DIE ÜBERLEBENSSTRATEGIEN DES DEAKTIVIERTEN BINDUNGSSYSTEMS

Wenn Bindung früh im Leben eine Bedrohung darstellt, wendet sich, wer stark genug ist, von ihr ab. Die tiefe Sehnsucht nach Verbundenheit und das natürliche Bedürfnis nach Bindungssicherheit wird dann zeitlebens unterdrückt. Ein Leben in unerkannter Einsamkeit kann die Folge sein.

Nicht fühlen ist sicherer

Strategien, die dazu führen, das Bindungssystem zu deaktivieren, dienen in allererster Linie dazu, das Nervensystem zu beruhigen. Dabei sucht unser autonomes Nervensystem immerzu nach Sicherheit. Wenn Beziehungen zu primären Bezugspersonen früh im Leben als bedrohlich erlebt werden, gerät das Bindungssystem in die Zwickmühle. Das Bindungsbedürfnis führt geradewegs in die Gefahr. Also ist es sicherer, das Bindungssystem zu deaktivieren. Wenn dadurch die Bindungssuche unterbunden wird, fühlt man sowohl weniger von der Bedrohung, die von der Bindung ausgeht, als auch von der Bedrohung, die vom Alleinsein ausgeht. Nicht fühlen ist also sicherer.

ERSTARREN UND TOTSTELLEN ALS ÜBERLEBENSSTRATEGIE EINES DEAKTIVIERTEN BINDUNGSSYSTEMS

Nicht oder wenig zu fühlen, führt in einen großen Mangel

Zustände der Angst und Not zu unterdrücken, indem man nicht oder wenig fühlt, entspricht einer Art Erstarrungs- oder Totstellreflex . Man schneidet sich vom Leben ab. Es ist uns menschlichen Wesen mit einer reichhaltigen Gefühlswelt nicht möglich, uns von einzelnen Gefühlen abzuschneiden. Viel eher ist es so, wie in Michael Endes Die unendliche Geschichte , wo das Nichts unaufhaltsam voranrollt und alles Gefühlvolle verschlingt. Wenn wir uns von unseren Gefühlen abschneiden, schneiden wir uns von unserer Innenwelt und damit von unserer einzigartigen Persönlichkeit mit ihren vielen Facetten ab. Wer nicht in der Lage ist, seine Gefühle zu fühlen, kann sich nicht vollständig authentisch, kreativ und lebendig ausdrücken. Die Potenziale seiner einzigartigen Persönlichkeit bleiben verborgen oder können nicht voll erblühen. Häufig bleibt dann die Flucht in eine geistige Welt. Viele Menschen mit einem deaktivierten Bindungssystem führen ein vergeistigtes Dasein oder leben ihre Gefühle in einer oft entrückten, spirituellen Welt jenseits ihrer Mitmenschen aus.

Die »affektive Schwingungsfähigkeit« leidet

Ist unser soziales Nervensystem aktiv, sind wir in der Lage, uns in andere einzufühlen, in einem lebendigen Austausch zu sein und emotional miteinander zu schwingen. Der Begriff der »affektiven Schwingungsfähigkeit« beschreibt das Vermögen, im Kontakt mit anderen und dem Leben emotional flexibel und angemessen zu empfinden.

Ist unser soziales Nervensystem durch ein deaktiviertes Bindungssystem gedrosselt, leidet auch unsere Fähigkeit, emotional flexibel mit einem anderen Menschen und dem Leben im Austausch zu stehen. Häufig erscheinen Betroffene dann gefühlsmäßig starr, sie sind weder durch gute Stimmung anzustecken noch sind sie etwa in der Lage, sich auf einen Menschen in einer traurigen Verfassung einzustimmen und Trost zu spenden.

Viele Personen mit dieser Überlebensstrategie können ihre Mitmenschen nicht einschätzen oder ziehen falsche Schlüsse. Umgekehrt ist es schwierig, sie zu verstehen oder sich in sie einzufühlen. Das ist ein weiterer Aspekt, der auf das Konto der Einsamkeit einzahlt.

Emotionale Kälte als Folge des deaktivierten Bindungssystems

Je weniger Verbundenheit ein Mensch empfindet, desto leichter fällt es ihm, kalt und abweisend zu sein. Und auch andersherum gilt: Wer Verbundenheit unterbinden möchte, dem gelingt dies durch emotionale Kälte und Härte.

