GEFANGEN IM ÜBERAKTIVIERTEN BINDUNGSSYSTEM – TOXISCHE BEZIEHUNGEN
Ein chronisch überaktiviertes Bindungssystem kann uns so sehr von uns selbst entfremden, dass wir bereit sind, für etwas »Liebe« fast alles zu opfern.
Mit dem Thema toxische Beziehung allein ließe sich ein ganzes Buch füllen. Hier soll es vor allem darum gehen, zu verstehen, wie frühe Prägungen uns in Verbindungen treiben und halten, in denen wir zerstört werden. Ebenso soll es darum gehen, die typischen Dynamiken klar zu benennen, damit Betroffene sie erkennen können, statt an sich selbst zu zweifeln und nach und nach zu zerbrechen. Auch Außenstehende sollten die Merkmale toxischer Beziehungen kennen, denn der größte Teil aller Betroffenen erhält erst nach vielen schweren Jahren Unterstützung, weil niemand die emotionale Gewalt zu erkennen scheint, der sie ausgesetzt sind.
Gewaltvolle und missbräuchliche Beziehungen sind leider keine Seltenheit. Betroffene sind meist innerlich zerrissen und voller Scham darüber, dass sie ihre Würde Tag für Tag opfern. Viele Beziehungen können toxische Aspekte haben, wenn etwa eine Partnerin suchtkrank ist oder körperlich gewalttätig. Ich möchte hier auf eine Form der Beziehung eingehen, die in allen Belangen toxisch wirkt, wo also auch die Momente, die als schön empfunden werden, zur Toxizität gehören. Die Täter und Täterinnen in diesen destruktiven Bindungen erfüllen oft psychiatrische Kriterien aus dem narzisstisch en Spektrum, doch es soll hier weniger um die Täter und Täterinnen gehen als vielmehr um die Dynamiken, die es zu erkennen und zu durchbrechen gilt, damit Opfer sich befreien können. Um sich aus destruktiven Beziehungen zu lösen oder erst gar nicht in sie hineinzugeraten, ist es unerlässlich, sich den frühen, traumatischen Wunden auf der Bindungsebene zuzuwenden. Denn destruktive Beziehungen im Erwachsenenalter sind häufig grausame Fortsetzungen oder Reinszenierungen der eigenen Kindheit.
Der Begriff »toxische Beziehung« lehnt sich an den Fachterminus »toxischer Stress« aus der Stressforschung an. Er bezieht sich auf die Tatsache, dass solche Beziehungen zu toxischem Stress führen. Dieser wiederum führt bei den Betroffenen zu Stressreaktionen, die den Kriterien einer Traumatisierung entsprechen, nämlich zu Überlebensreaktionen. Einer solchen Belastung dauerhaft ausgesetzt zu sein, bringt meist Symptome einer (komplexen) Posttraumatischen Belastungsstörung hervor, mit anderen Worten: Toxische Beziehungen machen krank. Sie haben eine oft verborgene, schleichende Wirkung auf ihre Opfer, bis irgendwann jede Lebenskraft vergiftet scheint.
»Wieso lasse ich das zu?«
Arno schaut mich mit großen, ungläubigen Augen an. »Ich kann es nicht fassen, dass mir das passiert! Wieso bin ich nicht schon längst über alle Berge?« Sein Körper ist starr, wie eingefroren, und seine Haltung wirkt geduckt. Er umfasst seinen Oberkörper, als würde er frieren. Die letzte halbe Stunde hat er mir erzählt, wie er im vergangenen Jahr in einer Beziehung gestrandet ist, die sich nach einer fulminanten Startphase in einen Ort des Schreckens verwandelt hat. Er erkannte sich und sein Leben nicht wieder.
Arno ist ein kompetenter und intelligenter Akademiker Mitte vierzig, der in einem internationalen Unternehmen eine Führungsposition bekleidet. Er gilt in der Firma als freundliche, souveräne Person und genießt sowohl Beliebtheit als auch Anerkennung.
