »Er sagte, die Termininfos würden vor Mitternacht eintreffen.«
Pain zog das Telefon heraus und klappte es auf. Sie lasen alle gemeinsam die Textnachricht: Der Verkauf läuft. Das war alles, was darin stand.
»Ich muss jetzt die Passphrase eingeben.« Sylvester erinnerte sie an den Prozess, den er kurz zuvor erwähnt hatte.
Agony war skeptisch. »Woher wissen wir, dass es nicht zwei verschiedene Passphrasen gibt? Eine, die bedeutet, dass alles in Ordnung ist und eine, die bedeutet: ›Lauf wie der Teufel‹.«
»Echt jetzt? Nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben?« Der Mann sah verletzt aus. »Havoc wird mich mindestens schwer verletzen, wenn er herausfindet, dass ich es versaut habe. Meine beste Hoffnung zu überleben ist, euch beide bei Laune zu halten und mich bei einer Organisation in einer anderen Zeitzone zu verdingen. Ich war noch nie in Kalifornien, aber ich habe gehört, dass es dort schöne Strände gibt. Vielleicht kann ich einen Job als Rettungsschwimmer bekommen.«
»Kannst du überhaupt schwimmen?« Pain hatte selbst schon ein paar Mal darüber nachgedacht, diesen Beruf zu ergreifen, aber er hatte Angst vor Haien.
»Ich könnte es lernen.« Sylvester begann sich für die Idee zu erwärmen. »Kleine Schritte, richtig?«
»Richtig.« Der ehemalige Agent nickte und schwenkte das Telefon in seiner Hand. »Die Passphrase, bitte?«
Er tippte sie ein. Zehn Sekunden später hatte er die Uhrzeit und die Adresse.
»Wir sind auf dem Weg in die Stadt«, informierte Pain seine Partnerin. »Der Verkauf findet morgen Abend statt.«
»Was ist mit mir?« Der Mietschläger wollte nicht egozentrisch klingen, aber er dachte, er hätte das Recht zu wissen, ob es sich noch lohnen würde, sich über kapitalgedeckte Rentenversicherungen zu informieren. Er könnte sich auch ein kurzes Gebet ausdenken, das er auf dem Weg über den Rand der Klippe sprechen konnte.
»Ich fürchte, du wirst eine Weile bei uns bleiben müssen.« Pain versuchte, den Gefangenen zu beruhigen. »Wir bringen dich zu Freunden von uns, die ein Auge auf dich haben werden, bis der Verkauf abgeschlossen ist. Wenn alles, was du uns erzählt hast, der Wahrheit entspricht, wirst du freigelassen und kannst deinen Weg gehen. Wenn du uns an der Nase herumgeführt hast, wirst du dir wünschen, wir hätten dich mit deiner letzten Mahlzeit versorgt und dir geholfen, einen Kopfsprung von der Klippe in dieses herrliche, chemisch verseuchte Brackwasser zu machen.«
»Damit kann ich leben«, antwortete der große Schläger. »Ist noch eine kurze Pinkelpause drin? Es ist eine lange Fahrt.«
Fünf Minuten später kletterte Sylvester friedlich in seinen Käfig und richtete sich ein.
»Möchtest du immer noch den Opernsender hören?«, rief der ehemalige Agent, als er und Agony sich vorn im Wagen niederließen.
»Sehr gerne«, antwortete der Gefangene fröhlich. Agony legte den Gang ein und wendete, um in die Stadt zu fahren.