U m genau fünfzehn Uhr am gleichen Tag kam Agony mit einer Tüte hochgestapelter Pastrami-Sandwiches und Beilagen in der Hand in Pains Wohnung und stellte sie auf seinen Tisch.
»Ich weiß nicht, was du da drinnen kochst«, rief sie in seine Küche, »aber nach Kaffee riecht es jedenfalls nicht.«
Es roch vor allem nach Zitrone, Ingwer und etwas anderem, das vielleicht Zimt sein könnte. Er trat heraus und stellte eine Tasse mit einem kalten Gebräu und ein paar Eiswürfeln vor sie hin.
»Es ist eine personalisierte Teemischung«, erklärt er. »Er eignet sich hervorragend als Gaumenreiniger, besonders wenn Pastrami auf dem Speiseplan steht und ein langer Tag vor uns liegt.«
Sie riskierte einen Schluck und beließ ihn im Mund, bevor sie ihn herunterschluckte.
»Scheiße«, sagte sie zustimmend, »das ist ein echter Gaumenschmaus.«
Er lächelte, nickte und konzentrierte sich auf seine Pastrami, die Essiggurken und die Kartoffelspalten. Das war vielleicht die einzige Mahlzeit, die sie an diesem Tag zu sich nehmen würden, also versuchten sie, es zu genießen, während sie sich über die Bissen hinweg unterhielten.
»Ich habe ein bisschen recherchiert«, sagte er, um die Sache einzuleiten. »Wir sind auf dem Weg zu einem Gebäude in einer Lagerhallengegend, das einst von geschäftiger Größe geträumt hat.«
»Geht das genauer, bitte?« Sie schob eine Scheibe einer Essiggurke in ihr Sandwich, nahm einen großen Bissen, genoss den Geschmack für einen Moment und nahm dann schnell einen Schluck von seinem Eisteegetränk.
»Es war einmal ein großes Lagerhaus, dessen Besitzer schwere Zeiten durchmachte. Zu dieser Zeit ging es vielen Lagerhäusern ähnlich schlecht. Ein Immobilienentwickler kaufte den ganzen Block auf. Sein Plan war es, das Ganze in einen hochpreisigen Stadtteil zu verwandeln. Er stellte sich Eigentumswohnungen und Apartments für die größeren Lagerbereiche vor, während die kleineren Räume in die besten Geschäfte der Stadt umgewandelt werden sollten, ohne dass man dafür ins Stadtzentrum fahren müsste.«
»Ein geschlossener Stadtbezirk?« Agony hatte den Begriff schon einmal gehört.
»Genau.« Er verschluckte eine ganze Gurke, was ihm einen bösen Blick von seiner Partnerin einbrachte. »Sein geplantes Bauvorhaben namens Bricktown sollte sich an junge, aufstrebende Leute richten. Das zentrale Element des Projekts in der Mitte des Blocks sollte ein mehrstöckiges Lagerhaus sein, das versprach, der angesagteste Club zu werden und das Beste daran war, dass es leicht zu Fuß zu erreichen war.«
»Vorausgesetzt, die Leute sind noch bereit zu laufen.« Sie biss in ihr Sandwich und beschloss, dass es sie nicht interessierte, woraus Pastrami gemacht war oder was auch immer für dünn geschnittenes Fleisch hineingeschoben wurde. Verdammt, das Zeug ist gut.
»Bricktown«, fuhr Pain fort, »sollte laut den Broschüren mit allem mithalten können, was andere Städte zu bieten hatten. New York? Das ist so zwanzigstes Jahrhundert. Miami Beach? Nichts weiter als eine Touristenfalle mit Stränden.«
»Ich liebe Strände«, kommentierte sie und nahm einen weiteren Bissen.