Sein Privatleben ist wenig ausgeprägt. Er lebt bereits viele Jahre als Single und hat keinen Freundeskreis vor Ort, aber zwei alte Schulfreunde, die weit entfernt leben. Für Hobbys lässt ihm die Arbeit keine Zeit.
In seiner Ursprungsfamilie hat Arno einigen Schmerz erfahren. Die Persönlichkeit seiner Mutter war von Selbstsucht und Kälte geprägt, seine Schwester wurde stets bevorzugt und sein Stiefvater war ein Mann ohne Kontur, der kaum je eine Rolle spielte. Wer sein leiblicher Vater war, hat seine Mutter ihm nie verraten, sie sträubte sich, auch nur ein Wort mehr über ihn zu verlieren als: »Er war unbedeutend und soll dir egal sein!« Arno fühlt sich bis heute seiner Familie nicht wirklich zugehörig und oft abgewertet oder benutzt. Trotz allem pflegt er einen recht engen Kontakt mit ihr, immer in der Hoffnung, dass es eines Tages schöner werden könnte.
In der Beziehung mit Melanie fand Arno nach langer Zeit die Chance, mehr Farbe und Abwechslung in sein Leben zu bringen und etwas von der Familie abzurücken. Was mit ein paar wunderschönen, romantischen Wochenenden und Urlaubsreisen begann, entwickelte sich schleichend, aber schnell zu einem dunklen Gefängnis. Innerhalb nur eines Jahres hat Arno sein Selbstbewusstsein und den Glauben an seinen Verstand verloren. Er traut sich selbst und seiner eigenen Wahrnehmung nicht mehr und ist verzweifelt. Weil die Dynamiken in ihrer Beziehung so unglaublich und verwirrend sind, hat er bisher noch niemanden davon erzählt. Er fand einfach keine Worte dafür.
Nun sitzt Arno in meiner Praxis und berichtet bruchstückhaft und beschämt von Situationen und Ereignissen, die ihn tief verstören. Etwa, als er auf einer gemeinsamen Urlaubsreise mit hohem Fieber und Schmerzen im Bett lag und Melanie ihm eine Szene machte. Sie warf ihm vor, dass er den Urlaub verderbe.
Leider überrascht mich nichts von dem, was Arno beschreibt, da es einem klaren Muster folgt, das ich von vielen anderen Klientinnen und Klienten beschrieben bekam. Arno steckt mitten in einer toxischen Beziehung, in der er zu zerbrechen droht.
In einer toxischen Beziehung zu sein, bedeutet, andauerndem Stress auf der Bindungsebene ausgesetzt zu sein. Partner und Partnerinnen, die sich toxisch verhalten, wirken gezielt auf das Bindungssystem ihres Gegenübers ein. Sie wissen genau, welche Knöpfe zu drücken sind, um Verunsicherung, Angst und andere gewünschte Reaktionen hervorzurufen. Ziel ist stets, durch geschickte, mal subtilere, mal offensichtlichere Manipulation das Gegenüber in eine Abhängigkeit zu treiben und für sich zu instrumentalisieren. Toxisch agierende Menschen beherrschen ihre Beziehungspartner und rauben ihnen nach und nach jede Selbstsicherheit. Der Hauptfokus der Manipulation liegt auf zwei Aspekten: dem Bindungssystem und dem Selbstwert. Und damit auf den Kernelementen der Identität.
Toxisch wirkende Partner und Partnerinnen »spielen« mit dem Bindungsband und arbeiten an der Demontage des Selbstwertgefühls ihres Opfers. Je mehr sie ihren Selbstwert schmälern, desto mehr Einfluss haben sie auf der Bindungsebene und umgekehrt.
Bevor ich nun einige der Kernaspekte toxischer Beziehungsdynamiken aufzähle, sei noch etwas Wichtiges gesagt: In die Falle einer solchen Beziehungsdynamik zu gehen, kann fast jedem Menschen passieren. Vor allem jenen, die durch frühe Prägungen eine Verwundung ihres Selbstwertgefühls erfahren haben und in einem unsicheren Bindungsstil verankert sind, was etwa für 40 Prozent der Bevölkerung zutrifft. Ein weiterer Risikofaktor ist das Fehlen eines stabilen sozialen Netzwerks. Alle Frauen und Männer, die ich in intensiven Ausstiegsprozessen begleiten durfte, waren intelligente, reflektierte und selbstständige Personen. Es hat weder etwas mit Stärke noch mit Intelligenz zu tun. Unsere frühen, traumatischen Bindungserfahrungen haben lange Zeit mehr Macht als unser Verstand.