Eine sehr wirkungsvolle Strategie, um das Bindungssystem zu deaktivieren, liegt in der Verachtung. Diese Form der Verurteilung hat eine trennende oder gar spaltende Kraft. Verachtung ist wie ein scharfes Schwert, mit dem wir uns von jeglichen Gefühlen für jemanden oder auch uns selbst abschneiden können. Das mag auch dazu dienen, die eigene Einsamkeit weniger oder gar nicht als solche wahrzunehmen.

Auf diese Weise werten wir auch eigene Gefühle oder Bedürfnisse ab oder verurteilen sie. An dieser Stelle erinnere ich mich gut an einen Klienten. Nach vielen Jahren ohne Beziehung hatte er sich, nun Ende sechzig, wie er es formulierte, »vermutlich verliebt«. Er wollte gerne diese Chance nutzen und fühlte sich gleichzeitig vollkommen überfordert. In unserer gemeinsamen Arbeit stießen wir auf einen kindlichen inneren Anteil, der sehr einsam und bedürftig war. Mein Klient reagierte mit Abscheu auf dieses zarte Wesen, das er vor seinem inneren Auge sah. Er wollte es gerne entsorgen, loswerden oder wegsperren. Die Heftigkeit seiner Reaktion beeindruckte mich damals sehr. Mit viel Geduld und einer kleinschrittigen, achtsamen Annäherung gelang es uns, das Herz dieses Mannes für seine uralte Bedürftigkeit zu öffnen. Die Wirkungen in seinem Leben waren erstaunlich und es war eine große Freude, sie zu bezeugen.

Ein deaktiviertes Bindungssystem wirkt transgenerational

Der Preis, der für das Nichtfühlen gezahlt wird, ist auch für jene hoch, die sich an die betroffene Person gebunden fühlen. So erleben etwa Kinder von Menschen mit einem deaktivierten Bindungssystem , dass ihre Bedürfnisse und Bindungsversuche im Nichts verhallen. Dies prägt wiederum den Bindungsstil dieser Kinder – was nicht geheilt ist, wird oft weitergegeben.

Auch die Beziehung zum Körper leidet

Die Folgen eines deaktivierten Bindungssystem s reichen bis zur Beziehung zum eigenen Körper. Emotionale Zustände spiegeln sich in unserer körperlichen Verfassung und umgekehrt. Wenn also etwa eine dauerhafte Über- oder Untererregung des Nervensystems mit ihren körperlichen Folgen unterdrückt werden muss, bedeutet das in der Konsequenz, den Körper und seine Empfindungen auszublenden. Dies zeigt sich nicht immer so deutlich wie am Beispiel meiner Klientin, die ihren Hexenschuss zu ignorieren versuchte. Mir sind in der Praxis schon Menschen begegnet, die sich bei ihren sportlichen Betätigungen Verletzungen zuzogen, weil sie die Grenzen ihres Körpers nicht wahrnahmen oder stur übergingen. So erzählte mir ein Klient, dass er als junger Mann intensiv Kraftsport betrieben hatte, um seine Gefühle von Minderwertigkeit und Unsichtbarkeit zu kompensieren. Regelmäßig landete er beim Sportarzt, da er sich durch viel zu schwere Gewichte Sehnenverletzungen und einmal sogar einen Knochenbruch zugezogen hatte. Für diesen Klienten war es ein weiter Weg, sich seiner Körperlichkeit wieder anzunähern, und zugleich war sie ein Schlüssel zu seinen lange abgekapselten Gefühlen und zu seiner wunderbaren, warmherzigen Natur.

Es scheint ein häufiges Merkmal von Menschen mit einem deaktivierten Bindungssystem zu sein, dass sie ihren Körper als funktional wahrnehmen und instrumentalisieren. Er muss funktionieren. Deswegen bekämpfen sie alle Gefühle, die mit körperlicher Schwäche aufkommen könnten. Taucht ein körperliches Symptom auf, muss es schnellstmöglich mit Schmerztabletten oder anderen Mitteln betäubt werden. Nicht selten zeigen sie sogar eine verächtliche Haltung dem eigenen Körper gegenüber.

