Kapitel 19

I hm das Genick zu brechen, wäre schneller gewesen«, bemerkte Agony, als sie eine sicherere Zone als das verlassene Lagerhausviertel erreicht hatten.

»Und relativ schmerzlos«, stimmte Pain zu. »Worauf willst du hinaus?«

»Ich habe mich nur gefragt, was dir durch den Kopf ging, als du ihm dabei zusahst, wie er nach Luft schnappte, von der du wusstest, dass sie nicht kommen würde.«

»Ich dachte, wenn er ein unschuldiges Tier wäre, das eine katastrophale Verletzung erlitten hat, hätte ich mir eine deiner Pistolen ausgeliehen und das arme Tier so schnell wie möglich von seinem Elend erlöst. Aber es kam mir nie in den Sinn, dass er unschuldig sein könnte, also sah ich keine Notwendigkeit, die Sache zu überstürzen.«

Das war eine Seite von ihm, die sie noch nie gesehen hatte. Tod und Zerstörung in der Hitze des Gefechts, ja, aber der Kampf war gewonnen, bevor er Havocs Luftröhre zerquetscht und ihn langsam hatte sterben lassen.

Auch ihr Partner versuchte, das zu begreifen. Sie hatte recht gehabt. Eine Kugel in den Kopf hätte den gleichen Zweck erfüllt, aber er hatte für Havoc einen langsameren, persönlicheren Weg gewählt. Der Mann musste sterben. Er würde ihn auf keinen Fall lange genug am Leben lassen, um einen Weg zur Flucht zu finden, geschweige denn eine spätere Rache. War es der Spott über Kip und Shayla? War es das Blut, das er ihm ins Gesicht gespuckt hatte und das er sich schnell abwaschen wollte, sobald er den Aktenkoffer von seinem Handgelenk entfernt hatte? Oder war es eine Art Urbedürfnis, den Mann für seine Übertretungen leiden zu lassen? Was auch immer es war, führte es zu etwas Dunklem, das in ihm wohnte?

Das waren Fragen, mit denen er sich irgendwann auseinandersetzen musste, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt. Er war dankbar, dass sie andere unmittelbare Sorgen hatten, sodass sie sich nicht in die Augen sehen mussten, während sie beide über diese Fragen nachdachten. Sie war seine Partnerin, nicht seine Therapeutin, also gab es keinen Grund, ihre Arbeitsbeziehung durch solche philosophischen Fragen zu verkomplizieren.

Agony behielt ihre Augen auf der Straße, während sie sich durch die Straßen der Stadt zu ihren Wohnungen schlängelte. In ihrem Beruf war die Paranoia groß und sie wollte sichergehen, dass sie nicht verfolgt wurden. Sie beobachtete die Rückspiegel, um sich zu vergewissern, dass sie erfolgreich beim Abschütteln von Verfolgern war.

Pain zog die Zappa-CD-Hülle hervor und legte sie ins Handschuhfach. Er war froh, dass er die CD nicht als eine Art Wurfstern hatte benutzen müssen, um jemandem die Kehle durchzuschneiden.

Sie kehrten ohne Verfolger zu ihrem Wohnblock zurück, parkten Bertha an ihrem üblichen Platz und schlüpften ohne weitere Komplikationen an Kwan vorbei zu seiner Wohnung hinauf. Er stellte die Aktentasche auf seinen kleinen Esstisch und beide starrten sie einen Moment lang an.

»Wie kann etwas so Kleines«, fragte sie, »so viel potenziellen Schaden enthalten?«

»Angenommen, es ist so.« Er schaute sie finster an. »Auf der Rückfahrt hatte ich einen erschreckenden Gedanken.«

»Teilst du ihn mit mir?«

»Was, wenn das nicht Havoc war?«

Agony trat einen Schritt zurück und fragte sich, in was für einer verdrehten Welt Pain sein Leben verbracht hatte. »Wer könnte es sonst gewesen sein?«

»Ein Lockvogel.«

»Wiederhole das bitte.«

»Die ganze Szene könnte ein großes, ausgeklügeltes Schauspiel gewesen sein, um jede Störung auszuschalten, bis der eigentliche Verkauf stattfinden kann. Das ist genau die Art von Dingen, die sich Havoc ausgedacht hätte.«

»Paranoia«, murmelte sie, »dein Name ist Pain.«

»Nun, es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.« Er nickte und akzeptierte ihre Aussage als hoffentlich wahr. »Wir müssen an den Inhalt kommen.«

»Hast du irgendwelche Vorschläge, wie wir das machen können? Es hat zwei Zahlenschlösser und wir kennen die Zahlen nicht. Was müssen wir tun, um es aufzubrechen?«

