DIE WUNDEN, DIE ANDERE UNS ZUFÜGEN, HEILEN AM SCHWERSTEN

Menschen haben die Macht, einander gutzutun, oder einander zu verletzen. Und sie haben die Wahl.

Aus dem Schatten ins Licht

In diesem Teil des Buches möchte ich einen Überblick über offensichtliche und verborgenere interpersonelle Traumatisierungen und deren Folgen geben, da diese unsere Beziehungen existenziell beeinflussen. Je besser wir sie bei uns selbst und anderen erkennen können, desto weniger werden wir urteilen und bagatellisieren. Wir werden anerkennen, dass es sich hierbei um ernste Probleme für Individuen, Familien und große Gemeinschaften handelt, denen wir uns zuwenden müssen, wenn sie sich verändern sollen. Ich wünsche mir, dass all die Menschen, die im Stillen leiden, meisterlich kompensieren oder mit letzter Kraft funktionieren, aus dem Schatten ins Licht treten können, wo sie gesehen werden, und wo heilsame Veränderung stattfinden kann.

Im Folgenden geht es also darum, die unerkannten Ursachen für so viele der zwischenmenschlichen Probleme ins Bewusstsein zu holen. Bitte achte beim Lesen gut auf dich und überspringe gegebenenfalls Teile, die dich belasten oder überfordern könnten. Auch wenn dieser Blick auf die dunklen Seiten der Menschheit nicht erquickend ist, soll er doch durchwoben sein von einem hellen, Zuversicht spendenden Prinzip: In dem Augenblick, in dem wir beginnen, uns dem Verletzten zuzuwenden, erwacht eine heilsame, integrative Kraft. Denn was einen Platz im Licht des Bewusstseins bekommt, beginnt, sich zu wandeln.

»Man made«-Traumata – die schwerste Form der Traumatisierung

Wir kennen verschiedene Arten von Traumatisierungen. Zum einen unterscheidet man, ob ein Trauma einmalig und von kurzer Dauer ist (Typ 1) oder ob es zum anderen mehrfach und von langer Dauer ist (Typ 2). Eine weitere und sehr elementare Unterscheidung besteht darin, ob ein überwältigendes Ereignis akzidentiell, also »schicksalhaft« verursacht ist oder ob es »interpersonell«, durch die absichtliche Tat eines anderen Menschen begründet ist.

Unter all diesen Einteilungen wirken jene Traumatisierungen, die menschengemacht sind (»Man made«-Traumata), besonders schwer auf die Opfer. Die Folgen und die Verarbeitung solcher Erlebnisse stellen sich als komplex dar. Diese Tatsache ist keine Überraschung. Es liegt auf der Hand, dass es kaum etwas Schrecklicheres gibt, als von einem anderen Menschen bewusst geschädigt zu werden oder zu erleben, wie er unsere Schädigung billigend in Kauf nimmt. Zu den interpersonellen Traumatisierungen zählt weit mehr, als die Allgemeinheit der Menschen denkt. Nicht Folter, Kriege und sexuelle Gewalt allein fallen in diese Kategorie. Auch in einem lieblosen Elternhaus aufzuwachsen, sich immer wieder in beschämenden Mobbingsituationen wiederzufinden oder zu erleben, wie die eigene Wahrnehmung wiederkehrend infrage gestellt wird, kann traumatisierend wirken. Das bedeutet, dass auch Menschen, deren Biografie nichts augenscheinlich Grauenvolles wie einen Überfall oder ein Kriegsgeschehen aufweist, schwer tragen können.

Diese Menschen fallen durch viele Raster. Selbst wenn sie zahlreiche Traumafolgesymptome zeigen, werden diese oft nicht als solche erkannt. So leiden Betroffene unter ihren vielfältigen Symptomen und darunter, nicht gesehen und verstanden zu werden, keine Hilfsangebote zu finden und sich immer isolierter, leerer und unpassender zu fühlen.

Die Selbstwertwunde

Frühe Bindungstraumatisierungen sind die Form der interpersonellen Traumatisierung, die wohl die schwerwiegendsten Folgen haben. Als Kinder internalisieren wir die Botschaften unserer Bezugspersonen und entwickeln daraus, wie in Teil 1 beschrieben, die Architektur unserer Persönlichkeit, bestehend aus Arbeitsmodell en, Bindungsstil en und weiteren intelligenten Anpassungsleistungen.