Ich möchte dich einladen, beim Lesen der Merkmale toxischer Beziehungen verschiedene Dimensionen im Blick zu haben. Im Folgenden beschreibe ich Dynamiken der Paarbeziehung. Es ist durchaus möglich, einzelne Elemente auch in anderen Beziehungen zu finden; das gilt auch für Eltern-Kind-Beziehungen. Die Bindungstraumatisierung, die bei Kindern durch diese schweren Formen emotionaler Gewalt entsteht, ist vielschichtig und schwer. Sie führt oft in einen desorganisierten Bindungsstil , da sowohl Bindungssystem als auch Nervensystem in ihrer Entwicklung stark belastet werden. Behalte nun also gerne verschiedene Beziehungskontexte im Hinterkopf.
Oft reagieren Menschen, denen derart missbräuchliche Beziehungen fremd sind, mit großem Unverständnis. »Wieso geht sie nicht einfach?«, »Wie kann er das so lange mit sich machen lassen?«, »Also ich würde mir so etwas niemals auch nur einen Tag lang gefallen lassen!« Auch wenn es schwer verständlich scheint, so ist das Unvermögen zu gehen, das viele Betroffene lange gefangen hält, logisch und nachvollziehbar. Ein durch frühe Verletzungen dysbalanciertes Bindungssystem bildet die Grundlage, auf der eine solche Dynamik Fuß fassen kann. Die Kombination aus gefühlter Abhängigkeit und verletztem Selbstwert macht auf der Bindungsebene sehr manipulierbar.
Wieso kann ich nicht gehen?
Arno hat in den vergangenen Monaten dreimal versucht, sich von Melanie zu trennen. Jedes Mal ist er zurückgekommen. Trotz großer Klarheit in seinem Kopf, dass er sich der Gewalt und dem Stress nicht mehr aussetzen wollte, zogen seine Emotionen ihn in eine andere Richtung – zurück in die Bindung mit Melanie. Kaum hatte er die Trennung ausgesprochen, quälten ihn Angst und Zweifel, sein Körper zitterte, und er war nicht in der Lage, an etwas anderes zu denken als an Melanie.
War es nicht doch seine Schuld, dass die Beziehung sich so entwickelt hatte? Neulich war es doch ein paar Tage wieder schön gewesen, Melanie so aufmerksam und freundlich. Vielleicht tat er ihr Unrecht und musste sich nur klarer ausdrücken und ihr helfen, sich anders zu verhalten?
Beim letzten Trennungsversuch war er so außer sich, dass er bei einem Vortrag in seiner Abteilung einen Blackout erlitt, kein Wort mehr herausbrachte und abbrechen musste. Er meldete sich krank und fuhr zu Melanie.
Arno ist erfüllt von Scham, als er erzählt, dass er inzwischen mehr Angst vor einer Trennung als vor der Hölle der Beziehung hat. Er fühlt sich ausweglos gefangen und unbeschreiblich erschöpft.
