Kapitel 18

D ie Partner betraten die Überreste des ehemaligen mehrstöckigen Clubs mit schmalen, runden Metalltreppen, die wahllos von einem Stockwerk zum anderen führten. Jede Etage schien auch mehrere Privatsuiten für größere Partys zu bieten.

»Zeit für Ohrstöpsel«, schlug Pain vor. Der Veranstaltungsort war groß und wer wusste schon, wie viele Komplikationen auftreten würden. Es bestand auch eine hohe Chance, dass sie getrennt werden könnten. Seine Ohrstöpsel und Mikrofone waren großartig, aber sie hatten es versäumt, die speziellen Ersatzbatterien aufzutreiben, also wollten sie die Geräte erst einschalten, wenn es nötig war. Dieser Zeitpunkt schien nun gekommen zu sein.

»Scheiße.« Agony bedauerte ernsthaft, dass sie keinen Sauerstoffvorrat mitgebracht hatte. »Ich glaube nicht, dass meine Hauptsorge sein sollte, mich an irgendetwas zu kratzen und wie aktuell meine Tetanusimpfungen sind. Bei dem Rost, dem Staub und den Schimmelpilzen sollte ich mir eher Gedanken darüber machen, wie viele krebserregende Stoffe ich mit jedem Atemzug in meine Lunge einlade.«

»Man kann es dir einfach nicht recht machen, oder? Obwohl es so aussieht, als hättest du genug Metall in deinen Eingeweiden, um Nägel zu scheißen, wenn du das hier zubereitete Essen isst.«

»Und du kennst dich mit dieser Art von Erfahrung aus?« Sie war sich nicht sicher, ob sie die Antwort wissen wollte.

»Erinnere mich daran, dir mal von Johannesburg zu erzählen.«

»Ich glaube, die Geschichte möchte ich lieber nicht hören.«

Nachdem sich ihre Augen an die schummrige Beleuchtung gewöhnt hatten, betrachteten sie den Hauptraum im Erdgeschoss. Zu sehen war ein DJ-Pult, Dutzende von Tischen, eine Bar mit genug Regalplatz für zahlreiche alkoholische Getränke und eine große Tanzfläche, die als Mittelpunkt des Stockwerks diente. Es gab keine zusätzlichen Sicherheitsvorkehrungen, also war dies nicht der Raum, in dem der Liquidationsverkauf stattfinden würde.

»Sieh mal oben auf jeder Treppe«, flüsterte Agony und schaffte es, der Versuchung zu widerstehen, wie ein Tourist auf sie zu zeigen.

»Drei Wendeltreppen. Mindestens zwei Wachen an jeder Treppe?«

»Das ist es, was ich auch sehe.«

Während sie sich mit der Einrichtung vertraut machten, öffnete sich die Außentür und ein halbes Dutzend Männer schlenderte herein, ging direkt zu dem, was von der Bar übrig geblieben war und nahm ein paar Schlucke aus den wenigen Flaschen, die noch auf dem hinteren Tresen standen.

»Ich vermute«, mutmaßte Pain mit einer Grimasse, »dass es Käufer sind, die das Passwort für Kunden kannten.«

»Und ich vermute«, fügte sie hinzu, »dass es heute Abend eine offene Bar gibt.«

»Zumindest so lange, wie der Alkohol reicht. Also …« Er führte sie an die Seite und in einen tieferen Schatten, bevor er fortfuhr. »Der eigentliche Verkauf wird wahrscheinlich in einem der oberen Stockwerke stattfinden. Sind wir zu spät dran, um an die Sachen zu kommen, bevor sie verkauft werden?«

Sie wusste nicht, ob sie bereits zu spät waren oder nicht, aber sie wies auf das Offensichtliche hin. »Wir müssen erst an der Sicherheitskontrolle oben an der Treppe vorbei, um das herauszufinden.«

»Aber welche Treppe?«

Da kam der Rat des Wächters an der Eingangstür, den Rufen zu folgen, ins Spiel. »Was soll das heißen, das Mädchen und der schwule Schieber sind noch nicht da?«, brüllte eine Stimme zornig von oben.

»Treppe Nummer drei.« Pain traf eine Managemententscheidung, dem seine Partnerin zustimmte.

Gemeinsam gingen sie ruhig und geordnet die Wendeltreppe hinauf. Als sie oben ankamen, wurden sie von zwei schwer bewaffneten Männern begrüßt, die ihnen mitteilten, dass der Verkauf noch nicht beginnen könne.

