DIE ÜBERLEBENSSTRATEGIEN DES ÜBERAKTIVIERTEN BINDUNGSSYSTEMS

Wenn ein Mangel an Bindung oder drohende und tatsächliche Bindungsabbrüche die Kindheit geprägt haben, ist Bindung fortwährend mit Stress verbunden. Der Bindungserhalt hat dann oberste Priorität, vor allem anderen, selbst vor dem eigenen Wohlergehen und der eigenen Würde.

Überlebensstrategien können zum Lebensstil werden

Unser autonomes Nervensystem hat für verschiedene Bedrohungslagen instinkthafte Schutzstrategien parat. So ist es heute weithin bekannt, das Kämpfen und Fliehen Überlebensreaktionen des Menschen sind. Auch der Totstellreflex ist geläufig, ebenso wie die Tatsache, dass die Bindungssuche die primäre Überlebensreaktion ist. All diese autonomen und instinkthaften Abläufe sind für akute und kurz andauernde Gefahrensituationen gedacht. Unser Nervensystem hat jedoch auch Strategien zur Verfügung, die in lang andauernden Bedrohungslagen retten sollen. Diese Strategien entsprechen komplexen Anpassungsleistungen, die ganz ohne unser bewusstes Zutun stattfinden. Wenn wir also Opfer von lang anhaltenden Hochstresssituationen (Typ 2-Traumata) werden, findet unser Nervensystem hochintelligente Wege, sich in diese Umwelt so einzufügen oder anzupassen, dass wir in ihr möglichst unbeschadet überleben können. Diese rettenden Strategien brennen sich tief in unser Inneres ein, sodass viele unserer Verhaltensmuster, Gedanken, Empfindungen und Impulse auf ihnen basieren. Mit anderen Worten: Unsere alten Überlebensstrategien prägen unseren Lebensstil, und zwar umso mehr, je früher wir sie entwickeln mussten. Sie sind Platzhalter für wahrhaftig empfundene Sicherheit. Im weiteren Leben identifizieren wir uns oft völlig unbewusst mit diesen Strategien. Sie sind Teil unserer Persönlichkeit. Aus diesem Grund bedeutet die Integration von Trauma und die Veränderungen, die wir dadurch erzielen, immer einen »Umbau« unserer Persönlichkeit und manchmal auch unserer Identität. Diese Tatsache im Hinterkopf zu haben, ist wichtig, um sich auf der eigenen Entwicklungsreise nicht zu überfordern oder unrealistische Erwartungen an sich selbst zu stellen. Wenn wir unsere frühen Muster verändern, verändern wir also unsere Persönlichkeit, unseren Lebensstil und all unsere Beziehungen. Darin liegt ein Schlüssel zu mehr Balance und Lebensfreude, aber auch die Herausforderung, sich in einem neuen Leben nach und nach zurechtzufinden. Sich dieser Herausforderung zu stellen, ist höchst lohnend. Sie bringt uns zurück zu uns selbst, jenseits unserer traumabedingten Anpassungsleistungen und Überlebensstrategien. Sie führt uns zu unserem wahren, authentischen Sein.

Zu den Überlebensstrategien, die sich aus lang andauernden Hochstresserfahrungen auf der Bindungsebene entwickeln, gehören verschiedene, hochkomplexe soziale Verhaltensmuster. Da sie im Beziehungskontext besonders relevant sind, sollen sie hier ausführlich betrachtet werden. Meiner Erfahrung nach werden diese Überlebensreaktionen sehr häufig nicht als solche erkannt. Allzu oft werden sie als ein steuerbares Verhaltensmuster fehlgedeutet und nicht als eine an Traumaenergie gekoppelte autonome Reaktion verstanden.

KONFLIKTVERMEIDUNG ALS ÜBERLEBENSSTRATEGIE

Bella steht mit ihrer siebenjährigen Tochter Zoe am Bahnhof und der Zug fährt ein. Wer fehlt, ist ihr Freund David. Er hat sie erneut versetzt. Trotz seiner vielen Beteuerungen, »nächstes Mal« pünktlich zu sein, ist er es wieder nicht. Bella ist sehr wütend, enttäuscht und aufgeregt. Um ihre Tochter nicht zu beunruhigen, schluckt sie ihre Gefühle hinunter und steigt mit ihr allein in den Zug. Sie erklärt, dass David es leider doch nicht geschafft hat und sie den Ausflug ohne ihn machen und ihn abends zuhause wiedersehen.

Den ganzen Tag schwelt die Wut in ihr und ihr Körper ist angespannt. Bella hat sich vorgenommen, David souverän und klar zu sagen, dass es so nicht weitergehen kann. Sie weiß, dass er sich augenblicklich verschließt wie eine Auster, wenn man ihm einen Vorwurf macht. Oft flieht er dann aus der Verbindung und meldet sich mehrere Tage nicht, was Bella schlaflose Nächte bereitet. In anderen Situationen wird David kalt und bezeichnet Bella als pingelig und spießig, wenn sie ihm fehlende Zuverlässigkeit vorwirft. »Du bist doch nicht meine Mutter!« ist ein Satz, den Bella schon häufig von ihm gehört hat. Aus diesem Grund hat sie allzu oft nicht gesagt, wie sehr es sie verletzt, wenn David sich nicht an Absprachen hält. Je näher der Zeitpunkt des Zusammentreffens rückt, desto mehr wandelt sich Bellas Wut in Unruhe und Ängstlichkeit. Ihr Körper verliert die Spannung, ihre Schultern sacken nach vorne und sie fühlt sich verzagt und traurig.