Traumabindung
Um zu verstehen, wieso es so schwer ist, sich aus missbräuchlichen Beziehungen zu lösen, hilft es, sich vor Augen zu führen, dass toxische Beziehungen auf Bindungsmustern basieren, die traumatisch wirken. Toxische Beziehungen traumatisieren die Opfer. Vor allem durch die Unberechenbarkeit und den Wechsel von Belohnung und Bestrafung entsteht ein Gewaltzyklus, aus dem schwer auszubrechen ist. Durch die starke Abhängigkeit des Opfers vom Täter ist der Hunger nach etwas Liebe und Bindungssicherheit so groß, dass alle Kraft in die Beziehung fließt, statt in die Rettung der eigenen Person. Da das Opfer in seinem Selbstwertgefühl so ausgehöhlt wird, verliert es jegliches Autonomiebestreben. Unterwerfungsstrategien und Überanpassung zum Bindungserhalt, wie ich sie zuvor beschrieben habe, spielen hier eine maßgebliche Rolle, da sie in einem chronisch traumatisierenden Beziehungsalltag, der von Abhängigkeit geprägt ist, die automatische Überlebensstrategie darstellt. Das überaktivierte Bindungssystem des Opfers ist voll auf den Täter als Fixstern im Universum ausgerichtet. Da die manipulierende Person ihr Gegenüber zwischenzeitlich immer wieder stärkt, indem sie ihm etwas Zuneigung und Selbstwertbestätigung gibt, bindet sie es umso mehr. Der alltägliche Bindungsstil ist desorganisiert. So wie in einem gewaltvollen Elternhaus dissoziieren auch in Erwachsenenbeziehungen Betroffene die bedrohliche Atmosphäre und bewerten sie als normal, sodass sie sich in ihr einrichten können und Flucht- oder Kampfreaktionen unterdrücken. All das zusammen macht das Gehen schwer oder unmöglich.
Es gibt kein richtiges Leben im falschen
Ich erinnere mich noch heute sehr gut an eine Kursteilnehmerin, die in der Gruppe durch ihre heitere und besonders kreative Natur positiv auffiel. Am letzten Wochenende des Kurses ging es darum, eine kleine Abschlussfeier zu gestalten und den Abend zusammen zu verbringen. Ich beobachtete, wie die Teilnehmerin den ganzen Nachmittag über immer unruhiger und verschlossener wurde. Gegen Abend bat sie mich zu sich und erklärte mir mit gepresster Stimme und großer Unruhe im Körper, dass sie leider nicht bleiben könne, weil ihr Mann sonst sehr böse auf sie sein würde. Sie erzählte, dass er ohnehin diesen Kurs nicht befürworte und dass sie jedes Mal, wenn sie nachhause käme, erst einmal sehr unangenehme Tage vor sich habe. Es war erstaunlich zu sehen, wie die aufgeschlossene und verbundene Frau in dem Moment, in dem ihr Alltag in unseren geschützten Raum eindrang, zu einer ganz anderen Person wurde.
Toxisches Verständnis als Überlebensstrategie in toxischen Beziehungen
Ein wesentlicher Teil der kreativen Anpassungsleistung an destruktive Beziehungen, und zugleich ein Merkmal für sie, ist das grenzenlose Verständnis der Opfer, mit dem sie das Verhalten der Täter rechtfertigen. Innerpsychisch wird viel unternommen, um die bittere Wahrheit zu verklären. Möglicherweise kann es als ein Aspekt der Unterwerfungsreaktion betrachtet werden, dass Opfer von schädigenden Beziehungspartnerinnen und -partnern sehr gewandt darin sind, Entschuldigungen und Erklärungen für destruktives Verhalten zu finden oder sogar ihr Gegenüber zu glorifizieren.
Zum Erhalt der Beziehung und um aushalten zu können, wie unaushaltbar diese ist, sind Betroffene bereit, sich selbst zu verleugnen, ihre Würde zu verraten und sich somit selbst Tag für Tag zu verletzen. Ein toxisches Verständnis zu entwickeln, hilft dabei, die eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu unterdrücken und die Bindung zu einer schädigenden Person aufrechtzuerhalten. Indem sie eine ungesunde Toleranz für destruktives Verhalten entwickeln, umgehen die Betroffenen, sich abgrenzen zu müssen. Damit entfernen sie sich immer weiter von sich selbst.
Auch destruktive Bindungen sind Bindungen
Manchmal erlebe ich eine Art Schutzreflex, wenn ich Klientinnen oder Klienten mit der Toxizität ihrer Beziehung konfrontiere. Oft senken sie den Blick und unterbrechen den Augenkontakt. Sie erklären, wie freundlich, lieb und verständnisvoll der destruktive Partner in Wirklichkeit sei, es solle kein falsches Bild entstehen. Betroffene stecken so fest in der Zwickmühle ihres überaktivierten Bindungssystems, dass sie sich häufig zunächst gegen Hilfe von außen wehren, weil sie nicht wollen, dass man ihnen zur Trennung rät oder sie sogar dorthin zu drängen versucht. Viele brechen auch den Kontakt zu Außenstehenden ab, wenn sie das Gefühl bekommen, dass diese gegen die Beziehung sind. Fingerspitzengefühl und Achtsamkeit im Umgang mit derart verstrickten Menschen sind deshalb enorm wichtig. Es ist entscheidend, nicht gegen die Beziehung, sondern für das Opfer zu sein.