Immer weiter zu funktionieren hilft, Gefühle zu unterdrücken

Im Englischen gibt es den lautmalerischen Begriff »functional freeze«, was auf Deutsch so viel heißt wie »funktionales Erstarren«. Hierbei handelt es sich um eine chronische Erstarrungsreaktion, bei der Gefühle von Angst, Not oder Bedürftigkeit eingefroren werden. Menschen, die in dieser Überlebensstrategie stranden, haben in ihrer Kindheit erlebt, mit ihrem Schmerz und ihrer Not nicht gesehen und aufgefangen zu werden. Stattdessen haben sie beispielsweise erfahren, dass ihre Bezugsperson selbst in große Dysregulation geriet, statt Trost und Sicherheit zu spenden. Wenn etwa ein Kind sich verletzt und die Bindungsperson selbst in Panik verfällt, lernt das Kind, dass der Ausdruck eigener Gefühle zu noch mehr Verunsicherung führt. Es lernt gleichermaßen, dass es schneller oder eher eine Form der Beruhigung erfährt, wenn es seine intensiven Gefühle unterdrückt. Viele Kinder erleben auch, dass sie durch ihre Bindungsperson beschämt, statt geschützt und gehalten werden. Jedes Kind, das sich dafür beschimpfen lassen muss, dass es gestürzt ist, etwas nicht geschafft hat oder Gefühle zeigt, lernt schmerzlich, sich in seinem Ausdruck zurückzuhalten und zu »funktionieren«. Die Gefühlswelt des Kindes erstarrt oder wird zu seinem Schutz dissoziiert, also aus der Wahrnehmung ausgeblendet.

Die nachhaltige Lernerfahrung ist: »Zeige ich meine Gefühle, wird mir keine Sicherheit gegeben. Unterdrücke ich meine Gefühle, bin ich sicherer.« Das Einfrieren, Unterdrücken und Dissoziieren von Gefühlen wird zum Ersatz für Sicherheit.

Ein deaktiviertes Bindungssystem hat Angst vor Veränderung

Jegliche Überlebensstrategien, die mit Verdrängung, Dissoziation und dem Unterdrücken von Gefühlen zu tun haben, sind beinahe phobisch gegenüber Veränderungen. Menschen, die zu diesen Strategien gezwungen wurden, haben gelernt, dass sie sich nur auf sich selbst verlassen können. Veränderungen im Außen erzeugen Stress, da sie häufig nicht der eigenen Kontrolle unterliegen. Die Angst vor Kontrollverlust zeigt, dass ein Nervensystem, das durch ein deaktiviertes Bindungssystem Sicherheit sucht, im Grunde weit entfernt von wirklicher Freiheit ist und nicht in der Lage, flexibel zu sein. Es zeichnet sich dadurch aus, dass es, mehr oder weniger offensichtlich, rigide ist. Dieser Fakt verhindert leider oftmals heilsame Schritte, da die nötige Veränderung automatisch die beschriebenen Ängste berührt.

Deaktivierende Strategien können in Unlebendigkeit münden

Wenn unser soziales Nervensystem gedrosselt ist, wir unsere Gefühle unterdrücken oder dissoziieren, oder auch Bindungen meiden, mündet all das häufig in einer chronischen Untererregung. Wenn wir nicht gleichzeitig in einer funktionalen Erstarrung unser Leben gestalten und stoisch funktionieren, kann sich diese Mischung verschiedener Dysbalancen in depressiven Zuständen zeigen. Wir fühlen uns vom Leben getrennt. Antrieb und Motivation sind rar. Der Mangel an Bindung führt zu einem Mangel an Lebendigkeit und positiven Gefühlen.

Um aus den Überlebensstrategien Erstarrung und Totstellen herauszufinden, führt der Weg also, wie so oft darüber, dass wir behutsam sichere Bindungen herstellen. Denn niemand kann allein einen Mangel an Verbundenheit heilen.

FLIEHEN ALS ÜBERLEBENSSTRATEGIE EINES DEAKTIVIERTEN BINDUNGSSYSTEMS

Hinter einem deaktivierten Bindungssystem verbirgt sich, wie beschrieben, meist eine uralte, kindliche Not. Die nicht erfüllte Bindungssuche, bedrohliche Bezugspersonen oder andere traumatische Erfahrungen auf der Bindungsebene hinterlassen ihre Spuren. Neben Erstarren und Totstellen, also Phänomenen eines untererregten Nervensystems, passt zu dieser Überlebensstrategie auch die Fluchtreaktion. Sie zeigt sich in diesem Zusammenhang etwa in der Vermeidung von Nähe, tiefen sozialen Bindungen oder auch Auseinandersetzungen. Sie entspricht dem Versuch, der eigenen, bindungsorientierten Natur zu entkommen.