Als David am Abend den Raum betritt, hat sie keinen Zugang mehr zu ihrer Wut und den Worten, die ihr am Nachmittag noch auf der Zunge lagen. Der Abend verläuft so, als wäre nichts geschehen. Bella verhält sich wie immer, während ihr David gleichzeitig fern ist. Etwas in ihr fühlt sich sehr einsam und sie denkt: »Er sieht mich einfach nicht.«

Konflikte gehören zum Leben und zu guten Beziehungen

Wir brauchen einander, um zu lernen und zu wachsen. Häufig lernen wir besonders viel über uns und andere, wenn wir herausgefordert sind, einen Konflikt mit einem nahestehenden Menschen zu lösen. Konflikte zu meiden, bedeutet auch, zwischenmenschlicher Begegnung aus dem Weg zu gehen. Wenn wir uns vor Auseinandersetzungen scheuen, können Probleme nicht gelöst werden und wichtige Dinge bekommen keinen Platz. Vieles bleibt ungesagt und ungehört. Das führt über kurz oder lang jede Beziehung in die Stagnation. Um gesunde, sichere und verbundene Beziehungen zu führen, müssen wir uns Konflikten stellen.

Dafür brauchen wir all unsere soziale Kompetenz, die Bereitschaft, Kompromisse einzugehen, und die Fähigkeit, sowohl unseren Standpunkt zu vertreten als auch uns in den anderen einzufühlen. Ausgestattet mit diesen Fähigkeiten, können wir Reibung aushalten und die temporär aufkommende Distanz durchstehen. Sich auseinanderzusetzen, um dann wieder zusammenzukommen, bringt häufig noch mehr Tiefe und Vertrauen in unsere Verbindungen, da wir die Erfahrung machen, trotz Uneinigkeiten zueinanderzustehen und über sie hinauswachsen zu können.

Für viele Menschen mit frühen Traumatisierungen klingt diese Beschreibung wie ein Drehbuchauszug aus einem unrealistischen Film. Denn mit einem chronisch überaktivierten Bindungssystem und einem unsicheren Bindungsstil sind diese Fähigkeiten eingeschränkt. Die Betroffenen kennen Konflikte nur als höchst bedrohliche Szenarien.

Frühes Bindungstrauma hemmt die Konfliktfähigkeit

Unsichere Bindungserfahrungen in der Kindheit bieten keinen Bezugsrahmen für gesunde Beziehungen mit einem normalen Maß an Reibung. Statt eine gesunde Konfliktfähigkeit zu entwickeln, sind Betroffene mit der ständig lauernden Angst vor Bindungsabbruch, Liebesentzug oder anderen Konsequenzen beschäftigt. Es fehlt die Referenz dafür, dass Auseinandersetzungen stattfinden können, ohne die Beziehung zu bedrohen. Es fehlt die Erfahrung, dass man sich in Opposition zueinander befinden kann, während es eine stabile Basis der Verbundenheit gibt.

Generell werden Konflikte immer dann als bedrohlich wahrgenommen, wenn sie zu einer Unterbrechung der Verbundenheit führen und dadurch die Beziehung einer Belastungsprobe ausgesetzt ist. Für sicher gebundene Menschen braucht es dazu weit mehr als für unsicher gebundene. Das Bindungsband gerät auf Spannung, was unsere kindlichen Prägungen aktivieren kann. Das latent angespannte Bindungsband von Menschen mit einem überaktivierten Bindungssystem gerät viel schneller unter Spannung als das eines sicher gebundenen Menschen, dessen Band elastisch ist.

BASISWISSEN : DIE NEUROBIOLOGIE HINTER ESKALIERENDEN KONFLIKTEN

Wie kommt es dazu, dass Konflikte eskalieren?

Auseinandersetzungen geraten dann außer Kontrolle, wenn mindestens einer der Beteiligten sich bedroht fühlt. Wenn das Bedrohungsgefühl so groß wird, dass unsere Stresstoleranz überschritten wird, aktiviert der Körper autonome Verteidigungsmechanismen, unsere Überlebensreaktionen. Das Nervensystem wechselt von der Ausrichtung auf Verbindung in die Ausrichtung auf Schutz. »From connection to protection«, wie Stephen Porges es treffend ausdrückt. Das Stammhirn mit seinen autonomen Reflexen übernimmt dann die Regie. Infolgedessen wird komplexes Denken unmöglich, da der Neokortex, den Reflexen untergeordnet, in den Hintergrund tritt. Das ist der Grund dafür, dass erhitzte Gemüter selten gute Ideen haben, sondern impulsiv, unüberlegt und manchmal animalisch agieren. Weil zudem die Aktivität des sozialen Nervensystems gedrosselt wird, schwindet die Fähigkeit, den anderen anhand von Worten oder seiner Körpersprache richtig zu verstehen, sich einzufühlen oder etwas Verbindendes zu initiieren. Das Sprachzentrum ist in seiner Funktion eingeschränkt, was dazu führt, dass Worte fehlen, wir uns nicht mehr treffend ausdrücken können, die Sprache roh und grob wird oder wir gänzlich verstummen. Es geht nun nur noch ums Rechthaben und Gewinnen (Kampf) oder darum, möglichst unbeschadet davonzukommen (Flucht, Unterwerfung). Manchmal geht es auch darum, die Situation so schnell wie möglich zu überstehen (Totstellen, Dissoziation).

Auf allen Ebenen spiegelt sich wider, dass das gesamte Nervensystem nichts anderes tut, als auf äußerste Bedrohung schützend zu reagieren. Es versucht nicht, diplomatisch und besonnen eine konstruktive Lösung zu finden. Denn es geht plötzlich ums Überleben. Und das selbst dann, wenn es in Wirklichkeit nur um eine harmlose Lappalie geht.