»Wir brechen da nicht ein.« Er eilte in seine Küchenzeile und öffnete eine Schublade. »Wenn wir die Schlösser aufbrechen, haben wir es wahrscheinlich mit einem kleinen Sprengstoff zu tun, der uns vielleicht ein paar Finger kostet und höchstwahrscheinlich alles auflöst, was darin ist. In diesem Fall werden wir nie erfahren, ob es etwas Wertvolles enthielt.«

»Was für ein fröhlicher Gedanke.« Sie seufzte. »Gibt es noch andere Möglichkeiten?«

»Das hier.« Pain kam zurück und hielt etwas in der Hand, das wie ein elektrischer Schraubenzieher aussah, mit einer kleinen, runden Klinge an der Stelle, wo der Schraubenziehereinsatz sein sollte. »Das ist ein Dremel. Vielleicht war es Vorsehung, als ich das Teil gekauft habe. Sie ist diamantbesetzt und schneidet durch alles. Man weiß ja nie, wann der Deckel einer Dose Bohnen zu hartnäckig für einen normalen Dosenöffner ist.«

Agony trat einen Schritt zurück und beobachtete, wie er den Aktenkoffer umdrehte, damit er auf die Rückseite zugreifen konnte.

»Halte sie bitte ruhig«, bat er, als er das batteriebetriebene Multifunktionswerkzeug einschaltete und die Klinge sich zu drehen begann. »Ich muss hier präzise sein.«

»Bitte«, bat sie unverblümt, während sie die Ecken der Aktentasche fest umklammerte, »sei so präzise, dass du mir keine der Hände abschneidest.«

Er lächelte. »Fang an, das Kinderlied ›Zehn kleine Jägermeister‹ zu singen, dann bin ich fertig, wenn du bei Eins angekommen bist.« Mit diesem Ratschlag setzte er die Klinge in Gang.

Agony hatte Jägermeister Nummer Zwei erreicht – und wünschte, sie hätte den Schnaps zur Verfügung gehabt – als er den Schnitt beendete und mit einem zufriedenen Gesicht das Gerät beiseite legte.

»Und jetzt?«

Pain hob geduldig einen Finger, winkelte seinen Arm an und hielt seinen Ellbogen über die Aktentasche. Der Boden, den er gerade durchgeschnitten hatte, knallte nach oben und in seinen Ellbogen.

»Kannst du mir mal helfen?« Er hielt seinem Partner den Ellbogen und den Boden der Aktentasche hin, um ihn zu unterstützen.

»Und um welche Art von Hilfe bittest du?«, fragte sie misstrauisch.

»Zieh das verdammte Ding ab.«

Sie packte das beschädigte Stück mit beiden Händen, zerrte daran und stolperte zurück, nachdem sie es befreit hatte. Als sie das Gleichgewicht wiedererlangt hatte, hielt sie es vor sich wie ein Ritterschild und hoffte auf etwas, das einer Erklärung ähnelte.

»Die Aktentasche hat ein Metallfutter.« Ihr Partner schob den Ärmel seines Hemdes hoch, um den Arm seines personalisierten Unteranzugs freizulegen. »Die Ellbogen sind mit den stärksten Magneten gefüttert, die noch nicht für die Allgemeinheit erhältlich sind.«

»Halte diese Pose mal kurz«, forderte sie ihn auf.

»Der Grund dafür?« Er behielt wie gewünscht in der Bewegung inne, vor allem, weil er spürte, dass jetzt der ideale Zeitpunkt war, um sie aufzuheitern.

Agony gab ihm mit dem Finger ein Zeichen, dass er noch einen Moment warten sollte, huschte zur Küchenzeile und öffnete eine Schublade. Sie drehte sich um und warf ihm ein halbes Dutzend Gabeln, Löffel und Buttermesser zu. Jedes von ihnen blieb an seinem Ellbogen hängen, ein Sammelsurium von metallischer Schönheit. Bald war sie davon überzeugt, dass sie, wenn sie ausreichend Zeit gehabt hätte, genügend Geschirr nach ihm hätte werfen können, um einen Tisch für acht Personen zu decken.

»Wie viele meiner Steuergelder wurden für diesen Anzug ausgegeben?«, erkundigte sie sich, als sie zurückkam und begann, die Sammlung von Besteck von seinem Ellenbogen zu trennen.

»Keine.« Er versuchte, die Erklärung kurzzuhalten. »Sagen wir mal, der Anzug ist ein Geschenk von einem Freund.«

»Ich habe schon einige deiner Freunde kennengelernt.« Sie schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht.«

»Zeit für den Aktenkoffer?«, fragte Pain, während sie das Essgeschirr sortierte und er es vorzog, seine Rüstung zu einem späteren Zeitpunkt zu erklären.