Die Trivialisierung der Gewalt
Ein übermäßiges Verständnis für den Täter oder die Täterin hilft dem Opfer auch dabei, die kognitive Dissonanz zu kompensieren. Dieser Begriff beschreibt eine Diskrepanz zwischen den eigenen Überzeugungen und Handlungen. So wissen die meisten Opfer im Grunde, dass sie schlecht behandelt werden, doch sie sind nicht in der Lage, sich zu schützen. Um diese Diskrepanz zu schmälern, verzerren sie ihre Wahrnehmung und reden die Gewalt klein. Mit anderen Worten: Ein Opfer weiß trotz geschickter Manipulation ab einem gewissen Zeitpunkt meist, dass es sich misshandeln lässt, und bagatellisiert diese Wahrheit lange Zeit. Typisch dafür sind Aussagen wie: »Es ist doch nicht so schlimm«, »Alle Männer/Frauen sind so«, »Er meint es nicht so, ich übertreibe wieder«, »Ich weiß, dass sie eigentlich im Kern ganz anders ist«.
Das Untolerierbare zu tolerieren bedeutet, sich selbst und die Ebenbürtigkeit aufzugeben
Das toxische Verständnis erfüllt weitere wichtige Funktionen, um ein überaktiviertes Bindungssystem zu beruhigen, während man eigentlich weiß, dass man gehen muss. Indem wir unsere Toleranz auf das Untolerierbare ausdehnen, lassen wir innerlich alles zurück, was Hilfe braucht. Verletzte innere Anteile werden im Stich gelassen oder abgewertet, was häufig eine Reinszenierung früher Bindungserfahrungen abbildet. Zudem hilft ein übermäßiges Verständnis, das Gefühl mangelnder Selbstwirksamkeit zu verdecken. Je ohnmächtiger sich ein Opfer fühlt, desto mehr nutzt es das toxische Verständnis, um dieses Empfinden zu betäuben.
Die endlose Toleranz hilft dabei, die Verantwortung für eigene Bedürfnisse zu meiden. Sie liefert gute Gründe, nicht zu sich selbst zu stehen, sondern zum anderen, der entweder glorifiziert oder auch klein gemacht wird. Letzteres, die Degradierung des Partners zu einem Menschen, der eben nicht anders kann, führt genauso wie das Glorifizieren zum Verlust von Ebenbürtigkeit. In beiden Fällen wird die Macht über die eigenen Bedürfnisse dem anderen übertragen. Zugleich spricht man ihm jedoch die Verantwortung für sein destruktives Handeln ab.
Toxisches Verständnis kostet ganz offensichtlich die eigene Integrität.
Einladung zum Atemholen
Wenn du als akut oder einstmals betroffener Mensch die vorangegangenen Seiten gelesen hast, lade ich dich ein, einen Moment innezuhalten und nachzuspüren, wie es dir geht. Kannst du dir etwas Gutes tun?
Wenn du zu den Menschen gehörst, die glücklicherweise nicht von solchen Dynamiken betroffen sind oder waren, lade ich dich ein, dir deiner Haltung gegenüber Betroffenen bewusst zu werden und zu überprüfen, ob und wie sie sich möglicherweise verändert?
Wie entkommt man dem Gefängnis einer toxischen Beziehung?
Die wichtigste Botschaft zuerst: Es ist möglich, einen Weg aus einer toxischen Beziehung zu finden und von ihren Folgen zu heilen. Zugleich ist nicht zu verschweigen, dass dieser Prozess in vielen Fällen eine Traumatherapie erfordert. Das bedeutet aber auch: Es gibt wirksame Hilfe.