»Offensichtlich.« Pain grinste. »Deine goldene, nahtlose Bräune ist ein Beweis dafür, wie viel Zeit du an ihnen verbringst.«
Sie blickte auf ihre blassen Arme und wusste, dass sie diesen Kampf verloren hatte. »Nun ja, es ist zumindest eine gesunde Kellerbräune.«
»Los Angeles?« Er konzentrierte sich auf das, was er erfahren hatte. »Nichts als eine Stadt voller Glitter, falscher Brüste und Berühmtheiten, die ihr Verfallsdatum längst überschritten haben. Oh nein, Bricktown würde das angesagteste Viertel des Landes für alle werden, die das Stadtleben genießen wollen, ohne zu pendeln. Das Zentrum des Ganzen wäre für die jungen Aufsteiger das Brickhouse – ein vierstöckiges Lagerhaus, das in den innovativsten Club aller Zeiten umgewandelt werden sollte, wobei jede Etage auf spezielle Bedürfnisse zugeschnitten ist.«
»Wie speziell?« Agony war immer noch ganz aufgeregt, weil sie Shayla gerettet hatten.
»Im rechtlichen Rahmen speziell«, betonte er. »Das hat nichts mit minderjährigen Mädchen zu tun. Willst du feiern und die Nacht durchtanzen? In der ersten Etage gibt es DJs, pulsierende Musik und Stroboskoplicht zu deinen Diensten. Andere Länder erleben, ohne einen Reisepass zu benötigen? Im zweiten Stock gibt es gemütliche irische und britische Pubs und deutsche Biergärten, in denen dir die Barkeeper Guinness oder Fish and Chips servieren und das Lied mitsingen, mit dem dich dein Großvater in den Schlaf gesungen haben könnte. Island Beats? Dritter Stock. Alles von Marleys ›Three Little Birds‹ bis zum alten Gassenhauer ›Ukulele Lady‹. Im vierten Stock wurde versprochen, dass du dich vor dem Eintreten entscheiden sollst, ob du selbstmordgefährdet bist oder nicht, denn dort gibt es nichts als Blues.«
»Tut mir leid.« Sie durchsuchte ihre Erinnerungen an die Stadt. »Bricktown? The Brickhouse? Ich kann mich nicht erinnern.«
»Genau wie die Finanziers und die Investoren, die darauf hereinfielen. Sie schafften es, das Brickhouse für kurze Zeit zu eröffnen, aber die Eigentumswohnungen und Apartments zogen nicht genug Bewohner an, bevor sich die Geldgeber zurückzogen und den Club sich selbst überließen. Dank intensiver Werbung lief das Geschäft in den ersten Monaten nach der Eröffnung gut, aber dann ging es schnell wieder bergab. Wenn du zu den Leuten gehörtest, die etwas sehen und gesehen werden wollten, gab es bessere Orte als ein verlassenes Lagerhausviertel. Auch wenn nun alles geschlossen ist, findet der Verkauf wohl im Brickhouse statt. Wir haben zwei Stunden, um uns vorzubereiten, zwei weitere Stunden für die Observierung und dann ist Partytime.«
»Da du keine Waffen magst, sag mir bitte nicht, dass du von mir erwartest, dass ich unbewaffnet gehe«, stellte sie fest, während sie begann, den Esstisch zu säubern, indem sie die leeren Verpackungen in die Tüte des Restaurants zurücksteckte. Die Hälfte der beiden Sandwiches steckte sie in einen Frischhaltebeutel für die spätere Verwendung.
»Versteck so viele Schusswaffen in deinem Mantel, wie du tragen kannst«, riet er fröhlich. »Ich wähle aus meinem Sortiment an getarnten Boom-Booms und Bang-Bangs. Ich denke, dass wir beide zusammen alle Optionen abdecken können.«
»Hast du etwas von unserer Vermieterin gehört?«
»Sie wird ihre Schulden erst einfordern, wenn sie fällig sind. SISTER ist zuerst dran. Danach haben wir noch zwei Tage Zeit, um Eddy the Getty aufzuspüren. Ich denke, wenn wir unsere Nacht im Club erfolgreich hinter uns bringen, wird es kein großes Problem sein, seine Spur zu finden.«
»Ich treffe dich hier in zwei Stunden.« Sie warf ihm die Tüte mit den leeren Verpackungen zu und nahm die beiden halb gegessenen Sandwiches mit. Er fing die Tüte reflexartig auf, inspizierte deren Inhalt und stellte fest, dass keine einzige Gurke in Sicht war. Als sie die Tür erreichte, lächelte sie und eine Essiggurke war statt ihrer Zunge zu sehen, wie als wenn sie ihm die Zunge rausstrecken würde.