Streiten hilft nicht

Durch meine Erfahrung als Paartherapeutin und die Arbeit im Einzelsetting glaube ich nicht an das »reinigende Gewitter«. Dass Streiten gesund sei und ohne Streit eine Beziehung keine Tiefe hätte, halte ich für eine irrige Annahme. Natürlich ist es eine Frage, wie man Streit definiert. Die Paare in meiner Praxis verwenden dieses Wort überwiegend dann, wenn sie über eskalierende Gespräche und nicht gelöste Probleme sprechen. Streit, wie er hier verstanden werden soll, ist laut, hitzig und emotional. Danach riecht es eher nach verbrannter Erde durch einen Blitzeinschlag als nach frischer Luft nach einem reinigenden Gewitter.

Konflikte und ihre Lösung gehören zum Repertoire einer gelingenden (Paar-)Beziehung. Streit hingegen umschreibt eher das, was ich zuvor als eskalierende Konflikte beschrieben habe. Miteinander wachsen zu können, statt sich gegenseitig zu zermürben, erfordert, dass wir lernen, autonome Reaktionen bei uns und unserem Gegenüber zu erkennen und sie zu steuern. Darauf werde ich in Teil 4 genauer eingehen.

Die Erfahrungen mit unseren Bindungspersonen prägen die Kompetenz, Probleme und Konflikte zu lösen

Zwischenmenschliche Probleme und Konflikte zu lösen, ist eine komplexe soziale Leistung. Und es ist eine wechselseitige Angelegenheit, bei der alle Beteiligten eine Rolle spielen. Um gemeinsam Probleme zu lösen, muss man einander wörtlich und im übertragenen Sinne hören und sehen. Wenn das gelingt, ist man ein Stückchen mehr zusammengewachsen. Nicht umsonst wird im Teambuilding mit Methoden gearbeitet, in denen die Gruppe gemeinsam ein Problem lösen soll. Es fördert Stärken zutage und schafft Erfahrungen, die zu verbindenden Erinnerungen werden.

Viele Menschen, die von ihren Bezugspersonen nicht zuverlässig und liebevoll genug versorgt wurden und unsicher gebunden aufgewachsen sind, haben nicht gelernt, wie das gelingen kann. Dafür haben sie jede Menge anderes über Probleme und den Umgang mit ihnen gelernt. Viele haben erlebt, dass Probleme »gelöst« wurden, indem die Bindungspersonen sich entweder ihrer Macht bedient oder abgewendet haben. So wurden sie beispielsweise durch emotionale Gewalt, wie Übergangenwerden, oder körperliche Gewalt für Probleme bestraft oder mit ihnen alleingelassen. Dies kann später zu Schwierigkeiten mit verschiedensten Autoritätsfiguren führen.

Die Botschaft, ein Problem zu sein, hemmt wichtige Entwicklungsschritte

Häufig gehört zu den Prägungen dieser Betroffenen, dass es sich nicht lohnt oder sogar gefährlich ist, für etwas einzustehen oder zu kämpfen. Das gilt insbesondere dann, wenn ihnen Schuld zugesprochen wurde, sodass sie sich selbst fortan als »das Problem« wahrnehmen mussten. Als ein Problem angesehen zu werden, zählt zu ihren schmerzlichsten Erfahrungen und trifft in die schon beschriebene Selbstwertwunde. Alle Äußerungen von Bezugspersonen, die die Botschaft beinhalten »Wegen dir …« erklären ein Kind zu einem Problem. Etwa »Wegen dir geht es Mama schlecht«, »Weil dein Nachhilfeunterricht so viel kostet, haben wir kein Geld für den Urlaub«, »Wenn du besser aufgepasst hättest, müssten wir jetzt nicht in diesem vollen Wartezimmer sitzen!«. Es wirkt immer destruktiv auf den Selbstwert, wenn zwischen Verhalten und Person nicht differenziert wird. Wenn Kindern nicht vermittelt wird, dass es diesen Unterschied gibt, werden sie sich oder andere zukünftig schnell als problemhaft entwerten. Dann fällt es ihnen als Erwachsene schwer, sich für ihr Verhalten zu entschuldigen und menschlich Verantwortung zu übernehmen, um den Schaden auszugleichen.

Manch ein Mensch mit dieser Prägung wird sie auch umkehren und die Strategie der Bezugspersonen auf andere übertragen. Dann ist der andere das Problem und generell schuld an der Misere. Wenn man nur einen Hammer als Werkzeug hat, wird alles wie ein Nagel behandelt. Darunter leidet jede Beziehung, da kein konstruktiver Austausch zur Problemlösung stattfinden kann.

Es geht also auf dem Weg zu gesünderen Beziehungen darum, das eigene Repertoire für den Umgang mit Konflikten und Problemen zu erweitern. Die Grundlage dafür ist auch hier, sich eigener Prägungen bewusst zu werden und unterscheiden zu lernen, was hier und heute als bedrohlich einzustufen ist und was nicht.

Destruktive Lösungsstrategien führen zu destruktiven Arbeitsmodellen

Kinder erwerben Problemlösungskompetenz auch dadurch, dass sie sehen, wie ihre Bezugspersonen Probleme lösen. Wenn ihnen Schweigen, Schreien oder Gewalt im Umgang mit Problemen vorgelebt werden, fehlt ihnen eine Referenz dafür, dass es auch ganz anders gehen kann. Ein Problem ist dann ein Synonym für Eskalation und Dysregulation.