»Gut«, stimmte sie widerwillig zu, »aber kannst du vorher noch mal mein Gedächtnis auffrischen, wie das war? Die Gabeln kommen nach rechts?«

»Gabeln nach links, Messer nach rechts und lass die Gastgeberin immer den ersten Bissen nehmen.«

»Danke, Doktor Knigge. Ich werde versuchen, daran zu denken.«

Sie traten näher an den Aktenkoffer heran und betrachteten den Inhalt, den sein Dremel freigelegt hatte.

»Trete bitte zurück«, bat er höflich, während er die Ecken des Aktenkoffers festhielt.

»Der Grund dafür?«

»Ich bin kurz davor, alles auf den Tisch zu kippen.« Er begegnete ihrem Blick. »Es hat keinen Sinn, dass wir beide in der Schusslinie stehen, wenn etwas bumm-bumm macht.«

»Weißt du«, sagte sie zu ihm, während sie einen Schritt zurücktrat, »dieser Ritterspiel-Scheiß mit Drachen und Jungfrauen kann ganz schön nervig sein. Aber einmal – nur dieses eine Mal – werde ich dir das durchgehen lassen.«

»Grüß den Broadway von mir.«

Pain leerte den Inhalt des Aktenkoffers auf den Tisch. Nichts explodierte. Die Partner waren sowohl erleichtert als auch überrascht, als der Inhalt auf die Tischplatte purzelte und dort so unschuldig wie ein Gummi-Entchen saß.

»Und etwas hier«, fragte Agony, als sie sich wieder näherte, »ist in der Lage, Regierungen zu Fall zu bringen?«

»Das hoffe ich doch sehr«, antwortete Pain. »Kannst du zu dir in die Wohnung huschen und deinen Laptop holen, für den Fall, dass wir etwas recherchieren müssen?«

»Du übernimmst solange die Sortierung. Ich bin gleich wieder da.«

Sie ging durch den Flur zu ihrer Wohnung. Ihr Laptop war auf dem neuesten Stand und sie hoffte inständig, dass nichts von dem, was ihr Partner gerade durchsuchte, einen von beiden in die Knie zwingen würde. »Wer nicht wagt, der nicht gewinnt«, murmelte sie, während sie ihr Gerät tätschelte und versuchte, den Laptop und sich selbst zu beruhigen.

Als sie zum Tisch ihres Partners zurückkehrte, hatte er den Inhalt ausgebreitet. Darunter befanden sich vier USB-Sticks und er hatte seinen eigenen Laptop bereits eingeschaltet und einsatzbereit.

»Die Dame hat die Wahl« Er zeigte auf die Datenträger.

Es waren zwei silberne, ein rosafarbener und ein blauer Stick. Sie wählte einen der silbernen und er schob den Datenträger in einen Schlitz. Der Inhalt des Laufwerks bestand aus fünf Textdateien, jeweils mit einer verschlüsselten Nachricht.

»Knacke den Code«, erklärte Pain, da er ähnliche Codes schon einmal gesehen hatte, »und finde den Namen heraus und was der Besitzer dieses Namens vorhat. Das heben wir uns für später auf.« Er zog das Laufwerk heraus. »Der nächste Stick?«

»Justin hatte eine Tochter …« Agony dachte laut nach. »Was ist die Lieblingsfarbe eines jeden kleinen Mädchens?«

»Ich würde vermuten, dass Shayla Rosa bevorzugt.«

»Und ich vermute«, stimmte sie zu, »dass Justin mehrere rosa Datenträger bereithielt. Wenn man es eilig hat …«

»Rosa soll es also sein.« Er schob den USB-Stick in die entsprechende Buchse.

Es war rosa. Agony schaute ihrem Partner über die Schulter, als er schnell durch den Inhalt der Festplatte scrollte und stand mit offenem Mund da, als die Treble-Hook-Protokolle angezeigt wurden. Sie hatten noch nicht einmal die Hälfte geschafft, als er das Laufwerk herauszog.

»Nun«, sagte er grob und klang erleichtert, »es war definitiv Havoc.«

»Und was jetzt?« Sie war sich nicht sicher, was sie jetzt tun sollten.

»Jetzt …« Pain klang viel zuversichtlicher. »Versuchen wir zu kopieren und zu speichern.«

Er steckte den USB-Stick wieder ein und gab mehrere Befehle ein, dann noch einige mehr. Die Informationen waren in einem Format, das es ihm nicht erlaubte, sie zu kopieren oder zu speichern und sie dachte, das würde ihn wütend machen. Stattdessen holte er tief Luft, zog das Laufwerk heraus, sah sie an und lächelte.