Aahhh , dachte er verärgert, Partner. Du darfst sie nicht töten, darfst aber auch keinem anderen die Chance geben, dir zuvorzukommen.
Er eilte in sein kleines Badezimmer, wo sein magisch-mystischer Körperpanzer über den Duschvorhang gehängt worden war und nun sauber, trocken und einsatzbereit war. Er trug ihn nicht bei jedem Abenteuer, aber er vermutete, dass die vollärmelige Version bei diesem Abenteuer nützlich sein könnte. Pain schlüpfte in die Hose – ein Bein nach dem anderen, wie es die meisten Sterblichen taten – und zog das Oberteil an, bevor er den Reißverschluss bis zu seinem Hals hochzog.
Als Oberbekleidung wählte er eine schwarze Hose, die manche als einfache Chino im taktischen Stil bezeichnen würden, aber diese hatte ein paar zusätzliche Taschen und die Beine waren so angepasst, dass sie leicht über seine Knöchel gleiten konnten, um schnellen Zugang zu den Außenfächern seiner Stiefel zu ermöglichen.
Ein locker sitzendes, schwarzes T-Shirt bedeckte das, was manche als Geldgürtel bezeichnen würden, der eng um seinen Bauch geschnallt war, obwohl er nichts bei sich trug, was eine Bank als Geld einstufen würde. Dazu trug er seine schwarze Lieblingslederjacke. Die Einschusslöcher zeigten, dass sie schon bessere Tage gesehen hatte, aber die Reißverschlusstaschen waren noch intakt.
Insgesamt brachte er mit den verschiedenen Taschen seiner Kleidung mindestens sieben Kilo Zusatzgewicht auf die Waage. Er nahm sich einen Moment Zeit, um seine Liste im Kopf durchzugehen. Pfefferspray in Strafverfolgungsbehörden-Stärke, ein oder zwei kleine Tränengaskanister, ein Paar beschwerte Handschuhe, deren Außenseite mit Dutzenden kleiner, rasiermesserscharfer Kristalle besetzt war, ein schweres Set Bola-Kugeln und ein paar kleine Sprengladungen, falls er spontan eine Wand durchbrechen musste. Mit ein paar weiteren Hightech-Geräten – eines davon würde bei jedem in seiner unmittelbaren Nähe einen ernsthaften, wenn auch vorübergehenden Gehörschaden verursachen – fühlte er sich für den bevorstehenden Abend angemessen gekleidet.
Er konnte darauf vertrauen, dass seine Partnerin die ballistische Feuerkraft zur Verfügung stellen würde, die sie für nötig hielt.
Agony klopfte scharf an seine Tür.
»Ist offen!«, rief er, verließ schnell sein Schlafzimmer und schleppte sich von dem Ganzkörperspiegel weg, vor dem er wahrscheinlich mehr Zeit als nötig verbracht hatte, um sein schlecht aussehendes Ich zu bewundern.
Sie trug wieder ihren langen Mantel – den gleichen, den sie getragen hatte, als er sie zum ersten Mal an dem Abend gesehen hatte, an dem sie sich in Augusto Zazas Club getroffen hatten. Verdammt , dachte er – nicht zum ersten Mal – ihr steht dieser Mantel richtig gut.
Zum Glück konnte sie seine Gedanken nicht lesen und wuchtete eine große Umhängetasche auf den Tisch.
»Ich muss die hier sortieren.« Sie begann, eine Reihe von Handfeuerwaffen, Magazinen und Patronen auszubreiten, die sie von den zahlreichen Menschen, denen sie während ihrer gemeinsamen Zeit begegnet waren, gesammelt hatten. Die meisten von ihnen waren nicht glücklich darüber, dass man ihnen ihre Waffen abgenommen hatte, aber sie hatten keine andere Wahl gehabt.
