GESUNDE GRENZEN – GESUNDE BEZIEHUNG
Hinter dem Unvermögen, gesunde Grenzen zu setzen, liegt oft ein früh verletztes Bindungsbedürfnis.
Es zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch, dass Beziehung und Verbundenheit die größten Heilkräfte sind. Wieso dann ein Kapitel über Grenzen? Zum einen, und das mag paradox klingen, weil Verbundenheit ohne gesunde Grenzen nicht möglich ist, und zum anderen, weil Trauma immer etwas mit Grenzverletzungen zu tun hat.
Die Schwierigkeit, eine gute Balance zwischen Verbundenheit und Abgrenzung zu finden, ist regelmäßig Gegenstand der Gespräche mit meinen Klientinnen und Klienten. Das Spektrum dieser Herausforderung reicht von der Frage, was Abgrenzung überhaupt ist, bis hin zu großen Ängsten, was passiert, wenn man sie praktiziert. Die vielfältigen Ursachen für diese Problematik liegen mit all dem, was in den vorangegangenen Kapiteln erklärt wurde, fast auf der Hand.
Ganz einfach auf den Punkt gebracht, könnte man sagen: Wo ein Bindungssystem aus der Balance ist, wird Abgrenzung zum Problem. Entweder sie findet nicht statt oder sie ist so intensiv, dass sie trennend wirkt. Weil dieses Thema so viele Menschen beschäftigt und Betroffene sich häufig schämen und hilflos fühlen, soll hier Raum sein, um Hintergründe zu verstehen und handlungsfähig zu werden.
Abgrenzung als Teil der sicheren Bindung
Sich abgrenzen zu können bedeutet, einen gesunden Wechsel zwischen Verbundenheit und Autonomie oder Nähe und Distanz gestalten zu können. Grundlegend dafür ist die Fähigkeit, mit einem anderen in Kontakt zu sein und dabei den Kontakt zu sich selbst nicht zu verlieren. Das ist für Menschen mit frühen Traumata besonders schwierig, da unser Bindungssystem und unsere Fähigkeit zur Abgrenzung eng miteinander verbunden sind. Ein sicher gebundener Mensch mit einem balancierten Bindungssystem kann sich verbinden und abgrenzen, ohne dass einer dieser Pole ihn ängstigt oder die Beziehung belastet.
Das überaktivierte Bindungssystem hingegen bewirkt, dass man sehr auf den anderen fixiert ist und sich selbst darüber kaum spürt. Oder es sorgt dafür, dass man zu sehr um sich selbst kreist und in den Gedankenschleifen versinkt, alles richtig machen zu müssen. Beides geht zulasten der Verbundenheit. Es gibt dann keine Balance zwischen der Aufmerksamkeit für den anderen und für sich selbst. Zudem, und das wird oft übersehen, neigen Menschen im Stress eines überaktivierten Bindungssystems oft dazu, unbemerkt die Grenzen anderer zu überschreiten, weil sie so sehr von ihren Ängsten getrieben werden. Sich abzugrenzen wird oft mit einem Bindungsabbruch, der unbedingt vermieden werden muss, verwechselt.
Betroffene, die mit einem deaktivierten Bindungssystem durchs Leben gehen, praktizieren oft eine rigide Art der Abgrenzung und leben hinter Mauern, die Nähe und Verbundenheit verhindern.
Wenn der Kontakt zum eigenen Inneren mit Stress assoziiert ist, spiegelt sich das auch in unserer Verbundenheit nach außen und damit einhergehend in unserer Abgrenzungsfähigkeit wider.
Wir brauchen unser soziales Nervensystem nicht nur, um uns zu verbinden, sondern auch um gesunde Abgrenzung zu gestalten. Wie du bereits weißt, wird das soziale Nervensystem unter Stress heruntergefahren. Oft kommt es genau deswegen zu den schwierigen Verstrickungen, die durch Abgrenzungsthemen entstehen.
In dem Maße, in dem es an Bindungssicherheit mangelt, fehlt es an der Möglichkeit, Abgrenzung zu lernen.
Unsere frühen Bindungserfahrungen schaffen sowohl eine innere Blaupause für Verbundenheit als auch eine für den Umgang mit Grenzen. Ein nicht sicher gebundenes Kind kann es sich nicht erlauben, sich abzugrenzen. In unsicheren Bindungserfahrungen liegt die große Last, sich anpassen zu müssen, um eine Art Bindungssicherheit zu erzeugen. Eigene Abgrenzungsimpulse werden so zur Bedrohung für die ohnehin unsichere Bindung.