»Und genau deshalb sind wir früher gekommen.« Pain holte die Zappa-CD wieder hervor. »Der schwule Knippser und das Mädchen haben sich verspätet, aber er hat es geschafft, den Datenträger zu uns zu bringen und darauf bestanden, dass er für Havoc mehr wert ist als er und das Mädchen zusammen.«

»Wirklich?«, fragte der skeptische Wächter, während er seine Waffe am Schultergurt hinter sich abschnallte und auf die Brust des großen Mannes zielte.

»Ja, wirklich.« Pain schnappte sich die Waffe und schwang sie und ihren Besitzer über das Geländer. Als dieser im ersten Stock landete, erregte er die Aufmerksamkeit der sechs Männer, die bereits in der Bar saßen, sowie einer Handvoll anderer, die gerade erst eingetreten waren und dachten, sie seien zur richtigen Zeit gekommen, aber plötzlich Zweifel hatten.

»Ich weiß nicht, für wen du dich hältst …«, begann der zweite Wächter, hatte aber keine Chance, seinen Satz zu beenden. Ein harter Schlag von Agonys Schlagstock gegen den Kopf, egal wie hart der Kopf auch sein mochte, beendete normalerweise jedes witzige Geplänkel.

»Findet sie!«, schrie ein Mann in sein Telefon, bevor er es einsteckte, sich die Aufregung in der Nähe der Überreste der Bar im ersten Stock ansah und sich fragte, was zum Teufel hier los war.

Er befand sich ein halbes Stockwerk höher als die Partner und ein paar kurze Rampen im Industriestil und ein oder zwei Geländer trennten sie voneinander.

Obwohl er etwas größer als Agony war, war er immer noch kleiner als Pain und eine Altersschätzung hätte den Unterschied aufgezeigt. Manche würden ihn als schlaksig bezeichnen. Andere hätten vielleicht drahtig als Adjektiv gewählt. Aber jeder, der ihn in diesem Moment ansah, würde zustimmen, dass er eine dünne Aktentasche an sein Handgelenk gefesselt hatte.

»›Please allow me to introduce myself … ‹« Sie sang den Rolling-Stones-Song gerade so laut, dass Pain ihn hören konnte und fügte hinzu: »Was den Aktenkoffer von dem Knilch da oben angeht … Wenn du im Besitz von etwas wärst, das Regierungen stürzen könnte, würdest du es auf einem Schreibtisch liegen lassen oder würdest du es in einer Aktentasche aufbewahren und nie aus den Augen lassen?«

»Ich«, antwortete er, »hätte es, je nach Größe, in eine luftdichte Hülle gesteckt und geschluckt. Entweder hätte es jemand bei meiner Autopsie gefunden oder sie hätten mir folgen und jeden Scheiß untersuchen müssen, den ich abgeseilt hätte.«

»Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich schockiert bin.« Sie starrte ihn an und schüttelte den Kopf. »Aber das klingt genau wie etwas, das du tun würdest.«

Er nickte. »Erinnere mich daran, dir mal von Minsk zu erzählen.«

»Ich glaube, die Geschichte möchte ich lieber auch nicht hören. Dein Freund, deine Entscheidung.«

Pain wünschte, er hätte die Zeit gehabt, sich einen schlüssigen und möglicherweise erfolgreichen Angriffsplan auszudenken, aber bei den kürzlich eingetroffenen Käufern im Erdgeschoss waren bereits Schüsse zu hören. Wenn jetzt noch Leichen auftauchten, würde der Verkauf nicht so reibungslos ablaufen wie geplant. Es würde schnell zu einer Angelegenheit werden, bei der jeder für sich selbst kämpfte und der Letzte, der übrig blieb, wäre der alleinige Besitzer des Heiligen Grals, der als das Treble-Hook-Protokoll bekannt war. Zumindest bei den Eingeweihten.

»Verliere ihn nicht aus den Augen!« Er gab so viele Anweisungen aus, wie er es im Gespräch mit seinem Partner noch nie getan hatte. »Du hast die Waffen. Eine pragmatische Kugel in seinen Kopf wäre eine gute Verwendung für sie. Ich werde so viel Schaden anrichten und ihn ablenken, wie ich kann, aber verliere ihn bloß nicht. Ich werde ihn so schnell wie möglich einholen.«

Damit zog er eine Blendgranate heraus und warf sie mit voller Wucht herunter ins Erdgeschoss. Wenigstens mussten sie sich für eine Weile keine Sorgen mehr über zufällige Schüsse von unten machen. Dann kletterte er mit drei Schritten eine Treppe hinauf in das zweite Stockwerk. Sein Plan war es, die oberen Stockwerke zu säubern und seiner Partnerin die Freiheit zu geben, ihr einziges Ziel zu verfolgen.