»Und nach was suchen wir?«
»Maximale Munitionsmenge und minimales Gewicht. Ich kann nachher ja nicht einfach reingehen und alle bitten, mit dem, was sie gerade tun, aufzuhören, während ich meine Tasche durchsuche.«
»Verfügbare Holster?«
Sie zog ihren langen Mantel aus und trug eine Kleidung, die der seinen nicht unähnlich war, nur dass ihre schwarze Hose etwas figurbetonter war und in ihre halblangen, geschnürten Lederstiefel gesteckt wurde. Ihm fiel auf, dass ein Stiefel ein Fach für eine fünfzehn Zentimeter lange Klinge hatte und der andere eine zweischüssige Derringer-Taschenpistole enthielt.
Ein Doppelholster war über ihre Hüfte geschnallt und ein Handgelenkholster mit Schnellverschluss war groß genug, um eine einläufige Derringer für den spontanen, rettenden Schuss zwischendurch aufzunehmen.
»Ich habe meinen Schlagstock in der linken Manteltasche und werde meine treue Smith & Wesson in der rechten tragen.«
Trotz seiner Abneigung gegen Waffen musste Pain die Zeit bewundern, die sie sich genommen hatte, um ihr Outfit zusammenzustellen. »Ersatzpatronen oder Magazine?«
Sie drehte sich und zeigte die Weste, die sie über ihrem schwarzen T-Shirt trug. Darin waren vier Munitionstaschen eingenäht.
Sie durchsuchten und begutachteten die verschiedenen Waffen, von denen viele keiner von ihnen jemals abgefeuert hatte und entschieden sich für zwei zuverlässig aussehende Handfeuerwaffen, die in ihre Holster passten, von denen eine Evans Glock war. Jede der Waffen war voll geladen und hatte zwei Ersatzmagazine.
Beide hofften, dass es nicht zu einer Schießerei kommen würde, bei der sie zahlenmäßig und waffentechnisch unterlegen sein würden. Gleichzeitig hatten sie nicht vor, an einer Nachmittagsteeparty teilzunehmen, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, unpassend gekleidet zu sein.
»Ziel?« Pain hatte viele lästige Angewohnheiten, aber ganz oben auf der Liste stand – soweit es Agony betraf – dass er Pläne, die sie schon so oft durchgegangen waren, immer wieder durchgehen wollte. Was dazu führte, dass sie das Gefühl hatte, sie liefen Gefahr, die Situation zu Tode zu analysieren. Am liebsten hätte sie die ganze Mission abgebrochen, damit sie nicht mehr darüber reden musste.
»Zwei Ziele.« Sie wusste, dass es am einfachsten war, ihn entweder bei Laune zu halten oder ihm eine Kugel in den Dickschädel zu jagen. »Das Hauptziel ist es, alle verfügbaren Informationen über Treble Hook zu beschaffen und sie zu zerstören.«
»Sekundärziel?«
»Menschenskind, Professor Pain. Vielleicht sollten wir diesen bösen Mann finden, der sich Havoc nennt. Wir könnten seinen Körper von seiner Seele trennen, seine Seele in die Hölle schicken und seinen Körper in kleine Stücke schneiden, die wir den süßen kleinen Karpfen am Ende von Pier Siebzehn zuwerfen können.«
»Ich wollte nur sicherstellen, dass wir immer noch auf der gleichen Seite stehen. Zwei Fliegen mit einer Klappe.«
»Aber vielleicht drei Vögel.« Sie überprüfte ihre Smith & Wesson noch einmal, um sicherzustellen, dass keine Patronen fehlten.
»Drei Vögel?« Er schaute sie ratlos an.
