WER IST MIT WEM ZUSAMMEN? DAS ANTEILEMODELL IN BEZIEHUNGEN
In lebendigen Beziehungen gibt es nicht nur »Du« und »Ich«, sondern »Du mit deinen Anteilen« und »Ich mit meinen Anteilen«.
Nun möchte ich dich zu einer Perspektive einladen, die einen großen Unterschied darin machen kann, wie wir unser Verhalten, unsere Muster und unsere manchmal widerstreitenden Bedürfnisse verstehen und bewerten. Vielleicht ist dir das Konzept der verschiedenen Persönlichkeitsanteile schon vertraut. In diesem Kapitel möchte ich dir zeigen, wie sehr dieses Modell uns helfen kann, Beziehungsdynamiken mit anderen Augen zu betrachten und ihnen neu zu begegnen.
BASISWISSEN : DAS EGO - STATE - MODELL
Die Ego-State-Therapie, die in den 1970er-Jahren von John und Helen Watkins begründet und unter anderem von Woltemade Hartman weiterentwickelt wurde, ist ein traumazentrierter psychotherapeutischer Ansatz, der auf der Grundannahme basiert, dass die Persönlichkeit aus verschiedenen Teilen oder »Ego-States« besteht. Ego-States repräsentieren unterschiedliche Aspekte des Selbst, die aus Erfahrungen entstehen und in verschiedenen Situationen aktiviert werden können. Insbesondere Anteile, die aus traumatischen Erlebnissen entstehen, können in ihrer Funktion zunächst hilfreich, später im Leben jedoch auch hinderlich sein. So ist etwa ein kindlicher innerer Anteil, der traumatisiert wurde, mit Verhaltensmustern ausgestattet, die in der damaligen Situation rettend und hilfreich waren, heute jedoch einem angemessenen, erwachsenen Verhalten in Stresssituationen im Wege stehen.
Innere Anteile zu haben, stellt keinesfalls etwas Krankhaftes dar, sondern ist schlicht Ausdruck unserer vielschichtigen menschlichen Natur.
Sie sind dabei mehr als eine Idee oder ein Konzept. Anteile sind neurophysiologische Repräsentanzen gemachter Erfahrungen. Einfacher gesagt: Ein innerer Anteil ist ein komplexes neuronales Netzwerk in unserem Gehirn. Es enthält Erinnerungen und daran gekoppelt hat es ein eigenes Alter, ein Selbstbild, ein Menschenbild, eine Weltsicht, Überzeugungen, Bedürfnisse, Symptome und Körperempfindungen.
Kategorien von Anteilen
Nach Woltemade Hartman unterscheidet man:
• grundsätzlich ressourcenreiche Anteile
• verletzte Anteile
• verletzende oder auch destruktiv wirkende Anteile
Diese Kategorisierung erlaubt eine große Vielfalt an unterschiedlichsten individuellen Beschreibungen und Charakteristika von Anteilen. Denn auch hier ist es wieder nützlich, keine Schubladen zu bilden, sondern lediglich ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, wie die entsprechenden Anteile grundlegend geprägt wurden.
Die gezielte Arbeit mit inneren Anteilen wirkt in der Traumatherapie sehr entlastend, da sie dabei hilft, sich nicht ausschließlich mit den eigenen Symptomen zu identifizieren. Der Effekt ist unmittelbar. Es macht einen großen Unterschied, ob man sagt: »Ich bin ängstlich«, oder: »Ein Teil von mir ist ängstlich«. Das Anteilemodell hilft, sich selbst als einen Menschen zu betrachten, der sowohl traumatisiert wurde als auch Heiles in sich trägt, der eine eigene unversehrte Natur und ebenso versehrte Anteile hat. Diese Sichtweise als solche hat schon einen heilsamen Effekt.
DIE ROLLE DER INNEREN ANTEILE IN UNSEREN ZWISCHENMENSCHLICHEN INTERAKTIONEN
Besonders relevant für den Themenfokus dieses Buches ist die Wirkung innerer Anteile auf unsere Beziehungen. Diese ist umso kritischer, je weniger bewusst uns ist, wann wir als Erwachsene zugegen sind und wann ein innerer, vielleicht kindlicher Anteil aktiv ist.
Innere Anteile oder, anders gesagt, entsprechende neuronale Netzwerke, können mit allem, was zu ihnen gehört, in bestimmten Situationen aktiviert werden. Dann nehmen sie unser Bewusstsein fast komplett ein oder dominieren zumindest unser Empfinden und Verhalten. Das gilt besonders für jene Anteile, die unter traumatischen Bedingungen entstanden sind und die aktiviert werden, wenn unsere Neurozeption Gefahrensignale wittert. Sie übernehmen dann automatisch die Regie und starten die alten Überlebensstrategien, die tief in uns geprägt wurden.