Zudem übernehmen Kinder unbewusst die vorgelebten Strategien ihrer Bezugspersonen in ihre Arbeitsmodell e. Sie internalisieren das Verhalten ihrer Bezugspersonen und es wird zu einer Blaupause für das eigene Handeln. Dieser Vorgang wird einem oft erst bewusst, wenn man an einen Punkt im Leben kommt, an dem man das eigene Verhalten als destruktiv erkennt, es aber nicht einfach so ändern kann. Dann beginnt der transformierende Prozess, um den es in diesem Buch geht – der Prozess, über die eigene Vergangenheit und ihre Folgen hinauszuwachsen.

Das Unvermögen, mit Konflikten und Problemen umzugehen, führt zu noch mehr Stress

Ein Leben zu führen, das darauf ausgerichtet ist, Konflikte zu vermeiden, ist wie ein Lauf über ein Minenfeld. Man kann nicht unbefangen und frei seinen Weg gehen, sondern man ist stets auf der Hut und in der Erwartung des Schlimmsten, während man immer wieder erstarrt stehen bleibt. Es ist wesentlich, dass wir erkennen, dass diese Minen vor allem in unserem Kopf existieren, der im zwischenmenschlichen Kontakt dauerhaft Gefahr wittert. Indem wir üben, immer klarer Schritt für Schritt vorwärtszugehen und uns unserer alten Angst zuzuwenden, werden wir trittsicherer und können den Weg mehr und mehr genießen.

Einladung zur Reflexion

Kennst du es von dir, recht haben zu wollen, statt in Verbindung zu bleiben?

Was machen Konflikte mit dir? Welche Muster kannst du erkennen: Bewahrst du die Ruhe und hältst die Verbindung? Oder bist du eher schnell »oben raus« oder verstummst? Was hast du in deiner Kindheit darüber gelernt, wie man Konflikte löst? Wie würdest du dich stattdessen gerne fühlen und verhalten?

SOZIALE UNTERWERFUNG – BESCHWICHTIGUNG ALS ÜBERLEBENSSTRATEGIE

Die sogenannte »Fawn Response« hat schon eine gewisse Popularität erlangt. Auch »please and appease « oder »people pleasing« gehören hierzu. Ich werde im Folgenden die Begriffe synonym verwenden, auch wenn sie sich leicht unterscheiden, da sie alle denselben Zweck haben: Bindung zu gestalten und aufrechtzuerhalten, selbst wenn sie bedrohlich ist.

All diese Strategien sind intelligente Formen der Unterwerfungsreaktion , die sich in komplexen sozialen Vorgängen wie Anpassung, Beschwichtigung oder Gefälligsein zeigen können. Bei alledem spielt unser soziales Nervensystem eine große Rolle. Sämtliche Formen der Unterwerfungsreaktion sind, wie alle Überlebensreaktionen, ausschließlich dazu da, das Überleben zu sichern, und sie werden dann gebraucht, wenn Bezugspersonen oder andere Menschen in einer Machtposition hochgradig bedrohlich sind. Sie treten bei zwischenmenschlichem Hochstresserleben auf, wie etwa bei einer Geiselnahme oder anderen Bedrohungssituationen, in denen Kooperationsbereitschaft lebensrettend sein kann. Sie spielen auch unter despotischen Regimen oder für marginalisierte Gruppen eine traurige und große Rolle im Alltag. Am häufigsten jedoch entstehen die Unterwerfungsreaktionen, wie Beschwichtigung, wohl in dysfunktionalen Familien, wo Kinder emotionale und körperliche Gewalt erleben oder vernachlässigt werden und sich von ihren Fürsorgepersonen bedroht fühlen. All diesen Beispielen ist gemein, dass das Opfer in einem absoluten Abhängigkeitsverhältnis zum Aggressor steht oder zwischen ihnen zumindest ein großes Machtgefälle besteht. Fliehen oder Kämpfen sind nicht möglich oder würden die Gefahr eines schlechten Ausgangs erhöhen und auch der Totstellreflex würde die Situation nicht verbessern. Eine gewaltbereite, emotional instabile, cholerische, unberechenbare oder anderweitig bedrohliche (Bezugs-)Person muss beschwichtigt werden. Man muss ihr gefällig sein und sie lesen können, um die beängstigende Dynamik zu beeinflussen. Die Beschwichtigung verfolgt das Ziel, deeskalierend zu wirken und das Gegenüber herunterzuregulieren. Betroffene setzen sie sowohl vorbeugend ein, um Eskalationen zu vermeiden, wie auch als Reaktion auf eine Bedrohung.

In Bezug auf frühe Erfahrungen wirkt hier, kurz gesagt, folgende Dynamik: Das Kind ist mit seinem Leben von einer Bezugsperson abhängig, die bedrohlich und unvorhersehbar handelt. Indem es sein Verhalten in der Interaktion entsprechend anpasst, versucht es, eine Art Sicherheit und Ruhe herzustellen, Vorhersehbarkeit zu erhöhen, Verbundenheit zu stärken und die Situation zu lenken. All das zum Zweck, seine Überlebenschancen in einer lebensfeindlichen Verbindung zu erhöhen oder das zu bekommen, was es zum Überleben braucht.

Das bedeutet, dass ein heranwachsender Mensch, der emotional vernachlässigt oder körperlich misshandelt wird, sich in seinem sozialen Verhalten auf höchst intelligente Weise anpasst.

So konnte etwa Rebekka an der Körpersprache und dem Klang der Stimme ihres Vaters erkennen, in welcher Verfassung er sich befand. Sie konnte wie ein Seismograf detektieren, wann er kurz vor dem Ausbruch stand und was sie zu tun hatte, um diesen zu verhindern.