»Man weiß ja nie.« Sie hielt ihre Waffe hoch und überprüfte die Sicherung. »Das hilflose, kleine Mädchen könnte einen Glückstreffer landen und eine Kugel durch die Schädel von zwei SISTER-Agenten abprallen lassen, sodass zwei tote Agenten übrig bleiben, die man aufschlitzen kann – aber hey.« Sie schlug sich an den Kopf. »Ich habe gute Beziehungen zum Bestattungsinstitut von Miles und Ignatius. Vielleicht kann ich einen Deal für eine Einäscherung zum Sonderpreis aushandeln.«
»Ich bitte um Entschuldigung.« Ihr Partner senkte den Kopf. »Ich neige dazu, Dinge zu oft zu wiederholen … besonders, wenn ich nervös bin.«
»Und wann warst du das letzte Mal so nervös?«
Er sah ihr direkt in die Augen. »Ich weiß es nicht mehr. Treble Hook kann in den falschen Händen weltweit katastrophale Folgen haben.«
»Ich nehme die Entschuldigung an.« Agony begann, die verbliebenen Waffen in ihre Umhängetasche zu packen und überlegte, ob sie einen abgelegenen Ort finden sollten, um wenigstens einen Schuss aus den beiden Waffen abzugeben, die sie im Holster hatte, um sicherzustellen, dass sie voll funktionsfähig waren.
»Was zum Teufel ist das?« Sie zuckte zusammen, als die Titelmelodie der alten Fernsehserie The Lone Ranger aus einer der Taschen ihres Partners ertönte.
»Tut mir leid, tut mir leid!« Er fischte hastig sein Mobiltelefon heraus. »Ich muss da rangehen.«
Wenn sie darüber nachdachte, konnte sie sich nicht erinnern, dass sie sein Handy schon einmal hatte klingeln gehört. Sie hatte gesehen, wie er es benutzte, um Anrufe zu tätigen und bei Bedarf verschiedene Internetseiten aufzurufen, aber außer Esther, der Schlampe, hatte ihn noch nie jemand angerufen und die hatte das Wegwerf-Telefon benutzt. Er ging zur Küchenzeile – nicht, um etwas vor ihr zu verbergen, sondern weil der Empfang dort besser war. Sie folgte ihm und schaute ihm über die Schulter, als ein unscharfes Gesicht auftauchte.
»Scouting-Bericht über Stoffprobe abgeschlossen, o Gesicht, das nicht ganz so fahl ist.«
»Ist der Weg begehbar, o Gesicht, das Sonne braucht?«, fragte Pain.
»Die Spur endet dort, wo sie begann«, antwortete das unscharfe Gesicht. »Keine Überraschungen. Viel Spaß bei der Jagd! Die Hündin ist tollwütig geworden. Die einzig sinnvolle Lösung ist, sie so schnell wie möglich von ihrem Elend zu erlösen, damit sich niemand anderes ansteckt. Ich schicke dir die Akte. Halte deine Tollwutimpfungen auf dem neuesten Stand.«
»Ich schulde dir was.«
»Du schuldest allen etwas.« Das unscharfe Gesicht schnaufte amüsiert. »Ich ziehe eine Nummer und warte, bis der Scheck mit der Post kommt.«
Der Anruf endete und Pain hielt seiner Partnerin einen Finger hin, während er darauf wartete, dass sein Telefon piepte. Er war der Meinung, dass sie es verdient hatte, es zur gleichen Zeit wie er zu sehen.
»Okay …« Agony war sich nicht sicher, ob sie diese Art von Ablenkung brauchten, bevor sie sich auf eine der vielleicht folgenreichsten Operationen ihrer gemeinsamen Zeit als Partner einließen. »Kannst du mir wenigstens sagen, was es damit auf sich hatte?«
»So schwer es auch zu glauben ist«, erklärte er, während er darauf wartete, dass sein Telefon ihn über eine eingehende Datei informierte, »ich habe es irgendwie geschafft, auf meinem Lebensweg ein paar Freunde zu finden. Dieser spezielle Freund ist ein Forensikfreak, der mir vielleicht einen Gefallen mehr schuldet als ich ihm, aber manchmal ist es schwer, den Überblick zu behalten.«
Da der Anruf so aus heiterem Himmel kam, brauchte sie eine Minute, um sich alles zusammenzureimen. »Ich habe die Begriffe gehört«, begann sie, »forensischer Nerd, eine Stoffprobe und eine tollwütige Hündin – heilige Scheiße! Die Kapuzen, die deine Freundin uns nach der Nacht in ihrem Kerker übergestülpt hat, bevor ihre Schergen – oder sollte ich sagen Agenten – uns auf einem leeren Grundstück in einer weniger begehrten Gegend absetzten und uns der Gnade der örtlichen Gangster überließen …«
»Cleveres Mädchen«, antwortete Pain.