Sie hatte keine Gelegenheit, alternative Strategien zu besprechen und zu diskutieren. Ihr Ziel sprang mit einem irren Lachen, das nur vom Bastard-Sohn aus einem Dreier mit Harley Quinn, dem Joker und Ulysses Klaue stammen konnte, vom Balkon und klammerte sich am unteren Ende eines glitzernden Kronleuchters über dem offenen Raum fest. Mit zwei schnellen Schwüngen, die sie davon überzeugten, dass einer seiner früheren Berufe ein Trapezakrobat im Zirkus gewesen sein könnte, schleuderte er seinen Körper auf einen Balkon im ersten Stock auf der gegenüberliegenden Seite des Clubs.

»Wie zum Teufel soll ich es schaffen, ihn nicht zu verlieren?«, fragte sie im Ohrhörer ihres Partners.

»Setz doch mal deine weiblichen Reize ein«, antwortete er kurz. Angesichts der vielen Schüsse in den oberen Stockwerken und einiger schmerzhafter Schreie, die von dort kamen, nahm sie sich einen Moment Zeit, um sich daran zu erinnern, dass er selbst ein paar unmittelbare Sorgen hatte.

Als ob seine letzte Darbietung nicht genug gewesen wäre, um sie zu entmutigen, drehte sich Havoc, ignorierte das Chaos unter ihm und fand schnell die Augen der Frau, die ihn verfolgte. Im Grunde seines Herzens betrachtete er sich selbst als Performancekünstler und liebte ein Publikum, auch wenn es nur eine einzige Person war. Er stellte Augenkontakt her und blinzelte. Wenigstens war sein eingeschränktes Publikum süß.

Das Zwinkern machte ihr mehr Angst als alles andere, was sie von ihm gesehen hatte. Es sagte ihr, dass er jetzt wusste, wie sie aussah und genug Ressourcen zur Verfügung hatte, um ihr Gesicht zu verfolgen und alles über sie zu erfahren. Sie konnte den Satz ›Ich glaube, ich werde ruhig schlafen‹ aus ihrem Gedächtnis streichen und ihn durch ›Falls ich sterben sollte, bevor ich aufwache‹ ersetzen.

Er sprang auf das obere Ende des Geländers, das verhindern sollte, dass die Clubbesucher im ersten Stock auf die Tanzfläche stürzten, sprang hoch, drehte sich mitten im Sprung und hielt sich am unteren Ende des Geländers im zweiten Stock fest. Mit zwei schnellen Verrenkungen seines Körpers stand er auf der zweiten Etage, die schlanke Aktentasche immer noch an seinem Handgelenk gefesselt. Mit einer kurzen Verbeugung bedankte er sich für die Aufmerksamkeit des Publikums und sah fast enttäuscht aus, als sie ihm keinen Applaus spendete.

Gleich klatscht es, aber keinen Beifall. Agony schenkte ihm jedoch nur ein kaltes Lächeln, als sie sich einen Finger quer über den Hals zog, in der universellen Sprache des Kehlschnittes. Dann betrachtete sie ihren Finger, untersuchte ihn auf das Blut, das bald von ihm tropfen würde und steckte sich das Ende in den Mund. Nachdem sie eine große Saugbewegung gemacht hatte, zog sie ihn heraus, um zu sehen, ob sie eine Stelle übersehen hatte.

Sie wollte dem Mann auf der anderen Seite des Balkons ihre Absichten klarmachen, also wiederholte sie den Vorgang. Ihre klare Absicht war es, Blut zu schmecken, bevor die Nacht vorbei war und es würde nicht ihr eigenes sein.

»Er ist jetzt im zweiten Stock«, rief sie in ihr Mikrofon und direkt in Pains Ohr.