Was uns im Angesicht dieses großen Leides entgeht, ist die Tatsache, dass eine derart vielschichtige Überlebensreaktion nur einem grundlegend resilienten Menschen gelingen kann. Diese Information ist für viele Betroffene, die sehr unter ihrer frühen Prägung leiden, eine wichtige Botschaft, denn sie stellt klar: Menschen, die reflexhaft beschwichtigen, sich anpassen und unterwerfen, sind nicht etwa schwach oder unfähig, sondern im Gegenteil, ihr Überlebenswille und ihre soziale Intelligenz sind enorm ausgeprägt. Hinter der tief verankerten Überlebensstrategie und ihren zugehörigen Verhaltensmustern stehen ein großes Einfühlungsvermögen, hohe soziale Kompetenz und beeindruckende Wahrnehmungsfähigkeiten.

Beschwichtigungsreaktionen sind neurobiologische Meisterleistungen

In der Beschwichtigungsreaktion gelingt es dem Betroffenen, die Funktionen aller drei Bereiche des autonomen Nervensystems gleichzeitig zu nutzen, um zu überleben: Der Sympathikus ist hoch aktiv und mobilisiert Energie, weil Bedrohung wahrgenommen wird. Der Parasympathikus überlagert mit der Immobilisierung durch den dorsalen Vagus die Flucht- oder Kampfimpulse und das soziale Nervensystem mit dem ventralen Vagus ermöglicht die gezielte soziale Interaktion.

Beschwichtigung dient der Co- und Selbstregulation

Ebenso faszinierend ist die Tatsache, dass diese Reaktion selbst- und co-regulierende Aspekte bedient. So erfüllt sie das Ziel, sowohl den autonomen Zustand und das Verhalten des Beschwichtigers als auch des Beschwichtigten zu modulieren. Man könnte von einer selbst-co-regulierenden Strategie sprechen, nach dem Motto: Indem ich mein Gegenüber beruhige, beruhige ich mich selbst. Das Opfer sendet also dem Aggressor Signale, dass alles okay ist, um sich sicherer, wohler oder hoffnungsvoller fühlen zu können. Das erweckt beim Aggressor in der Folge das Gefühl, dem Opfer vertrauen zu können und mit dem eigenen Verhalten akzeptiert zu werden. Auch wenn diese Art der Co-Regulation im akuten Fall dienlich ist, entsteht eine verstrickte Beziehungsdynamik, weit jenseits von sicher und gesund.

Ein unterwürfiger Lebensstil hat einen hohen Preis

Wenn die »Fawn Response« und das Beschwichtigen von der Überlebensstrategie zum tief geprägten Lebensstil eines Menschen werden, spielen sie in fast allen Beziehungen eine dominante Rolle. Sie bilden die Grundlage für sein Verhalten in Freundschaften, Arbeitsbeziehungen und Paarbeziehungen. Die frühen Erfahrungen werden in die Gegenwart übertragen, so dass auch im Hier und Heute das Ziel gilt, über die alte Strategie eine gewisse Sicherheit in einem als unsicher gedeuteten Rahmen zu kreieren. Alles ist unbewusst und mit großem Druck darauf ausgelegt, die Beziehung so zu beeinflussen, dass möglichst selten Angst machende Situationen entstehen. Je nachdem, was die Betroffenen erlebt haben, wird vieles als Gefahr betrachtet, was für Menschen, die sicher gebunden aufgewachsen sind, keinen oder bewältigbaren Stress bedeuten würde. Das Spektrum reicht von kleinen Meinungsverschiedenheiten (wie bei Rebekka und ihrer Freundin) über Enttäuschungen bis hin zu bedrohlichen Stimmungen, Emotionen oder Handlungen des Gegenübers.

Ein unterwürfiger und beschwichtigender Lebensstil zeigt sich mal offensichtlicher, mal subtiler etwa in folgenden Verhaltensweisen:

Überanpassung und zwanghafte Zustimmung:

Anpassung bedeutet Sicherheit. Für sie stellen wir eigene Überzeugungen, Bedürfnisse und Werte zurück oder blenden sie gänzlich aus. Dies kann so weit führen, dass Betroffene ihren persönlichen Ausdruck und ihr gesamtes Auftreten in der gewünschten, angepassten Form maskieren. Dieses Verhalten führt in die sogenannte »Co-Abhängigkeit«, in der die betroffene Person das destruktive Verhalten des anderen akzeptiert, rechtfertigt oder sogar fördert.

Vorauseilender Gehorsam und zwanghafte Wunscherfüllung:

Um möglichen negativen Reaktionen zuvorzukommen, stimmt sich die betroffene Person so intensiv auf ihr Gegenüber ein, dass sie mögliche vorhersehbare Anforderungen oder Wünsche vorausschauend erfüllt. Diese sehr unterwürfige Strategie ermöglicht zwar etwas Einfluss, verstärkt jedoch zugleich die destruktive Dynamik. Zudem verschleiert sie die Wahrheit, dass der Betroffene aus Not etwas tut, was dem eigenen Wohlergehen schadet. Das kann bis in die intimsten Ebenen einer Partnerschaft wirken. So haben mir sehr viele Menschen in der Praxis erzählt, dass sie sexuelle Dinge »mitgemacht« haben, die für sie kaum aushaltbar waren. Sie haben damit sogar ihre körperlich intimsten Grenzen aufgegeben, um Stress auf der Bindungsebene zu vereiteln. Sehr oft drängen die Gefühle, die sie in diesen belastenden Situationen unterdrücken mussten, in die Wahrnehmung, sobald sie das Muster der zwanghaften Wunscherfüllung erkennen. Diese Situationen sind sehr schmerzhaft und bedürfen oft fachlicher Unterstützung, denn dann gilt es, Scham, Schmerz und auch Ekelgefühlen achtsam zu begegnen.