»Habe ich dir schon mal gesagt, wie sehr es mich nervt, wenn du mich als Mädchen bezeichnest? Das ist fast noch schlimmer, wenn es auch noch ein Filmzitat ist.« Sie war bereit, ihren Teleskopschlagstock herauszuziehen, aber sie hatten noch eine lange Nacht der Arbeit vor sich. »Weil die meisten von ihnen aus Filmen stammen, für die ich zu beschäftigt war, um sie mir anzusehen, während ich versuchte, meinen Lebensunterhalt zu verdienen.«
»Das hast du vielleicht ein oder zweimal erwähnt«, gab er zu.
»Aber selbst ich, der Kino-Neuling, der ich bin, habe Jurassic Park mindestens dreimal gesehen und deine Muldoon-Imitation ist zum Kotzen! Aber wenn wir schon mal dabei sind, diese klassische Szene zu wiederholen, kannst du Muldoon spielen und ich spiele das kluge Mädchen, das er anspricht. Wie wär’s mit einem Deal?«
Ohne auf eine Antwort zu warten, steckte Agony den Zeigefinger und den kleinen Finger ihrer rechten Hand in den Mund – etwas, das er noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte – und ließ einen Pfiff los, der den Verkehr zum Stillstand bringen könnte. Danach rief sie: »Hey, Mädels! Das Abendessen ist serviert!«
»Ähm …«, war alles, was er erwidern konnte, bevor sein Telefon piepte und er darauf schaute. Seine Partnerin schlug ihm eine Faust auf den Arm und fluchte wie ein Kesselflicker, als sich ihre Knöchel anfühlten, als hätten sie eine Stahlplatte getroffen. »Sag mir, was die verdammte Nachricht ist, Arschloch!« Sie rieb sich die wunden Knöchel und beugte sie, um sicherzustellen, dass sie sich keine Knochen gebrochen hatte.
»Agentin Esther Nemecek?« Pain las die Nachricht und ein leichtes Lächeln zeichnete sich ab.
»Ich glaube, ich habe den Namen schon einmal gehört«, räumte sie ein, wobei ihr Tonfall etwas weicher wurde.
»Vielleicht wissen wir jetzt, wo wir sie finden können, nachdem wir ihr Chaos im Brickhouse aufgeräumt haben.«
»Und ich habe noch nicht einmal Geburtstag.« Ein gefährliches Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, nicht ganz bis zu den Ohren, aber verdammt nah dran. »Ich würde mich gerne mit dieser Schlampe von Frau zu Frau unterhalten, vor allem, wenn ich nicht in einem Kerker an einen Stuhl gefesselt bin.«
Er schickte die Datei in eine gesicherte Cloud, um sie später abzurufen. »Ich muss gestehen, dass ich darüber nachgedacht habe, diese Informationen für mich zu behalten, aber es macht so viel Freude, deinen kreativ-sadistischen Verstand arbeiten zu sehen.«
»Ich kann künstlerisch sehr kreativ werden, wenn ich richtig inspiriert bin.«
Sie schafften es, die Treppe hinunter zu schlüpfen und an Kwan vorbeizukommen, ohne dass sie zu einem Lagebericht gerufen wurden. Obwohl Pain ihr gesagt hatte, dass die Frau sie in Ruhe lassen würde, bis die Zeit um war, blieb Agony ein wenig skeptisch und hielt immer noch den Atem an, als sie am Eingang vorbeieilten.