»Toll! Ich auch. Komm zu uns, wenn du Zeit hast.«

»Lass mich erst im Zimmer der Kleinen vorbeischauen und mein Make-up auffrischen, dann bin ich gleich da.«

»Scheiße!« Er ignorierte den Sarkasmus. »Fenster und Fluchtwege. Havoc lässt sich nie ohne einen Ausweg nieder. Besteche die verbliebenen Wachen und verspreche jedem von ihnen hundert Riesen – bares Geld auf die Hand, wenn sie jemanden mit einem Aktenkoffer am Handgelenk auf dem Parkplatz erwischen.«

»Und du glaubst, das wird funktionieren?«

»Es ist einen Versuch wert. Ich schneide ihm alle Wege oberhalb der zweiten Etage ab. Er muss entweder durch ein Fenster oder an uns vorbei.«

»Bis bald.«

Agony eilte die Treppe hinunter, als eine Vibration alle Stockwerke darüber erschütterte. Pain befand sich im zweiten Stock, den er sich nun mit mehr als nur ein paar Sicherheitsleuten teilte, die er entwaffnet und außer Gefecht gesetzt hatte, ohne ihnen die Knochen zu brechen. Da er davon ausging, dass Havoc sich ebenfalls dort aufhielt, ließ er eine Schallgranate und eine sehr verwirrende Rauchschleuder los.

Entgegen seiner Anweisung bot seine Partnerin den wenigen Wächtern und Käufern, die sich auf der Straße vor dem Gebäude versammelt hatten, in dem das Chaos zu herrschen schien, keine Bestechungsgelder oder Versprechen auf Reichtum an.

»Achtung bitte!«, rief sie, hielt ihren Privatdetektiv-Ausweis hoch und fuchtelte damit so schnell herum, dass niemand ihn genau inspizieren konnte. »Der Liquidationsverkauf wurde von drei verschiedenen Bundesbehörden verfolgt, die ausnahmsweise mal miteinander und mit der örtlichen Polizei zusammengearbeitet haben. Die meisten Gegenstände, von denen ihr dachtet, sie würden heute Abend verkauft oder versteigert, wurden bereits beschlagnahmt und befinden sich jetzt in der Obhut der zuständigen Behörden.«

Der Großteil der Menge, die sie ansprach, waren Käufer und sie ließ sie sich davonschleichen, bevor sie fortfuhr.

»Diejenigen von euch, die noch übrig sind«, verkündete sie, »sind nur ehrliche Männer, die sich einen ehrlichen Nachtlohn verdienen wollen. Hier sind eure Möglichkeiten. Jedes Fahrzeug und jedes Gesicht wurde erfasst und aufgezeichnet. Der Verkauf wurde etwas früher als geplant unterbrochen, aber in einer halben Stunde wird der ganze Block mit mehr FBI-Agenten und Polizisten überschwemmt sein, als ihr euch vorstellen könnt. Alles, was sie jetzt wollen, ist, den Mann zu fassen, den die meisten von euch als Havoc kennen. Er wird leicht zu identifizieren sein, denn er hat eine Aktentasche an seinem Handgelenk befestigt. Der Inhalt dieser Tasche ist jetzt wertlos, genauso wie der Mann selbst, außer für Vernehmungszwecke. Wenn ihr den Mann aus einem Fenster oder durch einen Geheimgang entkommen seht, bitten wir euch nur darum, ihn im Rahmen einer Bürgerverhaftung festzusetzen. Euer Land wird euch für euren Dienst sehr dankbar sein.«

»Gibt es dafür eine Belohnung?«, fragte eine Stimme aus der Menge.

»Nur wenn er auf der Straße gefunden wird und versucht zu fliehen. Niemand – und ich meine niemand – darf das Gebäude betreten. Ist das klar?«

»Ja«, antwortete die Stimme. »Ich glaube, wir haben es verstanden.«

»Gut. Ich danke dir für dein Verständnis.« Sie legte eine Hand an ihr Ohr.

»Ich könnte ein bisschen Hilfe gebrauchen«, hörte sie ihren Partner sagen.

»Bleib dran«, antwortete sie und stürzte sich ins Getümmel, um alle anderen Fragen zu vermeiden, die den anderen einfallen könnten.

Es war an der Zeit, wieder dorthin zu gehen, wo die Action war.

»Wo?«, fragte sie, als sie das Brickhouse erneut betrat und nicht sicher war, was sie erwarten würde.