»People Pleasing«:

Mit dem Ziel, gemocht, akzeptiert und nicht ausgeschlossen oder anderweitig bestraft zu werden, verhalten sich Betroffene gefällig, versuchen, es anderen stets recht zu machen, und verfallen in eine fast zwanghafte Hilfsbereitschaft. Menschen mit diesem Verhaltensmuster werden auch People Pleaser genannt. Sie sind oft sehr beliebt und wirken stark und sozial sehr engagiert. Diese Strategie hat etwas hoch Funktionales und oft übersieht man völlig, dass sie von Not getrieben und eine frühe Traumafolge ist. In diesem Aspekt der Beschwichtigungsreaktion wird besonders deutlich, dass für sie sowohl eine hohe soziale Intelligenz als auch eine Menge Lebensenergie nötig ist. Oft sind Betroffene in der Außenwelt strahlende Energiebündel und sobald sich die Türe schließt, das Wochenende naht oder sie länger allein sind, umgibt sie eine schwere Decke aus Depression und Sorge.

Es ist mir wichtig, einen weiteren, etwas delikaten Aspekt zu beleuchten: Im Muster des »People Pleasing« steckt nicht selten eine narzisstisch e Komponente. So machen die Betroffenen in einem gewissen Maß ihren Selbstwert und ihre Identität von den anderen abhängig. Strahlen, beliebt sein und auch dafür bewundert zu werden, sind dann Ersatz für die Selbstsicherheit, die sich in frühen Jahren nicht entwickeln konnte. Hier besteht also eine Überschneidung zu narzisstischen Persönlichkeitsmerkmalen.

Mangelnde Abgrenzung bis zur Selbstaufgabe:

Viele Betroffene leiden unter einer regelrechten Unfähigkeit, Wünsche auszuschlagen und Anfragen oder Forderungen abzulehnen, selbst wenn diese unangemessen oder belastend sind. Oft ist ihnen das bewusst und der Ärger über sich selbst wird zu einer weiteren zermürbenden Belastung. Man fühlt sich furchtbar unzulänglich und schämt sich dafür, immer und immer wieder über die eigenen Grenzen zu gehen und damit die eigene Würde zu untergraben. Es ist ein schlimmes Gefühl, sich selbst nicht in die Augen sehen zu können.

Abgrenzung ist für Betroffene von Bindungstrauma eine Lebensaufgabe. Sie wurde nicht gelernt. Je stärker das Bindungssystem aktiviert ist, desto weniger Grenzen gibt es. Alles, was ich bisher zum überaktivierten Bindungssystem beschrieben habe, schlägt sich auf die Abgrenzungsfähigkeit nieder. Eigene Bedürfnisse und Wünsche werden, sofern sie überhaupt bewusst sind, bereitwillig der vermeintlichen Bindungssicherheit geopfert.

Konfliktvermeidung um jeden Preis:

Für ein überaktiviertes Bindungssystem ist die größte Katastrophe der Bindungsabbruch. Konflikte werden häufig als Bedrohung für die Bindung angesehen. Sie lösen Verlustangst aus. Aufgrund der frühen Prägungen wird diese als existenziell empfunden. Insofern ist es logisch nachvollziehbar, dass es am sichersten scheint, Konflikte strikt zu vermeiden. Und das selbst dann, wenn es die eigenen Bedürfnisse und Werte kompromittiert und großes Leid erzeugt.

Vermeiden von Trennungen um jeden Preis:

Die Trennung von einem wichtigen Menschen bedeutet Verlust. Für unsicher gebundene Menschen mit einem überaktivierten Bindungssystem fühlt sich das an, als würde das Bindungsband zerreißen. Die existenzielle Katastrophe tritt ein und es kommt zur Dekompensation, wie in Teil 1 beschrieben. Um dieses höchst bedrohliche Szenario zu verhindern, vermeiden Betroffene eine Trennung um jeden Preis. Selbst dann, wenn die Beziehung schadet. Ich habe Klienten und Klientinnen getroffen, die mir unter großem Schmerz berichtet haben, welche Demütigungen und emotionalen Qualen sie über sich haben ergehen lassen, weil alles immer noch besser war als die Trennung. Das mag nach »Extremfällen« klingen, doch wo beginnt »extrem«? Immer dann, wenn Menschen Gewalt erfahren, trifft dieser Begriff zu. Und zwar auch dann, wenn sie – scheinbar freiwillig – bleiben, statt die Beziehung schnellstmöglich zu verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen! Sich nicht trennen zu können, kann eine Folge früher, schwerer Bindungstraumatisierungen sein, die in Leid und Schmerz gefangen halten. Menschen, die ihre eigene Würde auf diese Weise verraten, haben früh in ihrem Leben erlebt, dass sie ihnen geraubt wurde. Ihr Bindungssystem und die von ihm getriebenen Überlebensmechanismen sind dann stärker als ihr Verstand.

Gute Miene zum bösen Spiel:

Menschen mit einem überaktivierten Bindungssystem sind oft kreativ und kompetent, wenn es darum geht, Konflikte zu vermeiden. Manche verhalten sich beispielsweise in einer Gruppe, in der sie schlecht behandelt werden, gesellig und scheinbar unbekümmert, um weniger Angriffen ausgesetzt zu sein. Andere übernehmen bei einem Familientreffen die Rolle, gute Stimmung zu versprühen, um unterschwelligen Konflikten keinen Raum zu geben. So lenken sie mitunter ganze Gruppen geschickt um Konfliktthemen herum. Was für eine Leistung!