Game-Show-George hatte noch keine Idee, wie er nach Bimini kommen sollte, als sie ihn am Parkplatzeingang begrüßten, Bertha abholten und sich an die Arbeit machten. Sie hatten immerhin eine Welt zu retten.
Bricktown war wie erwartet – verlassene Geräte, Fahrzeuge und Gebäude unterschiedlicher Größe. Wahrscheinlich hatte man früher Müllcontainer in Industriegröße benutzt, um den Schutt aus den Gebäuden abzutransportieren, da die Arbeiter mit dem Abriss begonnen hatten, bevor mit dem eigentlichen Umbau begonnen werden konnte. Die meisten Autos schienen von allen wertvollen Teilen befreit und dem Verfall überlassen worden zu sein. Es war eine Sache, ein Fahrzeug zu stehlen und zu zerlegen, aber kein Dieb würde sich die Mühe machen, dem Besitzer mitzuteilen, wo er die Karkasse finden konnte. Welche Träume die ursprünglichen Investoren auch immer hatten, sie waren schon lange aufgegeben worden.
»Ich spüre, dass es hier ein Thema gibt«, bemerkte Agony, als sie an der Fassade des Brickhouse vorbeifuhren, wendeten und einen Parkplatz fanden, der leicht wiederzufinden war.
»Wenn ich mal raten dürfte: ›Gebt die Hoffnung auf, alle, die ihr hier eintretet?‹«
»Das fasst es in etwa zusammen, ja. Ich habe fast Angst, nach draußen zu gehen.«
»Die einzige Sicherheit, die ich sehe, sind zwei Schläger an der Eingangstür. Niemand ist auf den Straßen unterwegs«, berichtete Pain.
»Ich weiß aber nicht mehr, ob meine Tetanusimpfungen auf dem neuesten Stand sind und ein kleiner Kratzer von irgendetwas, das ich anfasse, könnte mich ins Krankenhaus bringen.«
»Und wir sind noch nicht einmal drinnen gewesen.«
»Und ich habe schlecht geplant …« Sie schüttelte den Kopf mit gespielter Schüchternheit. »Ich habe vergessen, meine Luftfiltermaske mitzunehmen. Wenn wir erst einmal drinnen sind, wer weiß, welche Giftstoffe noch in meine Lunge eindringen wollen?«
»Apropos reinkommen«, sagte er, als sie die Eingangstür des übrig gebliebenen Brickhouse untersuchten. »Vorder-, Seiten- oder Hintereingang?«
»Ich bin mir nicht sicher.« Sie stieg aus Bertha aus und riskierte einen Atemzug der Luft, die den Geruch von verrostetem Verfall in sich trug. »Sylvester hat uns die Zeit und den Ort genannt, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass er etwas von einem geheimen Passwort gesagt hat, um hineinzukommen.«
»Wenn du willst, nehme ich einen diskreteren Eingang an der Seite oder von hinten.« Pain würde die endgültige Entscheidung seinem Partner überlassen. »Aber ich denke, ich werde es mit einem Bluff an der Vordertür versuchen.«
»Definiere Bluff.«
Er klappte das Handschuhfach auf, in dem sie vier CDs aufbewahrten, wenn sie während einer langen Autofahrt etwas anderes hören wollten als das, was die Satellitensender zu bieten hatten. Es würde ihm das Herz brechen, sie zu verlieren, aber er entschied sich für ›Joe’s Garage‹, von Frank Zappa, weil das Cover so gut aussah.