»Zweiter Stock.«

»Ist das Ziel noch auf freiem Fuß?«

»Negativ.« Pains Stimme hatte einen seltsamen Klang. »Ziel erfasst und überwältigt.«

»Warum zum Teufel hast du dann so getan, als wäre es ein Notfall? Ich war damit beschäftigt, die Umgebung zu sichern.«

»Und ich zweifle nicht daran, dass du das verdammt gut gemacht hast. Aber auch wenn der Perimeter gesichert sind und das Ziel erfasst wurde, bedeutet das nicht, dass deine Unterstützung nicht wichtig ist.«

»Zweiter Stock. Welcher Quadrant?« Sie musste wissen, welche runde Treppe sie hinaufsteigen musste.

»Ganz hinten rechts«, antwortete er. »Halte nach dem Raum Ausschau, aus dem ein sanftes, gelbes Licht strahlt.«

Es waren ein paar stressige Tage gewesen, aber das Ende schien in Sicht zu sein, also nutzte Agony ihr Adrenalin und sprintete die Treppe hoch. Als sie das zweite Geschoss erreichte, sah sie nur einen Raum, der gelb leuchtete und vermutete, dass es sich um einen der kleinen Räume handelte, die früher für private Partys vermietet worden waren.

Sie schritt vorsichtig um und über eine Handvoll Körper, die entweder ihren Partner persönlich getroffen hatten oder einem seiner persönlichen Arsenale von Blitzknall-Bumm-Ras – oder wie auch immer er sie nannte – zum Opfer gefallen waren und näherte sich langsam dem Raum mit dem gelben Licht. Es schien vernünftig, innezuhalten, bevor sie der Tür zu nahe kam.

»Bertha?«, sagte sie in das Mikrofon am Ohr ihres Partners.

»Eine der Butt-Schwestern«, antwortete er.

Das war ihre Entwarnung. Wenn Pain mit etwas wie ›Bertha, die Schlampe, schon wieder?‹ oder ›Wer zum Teufel ist Bertha?‹ geantwortet hätte, hätte sie gewusst, dass sie entsprechende Vorsichtsmaßnahmen treffen musste. Zum ersten Mal an diesem Tag ließ sie die Anspannung von ihren Schultern abfallen.

Als sie den Raum betrat, beschloss die Anspannung, die sie losgelassen hatte, sie nicht so einfach vom Haken zu lassen. Pain hatte den Mann in die Ecke gedrängt, aber beide atmeten schwer genug, um ihr zu zeigen, dass es zu einem ernsthaften Nahkampf gekommen war und die Dinge in eine Sackgasse geraten zu sein schienen.

»Schieß ihm in den Fuß«, befahl ihr Partner.

»Was?« Nicht, dass sie nicht gewillt gewesen wäre, aber sie hätte gerne einen logischen Grund für die Bitte gehört.

»Du bist derjenige mit den Waffen. Schieß dem Wichser in den Fuß – ob links oder rechts ist egal. Es gibt keinen Weg aus dem Raum, es sei denn, er kommt an mir vorbei und ich würde ihn gerne so lange am Leben lassen, bis er verhört wird. Bitte, tu mir einen Gefallen. Wähle einen Fuß und schieß!«

Sie schaute nach links, feuerte nach rechts und landete einen Volltreffer.

Havoc schaute auf seinen kurzen Stiefel, der jetzt ein Loch hatte, hob den Fuß an, um ihn zu untersuchen und klappte zwei Riegel um, die sie nicht bemerkt hatten, um die Prothese zu entfernen.

»Ernsthaft?« Er hielt den Stiefel so hin, dass sie das Einschussloch sehen konnten. »Hast du eine Ahnung, wie teuer die sind?«

Er schüttelte den Kopf, schnappte sich den Stiefel wieder und stellte sich seinem Gegner. »Ich habe gehört, dass du im Alter weich geworden bist, aber ein Mädchen für dich kämpfen zu lassen? Tss, tss. Ist es so gelaufen, als dein alter Kumpel Kip ins Gras gebissen hat? Er hat den harten Part übernommen und du hast den leichten Weg gewählt?«

Pain stürzte sich nicht auf ihn, sondern warf sich wie eine horizontale Abrissbirne auf ihn. Mit seinen ausgebreiteten Armen war er eine drei Meter lange, fliegende, wutgewordene Mauer, die seinem Ziel keine Möglichkeit zum Ausweichen ließ. Er versuchte sich in der Luft mit einem schnellen Ruck nach links zu drehen, wurde aber mit dem Gesicht voran vom Stiefel seines Angreifers getroffen.