»Wir haben es.« Er hielt den USB-Stick hoch. »Er kann nicht kopiert und nicht ersetzt werden. Das ist vermutlich das einzige Exemplar.«

»Und was machen wir damit?« Sie war noch nie im Besitz von so etwas Brisantem gewesen. »Es bei den Behörden abliefern?«

»Mit dem Kram hier drauf?«

Er zog sich wieder in seine Küchenzeile zurück und öffnete eine Schranktür. Sie wäre nicht überrascht gewesen, wenn er mit einer Rührschüssel und einem Satz Rührbesen herausgekommen wäre. Stattdessen kam er mit einem kleinen Mikrowellenherd zurück, stellte ihn auf die Tischplatte und steckte das Kabel in die nächstgelegene Steckdose.

»Zwanzig Dollar in einem Secondhand-Laden«, erklärte er stolz. »Das könnte auch ein guter Zeitpunkt sein, um ein oder zwei Schritte zurückzutreten.«

»Schon wieder Rückzug?« Sie wurde der Routine schnell überdrüssig.

»Das habe ich auch vor.« Er öffnete die Tür der Mikrowelle und warf den Datenträger hinein. »Ich denke, zwei Minuten sollten reichen. Was denkst du?«

»Ich glaube, du gehörst in eine Anstalt.«

»Dann also zwei Minuten.« Er stellte den Timer ein und befolgte seinem eigenen Rat zurückzutreten, während die Mikrowelle des Secondhandladens ihre Arbeit aufnahm.

Nach zwei Minuten Funkenflug und Rauch ertönte der Timer. Nachdem sich der Rauch verzogen hatte, trat er an das Küchengerät heran, öffnete die Tür und spähte hinein.

»Und?«, erkundigte sich Agony, während sie den giftig riechenden Rauch aus ihren Augen wischte.

»Mikrowelle eins. Treble Hook null.« Er holte eine Zange und zog das kleine, geschmolzene Chaos aus geschmolzenem Plastik und Metallschlacke heraus. Sie folgte ihm, als er den Klumpen in sein Badezimmer trug, ihn in Toilettenpapier einwickelte und begeistert im Klo wegspülte. Die Reste des USB-Sticks wirbelten zweimal auf und verschwanden in der Kanalisation der Stadt.

»In Minsk gab es keine Mikrowelle, als ich eine brauchte.«

»Habe ich danach gefragt?« Sie schüttelte den Kopf, als sie zurückkehrten, um den restlichen Inhalt der Aktentasche auf dem Esstisch zu begutachten.

»Also«, fragte sie zaghaft, »ist das das Ende deiner Quest-Sache?«

»Das ist das Ende des ersten Teils.«

»Gibt es einen zweiten Teil?« Sie bedauerte die Frage schon, als sie sie stellte.

»Wenn du wüsstest, wer deinen Partner All-in-Alex getötet hat, was würdest du tun?«

Agony benötigte keine Zeit, um darüber nachzudenken. »Ich würde sie aufspüren und mir keine Sorgen machen, wenn sie nie einen Gerichtssaal von innen sehen würden. Es würde nicht einmal genug Teile von ihnen übrig bleiben, damit unsere Freunde Miles und Ignatius versuchen könnten, sie für eine Beerdigung hübsch zurecht zu puzzeln.«

»Da hast du’s.« Er drehte sich um und legte seine Hände auf ihre Schultern. »Jemand dachte, Treble Hook sei das Leben meines Partners wert. Wir haben vielleicht das Protokoll zerstört, aber ich muss wissen, wer diese Entscheidung getroffen hat.«

»Und dann?«

»Ich werde dafür sorgen, dass sie nicht lange genug leben, um einen Gerichtssaal von innen zu sehen.«

»Treble Hook und dein Partner Kip zuerst?«

Pain nickte: »Zuerst Clifton M. Rice, der Kipster, dann dein Partner Alejandro Infante.«

»Du hast dir seinen Namen gemerkt.« Agony war gerührt. Sie hatten schon lange nicht mehr über ihre verstorbenen Partner gesprochen.

»Ich merke mir nur Namen, die es wert sind, dass man sie sich merkt.«

Er ließ ihre Schultern los und drehte sich zu den restlichen Fundstücken auf dem Tisch um.

Verdammt , dachte sie, als sie ihm folgte, es ist wirklich schwer, ihn zu hassen.