Einladung zur Reflexion

Erkennst du dich im Spektrum der beschriebenen Verhaltensweisen wieder? Gehörst du zu den Menschen, die mit einem überaktivierten Bindungssystem Sicherheit beim anderen suchen?

Wenn ja, auf welche Weise berührt dich diese Erkenntnis? Wenn nein, wie berührt dich die Erkenntnis, dass Menschen in deinem Umfeld vielleicht betroffen sind?

In jedem Falle lade ich dich ein, die Intelligenz und die Not in diesen Verhaltensmustern zu erkennen und dein Herz für die Betroffenen zu erwärmen.

SELBSTVERLEUGNUNG ALS ÜBERLEBENSSTRATEGIE UND LEBENSSTIL

All die intelligenten und komplexen Verhaltensmuster und Strategien, die der Unterwerfungsreaktion entspringen, haben die traurige Nebenwirkung, dass sie für die Betroffenen bedeuten, sich selbst zu verleugnen.

Das macht authentische Beziehungen kaum möglich. Jemand, der sich aus Angst anpasst, ist kein Gegenüber, mit dem wahre Nähe möglich ist. Wenn das soziale Nervensystem ausgeschaltet ist oder nur zur Stressvereitelung aktiv ist, sind Gleichklang und Verbundenheit auch neurobiologisch kaum möglich. Entweder entsteht eine »gespielte« Nähe, die sich tief im Inneren leer anfühlt, oder es kommt zu einer Art Verschmelzung. Der Partner, der sich anpasst, fühlt sich so sehr in die Präsenz des anderen ein, dass kaum ein Unterschied zwischen beiden besteht. Er verliert sich im anderen und wird zu seinem Schatten, was in eine sehr unlebendige Beziehung führt.

Keine echte Nähe leben zu können, ist vermutlich der größte Schmerz für Betroffene mit einem überaktivierten Bindungssystem und für die Menschen, die sie lieben. »Ich wünschte, ich könnte spüren, dass er mich liebt, wo er es mir doch so oft zeigt.«, »Ich glaube, ich liebe sie wirklich, aber ich kann es nicht fühlen.« Solche Sätze habe ich in der Praxis oft gehört. In ihnen offenbart sich ein Mensch, der zwar Beziehung lebt, jedoch ohne in ihr wirklich anwesend zu sein. Oder aber ein Mensch, der so sehr in seinen deaktivierenden Mustern gefangen ist, dass er von seinen Emotionen abgeschnitten ist.

Auch die berührenden und schweren Stunden mit Klientinnen und Klienten, die erfahren hatten, dass sie seit Jahren Teil eines Doppellebens waren, kommen mir in Erinnerung. Die Arbeit mit Frauen und Männern, die – wie im Film – am großen Tag allein vorm Altar standen, hat mir geholfen zu begreifen, wie gut Menschen einander täuschen können, wenn sie früh in ihrem Leben lernen mussten, eine Rolle zu spielen, statt sie selbst zu sein.

STARKSEIN ALS ÜBERLEBENSSTRATEGIE

Parentifizierung – die verlorene Kindheit

Eine folgenreiche und sehr schmerzhafte Dynamik entfaltet sich in Familien, in denen Kinder nicht Kinder sein dürfen. Das Phänomen der Parentifizierung wird selten thematisiert, obwohl es die Lebenswirklichkeit vieler Menschen prägt, die von Kindheitstrauma in der Familie betroffen sind. Da ihre Auswirkungen auf spätere Beziehungen so reichhaltig sind, soll sie ausführlich betrachtet werden.

Der Begriff »Parentifizierung« umschreibt, dass ein Kind in die Rolle eines Elternteils gezwungen wird. Wo das geschieht, ist eine Familie hoch belastet. Parentifizierung ist immer ein Anzeichen von Not, auch bei den Eltern. Nichtsdestotrotz stellt sie eine schwere Form emotionalen Missbrauchs dar. Die Umkehr der sozialen Rollen geschieht dann, wenn Eltern keine Geborgenheit und Sicherheit geben können und Kinder das Familiensystem stabilisieren, indem sie Aufgaben und Funktionen der Eltern übernehmen. Betroffene Kinder erleben Elternteile oft als hilflos oder bedürftig, was bedeutet, dass ihnen selbst jedes Gefühl von Sicherheit abhandenkommt. Die einzige Möglichkeit, etwas Sicherheit zu erschaffen ist, den Eltern zu helfen, auch wenn es in eine komplexe, dauerhafte Überforderung führt. Leidtragende Kinder wirken oft reif und brav, sodass sie nicht als belastet erkannt werden.

In Familien mit körperlich, psychisch oder suchtkranken Eltern gehört Parentifizierung zur Tagesordnung. Aber auch in jeder anderen Konstellation, in der Eltern emotional und körperlich nicht in ihrer Kraft sind, werden Kinder dem Druck ausgesetzt, für ihre Eltern zu sorgen und ihre Last mitzutragen. Die natürliche Grenze zwischen Elternebene und Kindebene verschwimmt.

Die zwei Arten der Parentifizierung

Man unterscheidet zwei verschiedene Formen der Rollenumkehr, die oft Hand in Hand gehen.

Bei der instrumentellen Parentifizierung delegieren Eltern Aufgaben an ihre Kinder, weil sie selbst nicht in der Lage sind, sie zu erfüllen. Oft wird mit einer gewissen Selbstverständlichkeit erwartet, dass Kinder sich um Geschwister sorgen, kochen oder Verantwortung für den Haushalt tragen. Diese Aufgaben sind keinesfalls kindgerecht. So machen beispielsweise viele Kinder weltweit, deren Eltern durch eine Sprachbarriere in ihrer Selbstständigkeit gehemmt sind, die Erfahrung, etwa bei Behördengängen als Dolmetscher zu dienen. Sie werden notgedrungen in eine verantwortungsvolle Rolle gedrängt und müssen oft Vorgänge bezeugen, die sehr belastend sein können.