»Alles, was die Wachen wissen«, erklärte er, »ist, dass der Verkauf bald beginnt und Käufer kommen werden. Vielleicht gibt es ein geheimes Passwort, vielleicht auch nicht, aber darüber müssen wir uns keine Gedanken machen. Wir wurden von Havoc beauftragt, die Informationen auf dieser CD zu beschaffen und werden dafür bezahlt, sie ihm vor Beginn des Verkaufs zu übergeben.«
Agony lehnte den Plan nicht von vornherein ab, aber sie war der Meinung, dass sie zuerst ein paar mögliche Eventualitäten besprechen sollten. »Und wenn sie uns fragen, was die Info ist?«
»Woher zum Teufel sollen wir das wissen?« Er zuckte mit den Schultern. »Havoc hat zugestimmt, uns ein kleines Vermögen zu zahlen, wenn wir es zurückholen und abliefern können. Wenn die Wachen uns nicht reinlassen wollen, können sie ihrem Chef erklären, dass sie uns an der Tür abgewiesen haben. Wir machen uns dann gerne auf den Weg und suchen uns einen anderen Käufer. Havoc ist nicht der einzige Spieler in der Stadt.«
»Dieser Plan ist so dumm, dass er funktionieren könnte.«
»Und es wird auch erklären, warum wir so schwer bewaffnet sind.« Er fügte der Geschichte mit einem Grinsen hinzu. »Unser Befehl lautete, die Unterlagen um jeden Preis zu bergen und um jeden Preis zu schützen.«
Die beiden Improvisatoren – Pain hatte Zappa in eine Innentasche seiner Jacke gesteckt – marschierten zur Haustür.
»Zutrittscode für Kunden?«, fragte der größere der beiden Wächter gelangweilt.
»Lieferung«, antwortete Pain, als er die CD-Hülle herauszog, »für Havoc.« Er war kurz erleichtert, dass ihr Gespräch mit Sylvester zumindest das Geschlecht des Chefs bestätigt hatte. »Er sagte, wir könnten es nicht rechtzeitig aufspüren. Wir sagten, wir könnten es schaffen und haben seine Frist leider um eine halbe Stunde überzogen, aber wir müssen es persönlich abliefern, damit er den Inhalt vor Beginn der Auktion begutachten kann. Wenn wir liefern, werden wir bezahlt. Wenn wir nicht liefern, ist das für uns kein Problem. Dann gehen wir zum nächsten Käufer.« Pain schob Zappa wieder in seine Tasche. »Heute Abend findet eine weitere Auktion statt und wir können das selbst versteigern, ohne uns mit einem Mittelsmann wie Havoc herumschlagen zu müssen.«
Die Wachen tauschten zweifelnde Blicke aus und der große Mann sprach wieder. »Gibt es noch etwas, das du uns sagen kannst, um uns zu überzeugen, dich hereinzulassen?«
»Treble Hook, aber mach dir keine Sorgen.« Er wandte sich ab. »Die Zeit ist knapp bemessen. Ich werde Havoc vom Auto aus eine SMS schicken und ihn wissen lassen, dass wir hier waren und an der Tür abgewiesen wurden. Ich beneide dich nicht darum, dass du dich mit den Folgen herumschlagen musst.«
»Moment mal. Es gibt keinen Grund zur Eile«, beschwichtigte der Mann hastig. »Du sagtest Treble Hook?«
»Das hat er gesagt, ja«, warf Agony mit genervtem Tonfall ein. »Ich will nicht noch mehr Zeit damit verschwenden, diesem Havoc Kram zu besorgen, wenn ich einen anderen Käufer kenne, der auch bereit ist, viel Geld zu zahlen.«
Die beiden Männer unterhielten sich leise und beschlossen, sie hereinzulassen.
»Ihr müsst aber eure Waffen abgeben«, fügte der kleinere Wachmann hinzu.
»Solange wir im Besitz dieser Scheibe sind«, sagte Pain in einem nicht verhandelbaren Ton, »bleiben wir auch im Besitz unserer Waffen. Richte Havoc einen Gruß von uns aus.« Er nahm den Arm seiner Partnerin und machte sich auf den Weg.
»Schon gut, schon gut!«, protestierte der größere Wächter. Keiner von ihnen wollte sich Havocs Zorn stellen. »Kommt rein.«
»Okay.« Er seufzte. »Wo können wir den alten Gauner finden?«
»Folge dem Rufen«, war der einzige Ratschlag des kleineren Mannes, als er die Tür öffnete, zur Seite trat und sie in das führte, was vom Brickhouse und seinem früheren, kurzlebigen Ruhm übrig geblieben war.