Ein silberner und ein blauer USB-Stick waren noch nicht erkundet worden. »Diesmal darf der Junge auswählen«, sagte sie, als sie ihren Laptop startete.

»Gut«, brummte er. »Ich werde den traditionellen Weg gehen und Blau für den Jungen nehmen.«

»Cleverer Junge.« Sie versuchte es mit Muldoons australischem Akzent, der genauso schlecht war wie seiner.

Das übrig gebliebene, silberne Laufwerk steckte die Ex-Polizistin in ihren Laptop und enthielt eine Reihe von Leckerbissen über die Korruption in der Region. »Verdammt«, murmelte sie, als sie zur Hälfte durch war, »die Scheiße sitzt hier wirklich tief.«

Pain sah von seinem Laptop auf und sie fuhr fort. »Namen, Daten und Geschäfte, die wohl niemanden überraschen sollten, aber trotzdem … Es ist ein Augenöffner, dies alles zu sehen. Kann ein Beamter in dieser Stadt jemals mit einem reinen Gewissen ins Bett gehen?«

»Das bezweifle ich.«

»Erinnere mich daran, nie für ein Amt zu kandidieren«, bat sie.

»Wenn du das tun würdest«, antwortete er mit einem Lächeln, »hättest du meine Stimme, aber du würdest meinen ganzen Respekt verlieren … oh Scheiße!«

»Gutes ›oh Scheiße‹ oder schlechtes ›oh Scheiße‹?«

»Gutes ›oh Scheiße‹.«, blätterte er weiter. »Vielleicht sogar sehr gute ›oh Scheiße‹.«

»Erzähl.« Er hatte ihre Aufmerksamkeit geweckt. »Ich könnte jetzt positive Nachrichten gebrauchen.«

Pain drehte seinen Laptop so, dass sie selbst lesen konnte. Er nutzte die Zeit, um für kleine Ex-Agenten zu gehen und ließ sie ihre eigenen Schlüsse ziehen, falls seine falsch waren.

»Eddie the Getty.« Sie gab ihm ein High five, als er sich wieder zu ihr gesellte, bevor auch sie eine Pinkelpause einlegte.

Er blätterte die Datei noch einmal durch. Es handelte sich anscheinend um eine Datenbank, in der fast alle Personen erfasst waren, die in den nicht ganz legalen Glücksspielkreisen tätig waren, allerdings nicht die Besitzer der Etablissements. Ahjoomenonis Name wäre sonst vielleicht mehr als ein paar Mal aufgetaucht. Es handelte sich um eine Liste der einflussreichen Spieler, die dafür bekannt waren, öfter zu verlieren als zu gewinnen und die daher von Nutzen sein konnten, wenn es darum ging, ein wenig politische Macht zu erlangen.

»Oh, der liebe Eddie hat sogar einen Nachnamen.« Er schaute auf, als seine Partnerin zurückkam und sich mit einem Lächeln setzte.

»Und seine Eltern wahrscheinlich auch.« Sie spürte, wie die Last ihrer Vermieterin von ihren Schultern fiel. Sie waren immer noch drei Tage vor der Frist, die die Frau gesetzt hatte, um einen ihrer größten Schuldner zu stellen oder seine gesamten Schulden auf sich zu nehmen.

»Es sieht so aus, als könnten wir das hier schnell hinter uns bringen.« Pain war erleichtert.

»Aber zuerst«, betonte sie, obwohl sie es hasste, diejenige zu sein, die die Party verdirbt, »müssen wir unsere Beziehung zu deiner Ex-Freundin klären.«

»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du manchmal eine richtige Nervensäge sein kannst?«

»Nö.« Sie stand zügig auf. »Ich glaube nicht, dass das jemals jemand getan hat.« Sie machte sich auf den Weg zur Tür. Es war eine sehr produktive, aber lange Nacht gewesen. »Donuts oder Bagels?«

»Bagels. Hell geröstet oder dunkel?«

»Überrasche mich.«

* * *

»Du hast die dunkle Röstung genommen«, sagte sie am nächsten Morgen, als sie die Tüte mit den sechs Gebäckstücken auf den Tisch warf und in die Küchenzeile ging, um sich eine Tasse Kaffee einzuschütten.

»Wir haben es mit einer dunklen Person zu tun.« Er öffnete die Tüte, um ihre tägliche Lieferung zu untersuchen. »Ich dachte, das wäre vielleicht angebracht.«

»Es gibt keine Röstung, die dunkel genug ist, um ihr gerecht zu werden.« Sie kehrte an den Tisch zurück und sie sortierten die Bagels und die Daten, die sie aus den Resten der Aktentasche erhalten hatten. Ein bestimmter Datenträger war ihnen in der Nacht zuvor aufgefallen, aber sie waren zu müde gewesen, um alle Details durchzugehen. Nach ein paar Stunden Schlaf waren sie bereit, ihre nächsten Schritte zu planen.