Der Ex-Agent war als Erster auf den Beinen, packte den Aktenkoffer und riss so fest daran, dass das Handgelenk des Mannes durch die Kraft der Handschellen brach. Havocs Arm war nun so gut wie nutzlos und sein Angreifer nutzte die Aktentasche als nächstgelegene Waffe und stieß sie seitlich in das Gesicht seines ehemaligen Kollegen. Das befriedigende Knirschen des gebrochenen Nasenbeins zauberte ein grimmiges Lächeln auf sein Gesicht.

»So, so.« Havoc stieß durch das Blut, das ihm in den Mund lief, ein weiteres wahnsinniges Lachen aus: »Scheinst ja doch ein harter Kerl zu sein.« Dann saugte er mit seiner Zunge genug Blut in seinen Mund und spuckte es dem Agenten ins Gesicht. »Du solltest dich vielleicht bald auf Hepatitis C testen lassen. Ich habe gehört, dass man damit nicht gut leben kann.«

Mit einer Hand an der Aktentasche drückte Pain seinen Unterarm auf die Kehle des anderen Mannes, um ihn gegen die Wand zu drücken und ihm kaum genug Luft zum Sprechen zu lassen.

»Du hast einen Partner verloren«, fuhr der Mann fort, »du hast dich in deine kleine Scheiß-Quest verrannt, deinen Fokus auf Treble Hook verlagert und irgendwie glaubst du, dass du dabei ein kleines Mädchen retten konntest. Du musst lernen, deine Prioritätenliste zu ordnen und dich an sie zu halten, eine nach der anderen.«

»Ich habe es bis jetzt geschafft.« Er grinste, sein Griff war unerbittlich.

»Bis jetzt?« Havoc verschluckte sich an einem weiteren Lachen. »Bis jetzt hast du nur einen Aktenkoffer gefunden, der möglicherweise die Treble-Hook-Protokolle enthält und mir einen großen finanziellen Verlust zugefügt, wenn auch nur vorübergehend. Wenn das hier vorbei ist – und glaub mir, es ist noch lange nicht vorbei – werde ich das kleine Mädchen aufspüren. Du hast deinen Agenten-Bruder im Stich gelassen und ihn dem Tod überlassen und wenn ich Shayla finde, werde ich ihr in aller Deutlichkeit erklären, dass auch du sie im Stich gelassen hast. Armes kleines Ding, sie hat der falschen Person vertraut, um sie zu retten.«

Er warf einen spöttischen Blick auf Agony. »Was ist mit dir, Süße? Bist du immer noch sicher, dass du deinen Wagen an ein Maultier anspannen willst, das dazu neigt, zu lahmen, wenn du es am meisten brauchst?«

Sie hielt die Frage nicht für beantwortungswürdig und schwieg.

»Und das kleine Mädchen …«, fuhr er fort. »Sie ist gerade vier geworden? Ich werde sie aufspüren, wenn sie sechs wird. Stell dir vor, wie viel Shayla bis dahin auf dem freien Markt wert sein wird.«

Pain lockerte den Druck seines Unterarms auf die Kehle des Mannes so weit, dass er ihn zurückstieß und seine Luftröhre zerquetschte.

Er trat zurück, als der Mann auf die Knie sackte und nach Luft rang.

»Und alle … denken … dass ich … der … Verrückte bin.« Seine letzten Worte wurden herausgepresst, bevor er erstickte.

Nachdem er lange genug gewartet hatte, um sich zu vergewissern, dass kein Puls mehr vorhanden war, spannte Pain die Handschellen zwischen dem Handgelenk des Mannes und dem Aktenkoffer auf dem Boden.

Agony richtete ihre vertrauenswürdige Smith & Wesson sorgfältig aus. Sie hatte die meiste Feuerkraft von den beiden Waffen, die sie mitgebracht hatte und zerbrach die Kette mit einem Schuss.

Ihr Partner nahm die Aktentasche unter den Arm und sparte sich das Gespräch für einen späteren Zeitpunkt auf, während sie die Treppe hinuntergingen und zur Haustür hinausgingen.

»Er ist zu glitschig für uns, Jungs«, verkündete sie der Handvoll Männer, die die Fenster im Auge behalten hatten. »Wenn ihr ihn finden könnt, könnt ihr ihn haben.«

Die Menge strömte herbei, als die Partner zu Bertha gingen und den Rost und den Verfall hinter sich ließen.