Die nächste, ebenso wichtige Botschaft: Der Ausstieg aus einer toxischen Beziehung ist ein komplexer Prozess. Es ist keine gute Idee, ihn allein bewältigen zu wollen. Fachkundige Unterstützung ist wichtig, damit es nicht, wie bei Arno, zu vielen gescheiterten Trennungsversuchen kommt, die die Dynamik verschärfen. Der meiner Erfahrung nach wichtigste Faktor, um sich aus einer destruktiven Partnerschaft lösen zu können, ist eine sichere Beziehung zu einem Menschen, der klar sieht und Halt gibt. Da man sich bei einer Trennung von einer primären Bindungsperson loseisen muss, die noch dazu eine starke Abhängigkeit kreiert hat, braucht es bestenfalls mehrere andere Menschen, bei denen man sich gesehen und aufgehoben und – vor allem – in Sicherheit fühlt.
Auch Helfer können Opfer der Manipulation werden
Ich bin in der Praxis einigen Betroffenen begegnet, die bereits professionelle Begleitung in Anspruch genommen hatten. Leider haben viele von ihnen erlebt, dass die Beraterinnen oder Therapeuten sich zu Komplizen der schlechten Umstände machten. Die Klientinnen und Klienten wurden von ihnen wieder und wieder emotional aufgerichtet und stabilisiert, um nach der Sitzung in die Hölle ihrer Beziehung zurückzukehren und die nächste Woche durchzustehen. Das ist in meinen Augen ein schwerer und häufiger Therapiefehler. Allzu leicht lassen sich Begleitende von den bedürftigen Anteilen und dem toxischen Verständnis der Betroffenen mit den scheinbar guten Entschuldigungen in das destruktive System verstricken. In Supervisionssitzungen, die ich mit Kolleginnen und Kollegen erlebe, spüre ich ihre Not und Orientierungslosigkeit. Und auch ich war in so mancher Situation blind für die Manipulation der Täter und Täterinnen, die bis in den Therapieraum reichen kann. Ich erwähne diesen Fakt, um zu verdeutlichen, dass viele Betroffene oft lange, sogar trotz Begleitung, ohne Hilfe bleiben und nicht gesehen werden in ihrer akuten, komplexen Notlage.
Gleichzeitig kann man davon ausgehen, dass ein manipulierter Mensch mit hoch gestresstem Nervensystem nicht begeistert ist, wenn er in der ersten Sitzung hört: »Sie müssen sich trennen, am besten noch heute!« Das fühlt sich nicht hilfreich, sondern eher bedrohlich an.
Ausstiegsbegleitungen erfordern auf beiden Seiten einen langen Atem und ein echtes Bündnis. Dass begleitende Personen sich zu diesem speziellen Themenfeld fortbilden, halte ich für sehr relevant. Betroffenen möchte ich Mut machen, sich spezialisierte Hilfe zu suchen, um wirklich heilsame Wege aufgezeigt zu bekommen.
Ein Mensch, der an der Basis seiner Identität so schwer misshandelt wurde, braucht Zeit, um nach und nach eine neue, kraftvolle Wahrheit zu finden: dass er liebenswert ist, eine Würde hat, die es wiederherzustellen gilt, und dass er etwas verlieren und noch mehr gewinnen wird.
ESSENZ : DEINE WÜRDE KANN VERRATEN , ABER NICHT ZERSTÖRT WERDEN
Menschen, deren Bindungssystem chronisch überaktiviert ist, entwickeln oft Verhaltensmuster und geraten in Lebensumstände, die ihre Würde verletzen und verraten. Diese Tatsache wird häufig von großer Scham und Traurigkeit begleitet.
Ich möchte all jenen Menschen, die diesen dunklen Ort kennen, zurufen, dass es nie zu spät ist, die Würde wiederherzustellen und Verhaltensmuster zu verändern.
Auch wenn du viel Entwürdigung oder Verrat erfahren hast und davon in deinen Grundfesten erschüttert wurdest, so wurde doch etwas nicht berührt: dein Wert als einzigartiges Wesen und damit der Kern deiner Würde.