Auf einem der Datenträger befanden sich nicht nur die Informationen über die Zielperson, die sie für Ahjoomenoni aufspüren sollten, damit er seine Schulden bei ihr begleichen konnte, sondern auch der Standort, den Agentin Esther Nemecek für ihre aktuelle Überwachungsaktion gegen Pain requiriert hatte.

Er hatte seinen Laptop eingeschaltet und auf dem Tisch positioniert, sodass sie beide gleichzeitig durch die Informationen scrollen konnten. Mehr als einmal schlugen sie sich gegenseitig auf die Hand, als sie um die Kontrolle des Touchpads kämpften.

»Ich glaube, du hast einen Stalker.« Agony war gerade für die Scrollfunktion zuständig. »Was glaubst du, was passieren würde, wenn du an einen Ort wie Kenosha, Wisconsin, ziehen würdest?«

»Ich denke«, antwortete er und war sich sicher, dass es mehr als eine Vermutung war, »dass ein Immobilienmakler, der für die Besetzung eines fast leeren Bürokomplexes in Kenosha zuständig ist, bald den neuen sechsmonatigen Mietvertrag feiern würde, den er mit einem neuen Mieter abgeschlossen hat.«

»Und die Agenten, die ihrer Taskforce zugeteilt sind, müssten ihren Ehepartnern und Kindern sechs Monate lang Lebewohl sagen«, fügte sie zustimmend hinzu, »während sie versprechen, an einem gelegentlichen Wochenende nach Hause zu kommen?«

»So ähnlich, ja.«

»Wir müssen sie schnell zurechtweisen.« Agony spülte einen Bissen von einem Blaubeer-Bagel hinunter. »Du und ich versuchen, ein Geschäft zu führen und das können wir nicht, wenn sie uns auf Schritt und Tritt beobachtet. Wir sind schließlich immer noch in Amerika. Mit Onkel Sam werde ich schon fertig. Big Brother … Ich komme mit ihm zurecht. Aber wenn dann noch die große Schwester dazukommt, ist das zu viel. Das ist eindeutig zu viel Verwandtschaft.«

»Wenn du recht hast …« Er lächelte. »Hast du recht.«

Zwei Stunden später, nachdem sie die richtige Kleidung angezogen und sich ein Paar Schlüsselbänder mit ansatzweise glaubwürdig aussehenden Schlüsselkarten gebastelt hatten, standen sie auf dem Besucherparkplatz der regionalen Zentrale von Sisters-R-Us.

»Bist du bereit?«, fragte Pain.

»Deine Quote ist eine dumme Frage pro Tag«, antwortete sie grinsend, »und die hast du gerade erreicht.«

Die Partner gingen ins Innere des zweistöckigen Bürokomplexes und Pain führte den Weg zum Wachposten in der Lobby an. Diese war mit zwei Wachleuten besetzt. Er zeigte ihnen und ihren Scannern kurz seinen Ausweis und schritt zu den Aufzügen.

»Sir? Sir?«, rief der kleinere der beiden Wächter, als er sich beeilte, zu ihm aufzuschließen. »Der Chip im Ausweis hat nicht funktioniert.«

»Nicht funktioniert?« Pain drehte sich erschrocken um. »Das ist doch mal wieder typisch SISTER, dass meine Karten nicht geht, oder?«

»Das passiert manchmal.« Der stämmigere der beiden Wächter holte ihn ein, um seinen Partner zu unterstützen. »Aber wir müssen das klären, bevor Sie weitergehen können.«

»Was sollen wir klären?« Der große Mann, dessen Ausweis ihn als Manfred Payne auswies, schaute empört, anscheinend kurz davor einen Aufstand zu proben.

»Bitte, Sir«, bat der kleinere Mann höflich, »kommen Sie an den Tresen, damit wir das klären können.«

»Es ist wahrscheinlich nur eine Störung, wie mein Kollege das gesagt hat.« Der Kamerad des Mannes hatte keine Lust, sich den Zorn des Besuchers zuzuziehen. »Aber Sie wissen ja, wie das ist. Wir haben alle unseren Job zu erledigen.«

»Gut!«, entgegnete Pain in einem Ton, der das Gegenteil versprach, als er den Wachen zu ihrer Station folgte und seine gemurmelten Proteste aufrechterhielt. »Komm so schnell wie möglich her, haben sie gesagt! Ich bin mit dem Nachtflug aus Neuguinea gekommen und komme nicht einmal durch die Vordertür?«

»Neuguinea?« Das war neu für den kleinen Wachmann.