Auch das eigene Selbstbild ist ein Spiegel der Umwelt, an die wir uns anpassen mussten. Frühe Traumatisierungen auf der Bindungsebene führen zu einer Verwundung des sich entwickelnden Selbstwertgefühls. Die traumabedingte Überzeugung, nicht gut genug zu sein, ist vermutlich eine der häufigsten und weitreichendsten Folgen dieser Erfahrungen. Sie beeinträchtigt unser Leben und unsere Beziehungen auf einer elementaren Ebene und findet sich wohl in fast allen Fallbeschreibungen dieses Buches mehr oder weniger offensichtlich wieder. Sich als nicht liebenswert, gut genug oder erwünscht zu fühlen, ist eine oft unbewusste, aber zwangsläufige Schlussfolgerung aus unsicheren Bindungserfahrungen. Zwangsläufig deshalb, weil Kinder nicht anders können, als das, was ihnen widerfährt, auf sich zu beziehen. Sie können nicht wissen, dass die Art, wie mit ihnen umgegangen wird, nichts mit ihrem Wert zu tun hat, sondern sie identifizieren sich damit. Sich dieses Vorgangs bewusst zu werden, ist selbst für hochreflektierte Erwachsene eine große Aufgabe.

So lange, bis wir uns bewusst damit auseinandersetzen, entspricht unser Selbstwertgefühl dem primären Bindungsstil , den wir als Kinder entwickelt haben. Sind wir sicher gebunden aufgewachsen, fühlen wir uns selbstsicher. Sind wir hingegen unsicher gebunden aufgewachsen, ist auch unser Selbstwertgefühl von Unsicherheit geprägt.

Wenn das Selbstwertgefühl geschwächt ist, suchen wir unseren Wert bei anderen

In unseren Beziehungen spiegelt sich eine Verunsicherung auf der Selbstwertebene oft in angstvoller Vermeidung wider. So gehen wir erst gar nicht in Beziehung mit anderen Menschen und entwickeln die Fassade eines guten Selbstwertes, hinter der wir uns emotional unerreichbar verschanzen. Ebenso kann sich die Selbstwertwunde in einer fortwährenden Suche nach Bestätigung und Anerkennung zeigen. Diese Suche bleibt jedoch ergebnislos, weil beides nicht wirklich angenommen werden kann. Weder Komplimente oder Wertschätzung von Dritten noch Erfolgserlebnisse scheinen zu fruchten – so als würden Blumensamen auf einem ausgetrockneten Stück Erde liegenbleiben, statt in ihm aufzukeimen. Das ist eine Konsequenz dessen, dass die innere Autonomie sich nicht entwickeln konnte.

Einladung zur Reflexion

Welche Reaktionen kannst du in deinem Inneren beobachten, wenn du dir bewusst machst, dass die Art und Weise, wie deine Bezugspersonen mit dir umgegangen sind, nichts über deinen Wert aussagt? Ist es dir emotional genau so klar wie kognitiv? Berührt es in dir ein Gefühl von Schmerz oder auch ein Gefühl der Entspannung?

TRAUMABEDINGTE GLAUBENSSYSTEME

In diesem Zusammenhang ist der Begriff »traumabedingte Glaubenssysteme « sehr wichtig. Sogenannte »Glaubenssätze« haben in der Persönlichkeitsentwicklung, im Coaching und auch in der Psychologie einen festen Platz. Es werden schier unzählige Programme, Meditationen und sonstige Methoden angepriesen, mit denen wir Glaubenssätze »löschen«, »überschreiben«, oder »umprogrammieren« sollen, um endlich frei von ihrer beherrschenden Wirkung zu sein. Auch die Überzeugung, wir müssten nur positiv denken, um unsere lästigen Überzeugungen loszuwerden, ist weit verbreitet. Sehr viele Menschen probieren all das Genannte und noch viel mehr aus, um wieder und wieder festzustellen: Früher oder später kommen diese Muster wieder zum Vorschein. Was läuft hier falsch?