Bei der emotionalen Parentifizierung werden Kinder in die Rolle gezwungen, für die emotionale Stabilität ihrer Bezugspersonen oder deren Beziehung verantwortlich zu sein. Sie werden in die Gefühlswelt ihrer Eltern hineingezogen. Dabei werden sie zum Ersatz für erwachsene Vertraute wie Freunde, Therapeuten oder andere Helfer, die fehlen. Kinder, die mit derart instabilen Eltern aufwachsen, versuchen aus eigener Kraft und nach ihren Möglichkeiten, die Eltern zu stabilisieren, damit ihre Welt nicht auseinanderbricht. Sie versuchen, die Bezugspersonen vor weiteren Belastungen zu schützen, um das fragile System nicht zu gefährden. Sie selbst sind emotional schutzlos und fühlen sich für hilflose Elternteile verantwortlich.

Ich erinnere mich lebhaft an den Bericht eines Klienten, der in seiner Kindheit sehr darunter gelitten hatte, dass seine Mutter sich immer wieder mit ihm und seinem Bruder im Bad verschanzte, um dem tobenden Vater zu entgehen. Er wurde nach einer Weile hinausgeschickt, um den Vater zu besänftigen.

Eine Klientin berichtete mir, dass ihre Mutter nachts regelmäßig aus dem Elternschlafzimmer ins Kinderzimmer floh. Dann kuschelte sie sich, oft weinend, zu ihrer Tochter ins Bett, um Trost und Wärme zu suchen. Meine Klientin empfand diese Situationen als beklemmend und überwältigend.

In Familien, in denen viel gestritten wird oder ein Elternteil gewalttätig ist, werden Kinder oft in diplomatische Vermittlerrollen gezwungen.

Leider sind solche Szenen keine Seltenheit, sondern ein Tabu. Weder Betroffene noch Zeugen wie Nachbarn sprechen darüber, was das Leiden enorm vergrößert.

Triangulation – zerrissen zwischen zwei Polen

Viele Kinder getrennter Eltern werden von ihnen instrumentalisiert und zu Verbündeten gegenüber dem anderen Elternteil gemacht. Der Begriff »Triangulation « beschreibt die Dynamik, bei der ein Kind in die Auseinandersetzungen oder emotionalen Spannungen der Eltern einbezogen wird. Das Kind wird beispielsweise als Vermittler, Botschafter oder sogar als Sündenbock in die Konflikte der Erwachsenen verstrickt. Kinder geraten zwischen die Stühle und in Loyalitätskonflikte. Ihr Bindungssystem ist unter großem Stress.

Die Folgen – parentifizierte Kinder werden zu verstrickten Erwachsenen

Menschen, die viel zu früh in ihrem Leben große Verantwortung für andere aufgebürdet bekamen, tragen vielschichtige Folgen in ihre späteren Beziehungen:

Wenn Starksein als Überlebensstrategie dienen muss, sind Nähe und Ebenbürtigkeit fast ausgeschlossen. Stärke und Funktionieren dienen als Rüstung für das verletzte Innere, das niemand zu Gesicht bekommt, weil es oft auch dem eigenen Bewusstsein verborgen bleibt. Betroffene brauchen Bindungserfahrungen, in denen sie sich zugehörig fühlen können, ohne für alles und jeden verantwortlich zu sein. Sie müssen nachlernen, wie es sich anfühlt, Co- und Selbstregulation zu erfahren, statt sich und andere durch ihren Aktionismus scheinbar zu stabilisieren. Das Bindungssystem braucht die Information, dass auch andere Menschen Sicherheit geben können und dass eine gesunde Bindung ebenbürtig ist.

Einladung zur Reflexion

Für viele Menschen ist es sehr schmerzhaft zu erkennen, dass sie Opfer von Parentifizierung wurden. Wenn es dir so gehen sollte, lade ich dich ein, dir bewusst zu machen, dass die Stärke, die du schon so früh entwickeln musstest, nicht von irgendwo herkam, sondern aus deinem Inneren.

Diese Kraft nach und nach so einzusetzen, dass sie deiner Heilung dient statt der Aufrechterhaltung alter Muster, kann eine wunderbare Ausrichtung auf die Zukunft darstellen.

Und vergiss nicht: Es ist nie zu spät.

ESSENZ : HINTER DEINEN ÜBERLEBENSSTRATEGIEN VERBIRGT SICH WEIT MEHR ALS DEIN SCHMERZ

Kompensations- und Überlebensstrategien dienen dazu, Schmerz auszuweichen, ihn zu betäuben oder ihn aus dem Bewusstsein zu drängen. Dafür sind sie da. Wenn wir beginnen, sie sanft zu lösen, wird uns oft der alte, ungespürte Schmerz bewusst.

Doch hinter den Überlebensstrategien wartet weit mehr als das. Auch dein unversehrtes Wesen, bisher verborgene Potenziale, Talente, positive Gefühle und vor allem Verbundenheit kommen zum Vorschein.

Sich dem eigenen Schmerz zu stellen, kostet Kraft. Doch diese Anstrengung wird so sehr belohnt.

Ich lade dich ein: Verzage nicht, wenn der alte Schmerz sich zeigt. Er ist lediglich das Erste, das dir begegnet, wenn du dich dir zuwendest. Wenn du nur ein paar Schritte weitergehst, siehst du auch das andere, was jenseits des Schmerzes auf dich wartet.