»Scheiße!« Manfred Payne verfluchte sich selbst. »Ich bin so müde, dass mir das rausgerutscht ist. Erzählt es niemandem, okay?«, flehte er praktisch. »Da braut sich ein Feuersturm zusammen.«

Sie erreichten die Wache zur gleichen Zeit, als eine hochgewachsene Agentin hereinkam und ihren Ausweis hochhielt.

Die beiden Wachen waren so sehr mit dem großen, aufgeregten und schlaftrunkenen Agenten beschäftigt, dass sie vergaßen, ihren Ausweis zu scannen und sie nach vorn winkten.

Agony betrat den Aufzug und war im zweiten Stock, bevor jemand einen zweiten Gedanken an sie verschwendet hatte. Es war nicht die glamouröseste Aufgabe, aber sie fand die nächstgelegene Damentoilette zu Esther Nemeceks Büro und nahm sich eine Kabine.

Sie hatte nicht nach Einzelheiten gefragt, woher ihr Partner wusste, was er wusste, aber er hatte ihr versichert, dass Agentin Esther eine sehr regelmäßige Darmtätigkeit hatte. An manchen Tagen ließ sie das Frühstück und das Abendessen ausfallen, aber sie genoss immer ein herzhaftes Mittagessen. Und danach war immer der Keramikthron angesagt.

Es war jetzt eine Stunde nach der Mittagszeit und er hatte ihr versichert, dass die Schlampe bald auftauchen würde. Er hatte es ihr ermöglicht, an den Wachen vorbeizukommen und lenkte sie immer weiter ab, bis es fast zu einer Situation wurde, in der die Männer vielleicht anfangen mussten, gründlich zu ermitteln.

»Tut mir leid, Leute.« Pain zog sich zurück und entschuldigte sich, als sein Partner sicher im Aufzug war. »An manchen Tagen klebt einem einfach dauerhaft die Scheiße am Schuh, oder? Ich werde ein Nickerchen im Mietwagen machen, bis ich wieder einen Anruf bekomme. Dann werden wir alles in Ordnung bringen. Ihr habt gute Arbeit geleistet. Die große Schwester wäre stolz auf euch.«

Agony saß jetzt geduldig auf den Damenbinden, die sie auf ihrem Toilettensitz ausgebreitet hatte. Vier Frauen waren hereingekommen und taten nichts anderes, als in den benachbarten Kabinen zu pinkeln, während sie geduldig darauf wartete, dass jemand nach dem Mittagessen gepflegt kacken ging.

Sie hatte ein wenig Klatsch und Tratsch zwischen den Büros aufgeschnappt, als die weiblichen Angestellten sich wuschen und ihr Aussehen im Spiegel überprüften, bevor sie in ihre Büros zurückkehrten. Aber nichts war relevant für ihre Mission, also versuchte sie, sich zu konzentrieren.

Das Warten war ihr schließlich zu langweilig geworden und sie wollte gerade auf die Uhr schauen, um zu sehen, wie lange sie schon dort war, als die Tür aufschlug. Eine Stimme, die sich in ihr Gehirn eingebrannt hatte, sagte: »Ich bin offiziell in zehn Minuten vom Mittagessen zurück. Ich rufe dich dann an.«

Die Schritte eilten zu einer Kabine zwei Türen weiter und sie gab ihrer Beute eine Minute Zeit, sich niederzulassen und mit dem Geschäft anzufangen, bevor sie rief: »Puh, Mädchen? Mexikanerin?«

»Thai, und was geht dich das verdammt noch mal an?«

Mit einem Grinsen hüpfte sie von ihrem Sitz, sprang über zwei Stallwände und blieb auf der Tür zum Stall mit der Agentin hocken.

Esther Nemecek sah die Frau an, die sie anstarrte und kämpfte darum, ruhig zu bleiben, als sie mit zusammengebissenen Zähnen fragte: »Weißt du, was ich dir dafür antun könnte?«

»Weißt du, was ich jetzt mit dir machen könnte?« Agony hatte die Einschüchterungsschlacht auf jeden Fall gewonnen, denn ihre Gegnerin saß nun mit um die Knöchel geschlungenen Hosen da.

Die Frau beschloss, dass die Frage nicht mehr als ihren wütenden Blick verdiente, also fuhr ihr unwillkommener Besucher fort.