Glaubenssysteme sind neuronale Netzwerke

Ein Blick in die Neurobiologie hilft, um zu verstehen, wieso es oft nicht genügt, anders zu denken oder mit Gewohnheiten zu brechen, damit wirkliche Veränderung gelingt. Unsere Überzeugungen sind nämlich mehr als ein Gedanke oder ein Glaube. Sie sind (meist unbewusste) Schlussfolgerungen aus Erfahrungen, die durch wiederkehrende Bestätigung gefestigt wurden. Somit sind sie erlernte, durch Erinnerung gestützte Referenzpunkte, anhand derer wir versuchen, uns zurechtzufinden oder gar zu schützen. Und sie haben eine materielle Basis, denn tiefe Überzeugungen sind neuronale Netzwerke. Unser Gehirn besteht aus Milliarden von Neuronen, die durch Synapsen miteinander verbunden sind. Diese Verbindungen bilden Netzwerke, die eine Grundlage für unsere Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen bilden. Sogenannte »Glaubenssätze« sind in den komplexen Netzwerken kodiert. Da diese neuronalen Vernetzungen aus weitaus mehr bestehen als aus einer einfachen Überzeugung, ist der Begriff »Glaubenssysteme« treffender. Insbesondere früh geprägte Glaubenssysteme sind ein Komplex aus Überzeugungen, Gefühlen, Gedanken, Empfindungen und Bewertungen. Sie sind stabile Repräsentanzen der Welt, in der wir aufgewachsen sind und uns entwickelt haben.

Die Besonderheit traumabedingter Glaubenssysteme

Glaubenssysteme, die sich unter Hochstress bilden, haben eine grundlegend andere Wirkung auf unser inneres Erleben und unseren Kontakt mit der Welt als Glaubenssysteme, die wir unter normalen Bedingungen entwickeln. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass die Überlebensreaktionen, die in den ursächlichen Situationen mobilisiert wurden, in die komplexen neuronalen Netzwerke eingewoben sind. Eine traumabedingte Überzeugung ist folglich an einen inneren Zustand großer Dysbalance gebunden. Die Überzeugung: »Ich bin nicht gut genug!« ist dann beispielsweise an große Übererregung, körperliche Anspannung, emotionalen Aufruhr und quälende Verzweiflung gekoppelt. Wenn dieses neuronale Netzwerk aktiviert wird, ist unser Blick auf die Welt und die Menschen, die uns umgeben, entsprechend gefärbt. Das Glaubenssystem dominiert unsere Gegenwart, obwohl es vielleicht schon sehr alt ist.

Da traumabedingte Glaubenssysteme an Überlebensreaktionen gekoppelt sind, sind sie besonders solide. Das liegt daran, dass für unser autonomes Nervensystem bedingungslos das Überleben an erster Stelle steht und sowohl die Überlebensreaktionen als auch die Überzeugungen zu unserem Schutz entstanden sind.

Wenn wir versuchen, traumabedingten Glaubenssystemen etwa mit Hypnosetechniken oder positivem Denken beizukommen, suggerieren wir unserem Unterbewusstsein, dass wir eine Schutzfunktion wegnehmen wollen, ohne dass wir dafür ein Pfand der Sicherheit liefern könnten. Um diese tief geprägten und soliden neuronalen Netzwerke zu verändern, geht es also wieder einmal darum, Sicherheit zu finden. Und je mehr uns das gelingt, desto mehr werden sich alte, traumabedingte Glaubenssysteme langsam für Veränderung öffnen.

Traumabedingte Selbst- und Weltbilder

Das Gleiche gilt für traumabedingte Selbstbilder und im Grunde alle Prägungen, die unter traumatischem Stress entstanden sind. So ist auch das Weltbild »Die Welt ist ein gefährlicher Ort« und das Menschenbild »Menschen sind gefährlich« sehr solide, wenn sie früh geprägt wurden. Kein Mantra, keine Selbstliebemeditation und kein Versprechen, dass es doch in jedem Menschen einen guten Kern gibt, kann eine solche Prägung entkräften. Es ist, als würde man einer Person, die aus einem brennenden Haus entkommen ist, sagen, dass man Feuer mit Wasser löschen kann. Das stimmt zwar, doch was hilft es, falls sie erlebt hat, dass jemand Feuer legt, statt zu löschen? Diese Person muss lernen, mit der Tatsache zu leben, dass manche Menschen Feuer legen, aber nicht alle, so, wie die meisten Menschen Feuer löschen, aber nicht alle. Und sie ist herausgefordert zu lernen, dass Feuer ebenso eine Naturgewalt sein kann wie auch der gemütliche Schein einer Kerze in einem sicheren Zuhause.

Wenn die Existenzberechtigung infrage steht

Traumabedingte Selbstbilder können auch den Kern der Persönlichkeit betreffen. In der praktischen Arbeit mit früh bindungstraumatisierten Menschen berührt es mich immer wieder, wenn existenzielle Fragen ans Licht kommen, wie etwa: »Habe ich einen Platz in der Welt?«, »Bin ich überhaupt erwünscht?«. Frühe Wunden können uns so tief verletzen, dass wir an der eigenen Existenzberechtigung zweifeln. Wie kann es so weit kommen?