Je näher, desto gefährlicher

Mit der entsprechenden frühen Erfahrung ist das Erleben von relativer Sicherheit an die Distanz von Menschen gekoppelt. Je näher Menschen kommen, desto weniger sicher fühlt sich die Angelegenheit an. Damit ist nicht primär eine körperliche Nähe gemeint. Diese ist oftmals sogar ausgenommen. Vielmehr meine ich die emotionale Nähe, die entsteht, wenn Menschen sich kennenlernen und Gefühle der Zuneigung füreinander entwickeln. Menschen, die Beziehungen als gefährlich erfahren haben, vermeiden es, sich tiefer zu binden. Die Art und Weise, wie sie versuchen zu fliehen, ist oft irritierend für das Gegenüber. Häufig werden sie als bindungsängstlich beschrieben. Dann senden sie widersprüchliche Signale an diejenigen, die ihnen gefährlich nahe kommen. Sie sind da – und verschwinden. Sie signalisieren Verbundenheit – und sind unverbindlich. Sie sind nicht greifbar. Die Schutzstrategie der Flucht findet sich sogar in langjährigen Beziehungen, bei denen die Partner der Bindungsängstlichen nach und nach in einen großen emotionalen Mangel geraten. Ein Klient erzählte mir einmal, es fühle sich an, als würde er am langen Arm verhungern.

Wenn alle Menschen gefährlich sind

Menschen mit einem überaktivierten Bindungssystem binden sich wie gesagt auch an Partner, die für sie gefährlich sein können. Der Bindungserhalt geht für sie über alles. Anders sieht es bei Personen aus, deren Bindungssystem chronisch deaktiviert ist. Für sie sind alle Menschen gefährlich, sofern sie eine gewisse Nähe einnehmen und einen gewissen Einfluss ausüben. Dann sind Rückzug und Isolation die Lösung, um der Bedrohung zu entgehen. Der Fluchtimpuls ist so stark, dass die Hürde nicht überwunden wird, hinter der möglicherweise endlich die sichere Bindung mit ihrem heilsamen Balsam wartet.

Gehen, wenn es schwierig wird

So geschieht es immer wieder, dass bindungsvermeidende Menschen gehen, wenn es »schwierig« wird, also vielleicht kurz bevor es gut werden könnte. Anders als die überaktivierten Bindungssysteme sind deaktivierte nicht darauf erpicht, Konflikte durch Anbiederung, Besänftigung und Unterwerfung zu vermeiden oder zu »lösen«. Ganz entgegengesetzt ist es ihre Strategie zu gehen, wenn Konflikte sich anbahnen oder spätestens dann, wenn sie offenbar werden. Viele Partner und Partnerinnen, die einem solchen Menschen ihr Herz geschenkt haben, finden sich – manchmal jahrelang – in einem »On-off-Beziehungstanz« wieder. Wird es enger oder weisen die Zeichen in Richtung »gemeinsame Zukunft«, wird die Bindung unterbrochen, damit man sich bald darauf aus größerer Distanz wieder annähern kann.

So kann es geschehen, dass Menschen große Strecken ihres Lebensweges mit einem Muster leben, das ihnen nicht nur glückliche Beziehungen, korrigierende Erfahrungen und heilsame Verbundenheit verwehrt, sondern ihnen auch die Möglichkeit zur persönlichen Weiterentwicklung raubt.

ESSENZ : NIEMAND KANN EIN DYSBALANCIERTES BINDUNGSSYSTEM ALLEIN HEILEN

Kompensationsstrategien und Überlebensmechanismen dienen immer dazu, im Angesicht von etwas Unaushaltbarem, dem man nicht entfliehen oder das man nicht verändern kann, zu überleben. Sie eignen sich qua ihrer Natur nicht, um Probleme zu lösen, wirkliche Sicherheit oder etwas Heilsames zu kreieren.

Solange wir versuchen, unsere Probleme und unseren Schmerz mit den alten Strategien zu bewältigen, werden wir früher oder später scheitern. Es ist, als würden wir versuchen, mit einem defekten Kompass einen neuen Weg zu finden, während wir immerzu im Kreis laufen.

Um das Bindungssystem wieder oder erstmals in Richtung Balance zu bewegen, brauchen wir Erfahrungen, die den frühen Prägungen überzeugend etwas entgegensetzen. Wir brauchen kleine und große Erlebnisse mit Menschen, die uns guttun und helfen, etwas Neues zu lernen – echte zwischenmenschliche Verbundenheit und das damit einhergehende Empfinden von Sicherheit.

Dafür brauchen wir den Mut, uns einzulassen. Es lohnt sich so sehr, auch wenn es bedeutet, ein Stück weit zu einem neuen Menschen zu werden.