»Ich weiß, dass du es nicht gewohnt bist, auf jemand anderen als dein verrücktes Ich zu hören, aber ich rate dir, mir jetzt ernsthaft zuzuhören.«

»Als ob ich eine Wahl hätte«, erwiderte Nemecek und blickte kurz auf die heruntergelassene Hose.

Agony zog die nicht zu ihr zurückverfolgbare Glock. »Wie fühlt es sich an, so machtlos und verletzlich zu sein?«

Die Schlampe weigerte sich, mit etwas anderem als einem weiteren Blick zu antworten.

»Ja.« Sie kicherte. »Nicht so gut, oder? Und ich habe nicht einmal einen Kerker mit gruseliger Beleuchtung und einem Schläger, der mit einem Karren voller Folterwerkzeuge an der Seite steht.« Sie musste innehalten, um den Geruch zu verscheuchen, der ihr plötzlich entgegenwehte. »Ich mein, der Geruch ist ja nicht so schlimm, aber das Brennen in den Augen … Ich wette, du bist froh, dass du gerade auf einem Scheißhaus sitzt.«

»Wenn du vorhast, es zu tun, dann tu es!« Das war nicht gerade eine von Esther Nemeceks besseren Leistungen nach dem Mittagessen.

»Oh, so melodramatisch.« Agony steckte die Glock weg. »Haben sie dir das im Geheimdienst-Internat beigebracht? Wenn ich dich töten wollte, glaubst du wirklich, ich würde meine Zeit mit Plaudern verschwenden, während die giftigen Reste deines Mittagessens Krieg mit meinen Schleimhäuten führen? Vielleicht bekomme ich meinen Geruchssinn nie wieder richtig zurück.«

»Ich nehme an, du versuchst, mir irgendetwas klarzumachen. Wirst du bald dazu kommen?«

»Es geht darum«, sagte sie, »dass du, Agentin Esther-Allmächtige-Nemecek, es begreifst. Wir beide mögen zwar Schlampen sein, aber du bist nicht die Einzige, die sich jemanden schnappen und ihn missbrauchen kann, als wäre er eine Art Trophäe, die hilflos zu deinen Füßen liegt. Mein Partner und ich haben beide Handys. Wenn du uns in Zukunft kontaktieren willst, kannst du das Wegwerf-Handy vergessen, das du uns aufgezwungen hast. Es ist jetzt mit Klebeband an die Stoßstange eines Fernlasters geklebt.«

»Und wie genau soll ich mich mit euch in Verbindung setzen?«, fragte Esther mit zusammengebissenen Zähnen.

»Genauso wie jeder andere auch. Unsere Geschäftsnummer sollte bekannt sein. Du rufst sie an. Wenn wir Zeit haben, gehen wir ran und wir können uns unterhalten, wie es zivilisierte Menschen tun. Wenn wir nicht rangehen, hinterlässt du eine Nachricht und einer von uns ruft dich zurück. Solltest du dich in einer sehr ausgelassenen Situation befinden, schreibe uns, aber werde nicht plötzlich bedürftig und anhänglich. Das sieht nie gut aus. Ich verspreche, dass wir uns so schnell wie möglich bei dir melden werden. Verstanden?«

»Verstanden.« Nach diesem Gespräch sollte Esther vielleicht einen Kieferorthopäden aufsuchen, denn sie hatte die meiste Zeit des Gesprächs mit den Zähnen geknirscht.

Agony holte ihr Handy heraus, auf dem Display das immer noch laufende Gespräch mit Pain zu sehen. »Gibt es etwas, das du hinzufügen möchtest? Aha.« Sie nickte, während sie zuhörte. »Aha … Verstanden.«

Sie steckte das Telefon wieder in die Tasche.

»Was hat er gesagt?« Nemecek hasste es zu fragen, aber sie musste es wissen.

»Er sagt, du stinkst. Nach meinen Beobachtungen stinkt deine Scheiße auch.«

Mit diesem Abschiedsgruß sprang sie von der Kabinentür, rief der Agentin noch ein fröhliches »Denk dran, hinterher den Raum mit Flatterband abzusperren!« zu, verließ den Waschraum und stieg die Treppe immer drei Stufen auf einmal nehmend hinunter, anstatt den Aufzug zu benutzen. Sie hüpfte auf den Beifahrersitz, denn Pain war mit Bertha bereits vorgefahren, sobald sie aus der Tür gekommen war.

»Ich glaube nicht, dass sie mich danach noch mögen wird«, sagte sie seufzend.

»Würdest du sie wirklich als Freundin haben wollen?«

»Nein. Ich glaube nicht, dass ich das tun würde.«

Sie tauschten ein zufriedenes Lächeln aus und verließen den Parkplatz. Nächster Halt: Eddie the Getty.