Wenn etwa in einer stressigen Situation mit einer Autoritätsperson wie einer Vorgesetzten ein kindlicher Anteil aktiviert wird, kommen früh gelernte, kindliche Verhaltensmuster, wie sich gefällig zu zeigen oder auch reaktant zu sein, zum Vorschein. Dass ein innerer Anteil am Werk war, merken wir oft im Nachhinein, wenn wir schamerfüllt denken: »Ich war nicht ich selbst!«, »Ich habe mich gefühlt wie ein kleines Kind und habe kein Wort mehr herausgebracht …«. Manchmal fühlt es sich an, als hätten wir die Kontrolle über unser Verhalten verloren.
Wenn Anteile Bindungen eingehen
Mit der Anteileperspektive im Hinterkopf ist es sehr interessant, etwa die Dynamik einer toxischen Beziehung zu betrachten. So gibt es innere Anteile, die sich klar darüber sind, dass man sich trennen muss und möchte. Sie haben häufig keine Gefühle mehr für den Partner oder die Partnerin und können sehr rational und klar darlegen, was in der Beziehung geschieht, und dass sie es furchtbar und schrecklich finden. Gleichzeitig sind kindliche, bedürftige Anteile vollkommen auf die Bindungsperson und den Bindungserhalt ausgerichtet, unabhängig davon, wie destruktiv all das ist. Manche inneren Anteile, die unter traumatischen Bedingungen entstanden sind, sind so sehr in unser Inneres eingekapselt, dass sie keine Verbindung zu erwachsenen Anteilen oder überhaupt zur gegenwärtigen Lebensrealität haben. In der therapeutischen Arbeit stellt sich oft heraus, dass sie keinerlei Bewusstsein über das Hier und Jetzt haben und die Realität von damals im Heute verkörpern. Wenn ein solcher Anteil sich an einen erwachsenen Beziehungspartner bindet, so bindet sich eigentlich ein bedürftiges Kind an einen Elternersatz. Solche Konstellationen können verheerend wirken.
Traumatisierte Anteile sind reaktiv und ihre Sichtweise ist eingeschränkt
Innere Anteile sind besonders dann sehr dominant, wenn sie sich zwangsläufig entwickeln mussten, damit wir eine Situation überleben. Wenn also beispielsweise ein Kind parentifiziert wurde und sich stark und erwachsen verhalten musste, hat sich ein funktionaler kindlicher Anteil entwickelt, der nicht der ungestörten Entwicklung der Persönlichkeit entspringt. Wenn er aktiv ist, hat die betroffene Person fast ausschließlich Zugang zu den Verhaltensmustern und Sichtweisen dieses einstmals rettenden Anteils. Auch deswegen erleben sich Betroffene von Traumafolgen so oft in ihrer Vergangenheit gefangen, denn wenn innere Anteile aktiv sind, fühlt sich das Hier und Heute einfach genauso an, wie das Dort und Damals. Auf einer inneren Ebene hat das Trauma so gesehen nie geendet.
Innere Anteile brauchen Begleitung und Sicherheit
Bei diesem Status muss es jedoch keinesfalls bleiben. Auch die neuronalen Netzwerke, die innere Anteile genannt werden, sind von der Fähigkeit zu Neuroplastizität nicht ausgenommen. Je klarer ein Mensch sich über seine inneren Anteile ist und je mehr er sich ihnen zuwenden kann, desto mehr Raum bekommt das Hier und Jetzt mit seinen Möglichkeiten und Ressourcen und desto mehr Kraft können die korrigierenden Erfahrungen entfalten.
Damit sich innere Anteile weiterentwickeln können, die noch in alten Traumamustern mit einem dysregulierten Nervensystem, einem dysbalancierten Bindungssystem und dysfunktionalen Arbeitsmodellen gefangen sind, brauchen sie vor allem eines: Sicherheit.
Um diese herzustellen, gilt es, so gut es geht, die Bedingungen zu schaffen, die einstmals gefehlt haben, etwa weil sie verwehrt wurden. Dafür müssen wir üben, unseren inneren Anteilen eine sichere Bindungsperson zu sein, sie wohlwollend und respektvoll zu behandeln und damit eine Beziehung zu kreieren, die heilsam ist. Praktisch gesehen bedeutet das, dass wir bewusst die Verantwortung für die Empfindungen, Gefühle und Bedürfnisse unserer Anteile übernehmen und uns ihnen zuzuwenden, statt sie zu übergehen, auszublenden oder uns für sie zu schämen oder sie zu verachten. All das geschieht in einem Prozess und ist vielleicht auch eine lebenslange Übung, die sich jedoch so sehr lohnt, weil die gute Beziehung zu uns selbst und unseren Anteilen sich auf alle Beziehungen in unserem Leben positiv auswirkt.
Ich lade dich ein, die Anteileperspektive nun im Hinterkopf zu behalten, wenn ich im Weiteren Bindungsdynamiken zwischen Erwachsenen beschreibe, die mit Traumafolgen konfrontiert sind. Zuvor möchte ich dir jedoch noch ein weiteres Modell vorstellen: den Beziehungsraum.