Wenn eine Bindungsperson einem Kind stetig vermittelt, dass seine Gefühle und Bedürfnisse und damit das ganze Kind als fühlendes Wesen nicht willkommen ist, hinterlässt das Spuren. Hier wird nicht ein Verhalten zurückgewiesen, abgelehnt, abgewertet oder bestraft, sondern ein Mensch als Ganzes. Infolgedessen entwickelt das Kind zum einen kein Gespür dafür, ob seine Reaktionen angemessen und richtig sind. Zum anderen entsteht eine große Unsicherheit in Bezug auf seine Gefühle und Bedürfnisse. Das kann so weit gehen, dass die Berechtigung, überhaupt Gefühle und Bedürfnisse zu haben, angezweifelt wird, was wiederum die eigene Daseinsberechtigung berührt: »Wenn meine Gefühle nicht sein dürfen, darf ich dann sein?«

Im späteren Leben kommen diese tiefen Erschütterungen besonders dann zum Vorschein, wenn das Bindungssystem aktiviert wird, wir also in zwischenmenschlichen Beziehungen gefordert werden, was zu großen Schwierigkeiten führt. So ist es Menschen mit dieser tiefen Prägung oft fast unmöglich, Konflikte durchzustehen, ohne in größte emotionale Not zu geraten. Darauf werde ich später im Detail eingehen.

Zum Glück haben wir jedoch die Möglichkeit, auch auf diese fest verdrahteten neuronalen Netzwerke Einfluss zu nehmen. Hierbei gilt es zu erkennen, dass sie existieren und viele alte Botschaften repräsentieren, die wir jedoch heute entkräften können. Als Nächstes sind wir herausgefordert, uns selbst immer öfter so zu behandeln, wie wir es einstmals von anderen gebraucht hätten. So bahnen wir neue neuronale Netzwerke und damit eine neue Wirklichkeit, in der Raum für Geborgenheit, Lebendigkeit und sichere Beziehungen ist. Der nüchterne Fachbegriff für diese faszinierende und machtvolle natürliche Fähigkeit lautet »Neuroplastizität «.

BASISWISSEN : NEUROPLASTIZITÄT

Neuronale Netzwerke sind nicht in Stein gemeißelt, im Gegenteil.

Unser Gehirn ist über die Dauer unserer gesamten Lebensspanne dazu in der Lage, zu lernen und sich dadurch zu verändern. Nervenzellen können sich jeden Tag und mit jeder neuen Erfahrung neu vernetzen. Wir sind also zeitlebens fähig, neue neuronale Netzwerke zu bilden oder alte neuronale Netzwerke zu verändern.

Die Neuroplastizität ist vielleicht eine der wichtigsten Entdeckungen der Hirnforschung. Ihre wesentlichen Merkmale lauten:

• Das Gehirn entwickelt sich »nutzungsabhängig«.

• Das Gehirn hört zu keinem Zeitpunkt im Leben damit auf.

Unser Gehirn und unser Nervensystem werden durch unsere Erfahrungen von Beginn an geformt. Denn neuronale Netzwerke entstehen durch Erfahrungen. Je häufiger, länger und emotional intensiver die Erfahrungen sind, desto stabiler, solider und kraftvoller sind die neuronalen Netzwerke, die aus ihnen resultieren.

Die Erkenntnis, dass sich zeitlebens neue starke Netzwerke bilden können und dass wir alte auch komplexe und stabile Netzwerke verändern können, ist von großer Bedeutung für Menschen mit Traumafolgesymptomen. Denn der Satz »Es ist nie zu spät« wird dadurch greifbar, über Hoffnung und Glaube hinaus. Traumaintegration gelingt, indem die alten Prägungen in Form starker Netzwerke, in erweiterte Netzwerke integriert werden. Diese »Erweiterungen« bestehen aus guten Erfahrungen, Erkenntnissen oder körperlichen Komponenten. Begriffe wie »löschen« oder »überschreiben« sind irreführend. So lernen wir, mit den Prägungen der Vergangenheit umzugehen, statt weiter autonomen Reaktionen ausgeliefert zu sein.

Wir können die Fähigkeit des Gehirns zur Neuroplastizität nutzen, indem wir unseren Lebenswandel sanft verändern, Erfahrungen schaffen, die uns guttun, und Heilsames kultivieren. So werden wir nach und nach glücklicher, resilienter und bindungsfähiger.

Hier liegt der Schlüssel für heilsame Veränderungen.