Sich gegen unangenehme Reize abzugrenzen, ist jedoch ein natürliches Bedürfnis und Teil unseres Autonomiebestrebens. Der Mangel an Bindungssicherheit verhindert hingegen, dass ein Kind Autonomie entwickeln kann. Wenn der natürliche Impuls zur Abgrenzung – von außen und dann von innen – unterdrückt wird, ist es dem Kind kaum möglich, die eigene Grenze und eigene Abgrenzungswünsche zuzulassen oder gar umzusetzen. Die Arbeitsmodell e von so geprägten Kindern enthalten dadurch oft keinerlei Bestrebungen zur Abgrenzung . Anders ausgedrückt: Kinder lernen unter diesen Umständen, das Empfinden für ihre eigenen Grenzen weitestgehend zu unterdrücken oder es erst gar nicht zu entwickeln. Was für eine folgenreiche Konsequenz frühkindlicher Anpassung!
Die wunderbare Kraft der Selbstwirksamkeit kann sich nicht entfalten
Wenn sich unser Autonomiebestreben nicht frei entwickeln konnte, verharren wir subtil oder offensichtlich in der Bedürftigkeit und Abhängigkeit von anderen. Häufig leiden Betroffene schwer unter dem Gefühl, sich selbst nicht helfen zu können, keine Veränderungen zu erreichen und letztlich hilflos und ohnmächtig zu sein. Sie kennen das Gefühl der Selbstwirksamkeit nicht. Dieses wunderbare Wort beschreibt buchstäblich das Erleben, durch die eigenen Handlungen eine gewünschte Wirkung erzielen zu können. Selbstwirksamkeit ist das Gegenteil von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Sie ist ein Ausdruck gelebter Autonomie und deswegen ist gelingende Abgrenzung ein integraler Bestandteil derselben.
Die Verwechslung von Verschmelzung und Verbundenheit
Viele Menschen mit frühen Bindungstraumatisierungen und einem daraus folgend überaktivierten Bindungssystem bilden extrem feine Antennen aus, mit denen sie Stimmungen und Signale ihrer Mitmenschen empfangen, um daraufhin das passende Verhaltensmuster zu aktivieren. Diese Antennen sind vor allem auf Signale der Gefahr ausgerichtet. Um zu verstehen, wie sich das auf unsere Abgrenzungsfähigkeit auswirken kann, lohnt sich ein kurzer Blick in die Entwicklungspsychologie:
Die Fähigkeit, sich in ein Gegenüber einzufühlen und dabei klar zwischen eigenen und fremden Gefühlen zu unterscheiden, entwickelt sich über viele Jahre in einem kleinschrittigen Prozess bis ins Grundschulalter hinein. In den ersten Jahren reagieren Kinder auf die Stimmungen und Signale ihrer Bezugspersonen vor allem durch die sogenannte »Gefühlsansteckung«. Sie gehen in Resonanz mit dem, was sie bei ihrem Gegenüber wahrnehmen. In diesem Zustand ist es schwer zu unterscheiden, ob das Gefühl nun wirklich ein eigenes ist oder ob man das Gefühl des anderen nach innen genommen hat. (Erinnere dich an den Vorgang der Introjektion, der in der Kindheit alltäglich ist.) Nach und nach bildet das Kind weitere Fähigkeiten aus, die es ihm ermöglichen, zwischen eigenen und fremden Gefühlen zu unterscheiden. Wenn diese Entwicklungsschritte gehemmt werden, weil eine Bindungsperson nicht genügend präsent und zugewandt ist, bleibt die Reifung des Kindes oft bei der Fähigkeit zur Gefühlsansteckung stehen. Die gefühlte Verschmelzung mit der Bindungsperson ist dann ein Ersatz für echte Bindungssicherheit, da sie den Kindern ermöglicht, sich auf eine Art doch nahe zu fühlen. Eine Folge davon ist, dass die Gefühlsansteckung auch später im Leben die primäre Art der Kontaktaufnahme ist, um Sicherheit zu generieren. Menschen passen sich dann unbewusst enorm an die Stimmung und auch an die Dynamik anderer an. Es fällt ihnen schwer zu differenzieren, ob es sich um ihre eigenen Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse handelt oder um die der anderen. All das führt zu einer Schräglage in Beziehungen, die sich vor allem dadurch nach und nach wandeln kann, dass wir echte Bindungssicherheit kennenlernen.
Einladung zur Reflexion
Was befürchtest du, wenn du dich abgrenzt? (etwa: Bestrafung, Bindungsabbruch, Verlustangst, Bewertung, Ablehnung …)
Was ist dein Reaktionsmuster? Grenzt du dich besonders hart ab oder fast gar nicht?
Wenn du davon ausgehst, dass dieses Verhalten auf frühe Prägungen zurückgeht: Was braucht der innere Anteil, der die o.g. Befürchtungen trägt von dir? Was beruhigt ihn?